Das wird jetzt durchgezogen

Rückfall Das Gedächtnis für eine richtige Krisenpolitik ist erstaunlich kurz. Sonst würde man bei Griechenland nicht Fehler von 1929 wiederholen
Ausgabe 25/2015
Dank den Strukturreformen ist Griechenland das EU-Land mit der größten Ungleichheit
Dank den Strukturreformen ist Griechenland das EU-Land mit der größten Ungleichheit

Foto: Angelos Tzortzinis/AFP/Getty Images

Als ich Ende der sechziger Jahre Wirtschaft studierte, gab es ein paar Gewissheiten. Etwa die, dass sich so etwas wie die Weltwirtschaftskrise von 1929 nie wiederholen würde. Schließlich konnte man aus der Geschichte lernen: Franklin D. Roosevelt hatte gezeigt, wie man Krisen überwindet, der deutsche Sparkanzler Heinrich Brüning hingegen vorgeführt, wie man ein Land kaputt spart.

Auch aus dem unrühmlichen Ende des Goldstandards hatte man gelernt: Es brauchte eine internationale Währungsordnung, um einen Abwertungswettlauf zu verhindern, aber man musste auch rechtzeitige Abwertungen zulassen. Weil man all das zu steuern glaubte, gab es eine dritte Gewissheit: Von Konjunkturschwankungen abgesehen, würde es wirtschaftlich stets aufwärts gehen. Der technologische Fortschritt war die einzige Grenze.

Jetzt hat uns die Vergangenheit wieder eingeholt: Außer in Deutschland, Belgien sowie in Frankreich und Österreich hat die wirtschaftliche Leistungskraft in keinem der Mitgliedsländer des neuen Goldstandards (sprich: der Euro-Staaten) wieder den Stand vor Ausbruch der Finanzkrise 2008 erreicht. Griechenland hat gar einen Einbruch erlebt, der den der USA während der Weltwirtschaftskrise von einst weit übertrifft. Auch Spanien, Italien und Portugal stecken in einer Dauerkrise.

Was ist passiert? Welche Veränderungen haben die drei Gewissheiten platzen lassen? Antwort: Die Verteilungsfrage und die Globalisierung. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Verteilung der Einkommen gute drei Jahrzehnte lang stetig gleichmäßiger geworden. Die Löhne stiegen in etwa wie die Produktivität, was der Theorie des vollkommenen Marktes entsprach. Verteilungsfragen waren nur ein Randthema.

100 Milliarden ins Ausland geschafft

Das hat sich jetzt gerächt. Nehmen wir etwa die „innere Abwertung“, die in einer Währungsunion die Abwertung der (nicht mehr vorhandenen) eigenen Währung ersetzt. In einer Theorie, welche Verteilungsfragen ignoriert, gehen dabei mit den durch die „Strukturreformen“ gedrückten Löhnen und Sozialleistungen automatisch auch die Preise zurück. Liegt die Marktmacht jedoch bei den Unternehmern wie in Griechenland, sieht die Sache ganz anders aus. Dort sind die Löhne ab 2009 nominal um 15 Prozent gesunken, die Preise aber um acht Prozent gestiegen. Die Differenz floss in die Kasse der Arbeitgeber. Da diese mangels Nachfrage kaum noch investiert haben, konnten sie bis 2014 gut 100 Milliarden Euro ins Ausland schaffen.

Damit hatten die Strukturreformen zumindest drei Folgen, die gemäß Theorie nicht zu erwarten waren, und die heute kaum beachtet werden: Erstens brach die Binnennachfrage um ein Drittel ein – bei einer Drachme-Abwertung hätte nur die Nachfrage nach Importgütern gelitten, der Binnenmarkt sogar profitiert. Zweitens: Dank den Strukturreformen ist Griechenland heute das EU-Land mit der größten Ungleichheit, nirgendwo sind die Reichen mächtiger. Was natürlich sinnvolle Reformen wie die Besteuerung hoher Einkommen erschwert. Drittens haben die ausländischen Gläubiger, in deren Namen die Reformen durchgesetzt wurden, ab 2010 viel mehr Geld verloren, als wegen der sinkenden Handelsdefizite zu erwarten war.

Die zweite Veränderung betrifft die Globalisierung – besonders der Kapital- und Arbeitsmärkte. Heute ist es zwar noch immer nicht so leicht, eine Fabrik von A nach B zu verlagern, aber man kann zumindest damit drohen, was zu einer erschreckenden Verengung des wirtschaftspolitischen Denkens geführt hat. Dessen Kurzformel lautet: „Mehr Wettbewerbsfähigkeit“. Das Schlagwort kommt inzwischen in fast jeder Grundsatzrede von Angela Merkel vor.

Das neoliberale Ding wird durchgezogen

Nur muss die eigene Nachfrage einschränken, wer wettbewerbsfähig sein will. Griechenland ist dafür zwar das krasseste, aber keineswegs das einzige Beispiel. Sogar in dem für seine Reformerfolge gefeierten Irland lag der einheimische Verbrauch 2014 noch immer 14 Prozent unter der Marke von 2007. Bei einer vernünftigen Wirtschaftspolitik hätte der fast 20 Prozent darüber liegen müssen. Doch dümpelt im Euro-Raum die Binnennachfrage noch immer bei gut drei Prozent unter dem Niveau von 2008 vor sich hin. Das einzig positive Beispiel ist Deutschland, dessen Nachfrage seit 2009 um gut sieben Prozent gestiegen ist. Der entscheidende Grund dafür dürfte in den seit sechs Jahren wieder deutlich steigenden Löhnen liegen.

Doch bleiben die weiteren Aussichten trübe, denn die steigende Lohnquote in Deutschland ist mehr das zufällige Ergebnis einer sinkenden Inflationsrate als der Vorbote einer keynesianischen Wende zu nachfrageorientierter Politik. Das Beispiel Griechenland hat offenbar niemanden aufgeschreckt. Es gibt noch nicht einmal den Ansatz einer Debatte um Sinn und Unsinn eines Diktats der „Wettbewerbsfähigkeit“. Also wird in Frankreich und Italien der Arbeitsmarkt weiter liberalisiert. Auch sind keine Bemühungen um eine neue Weltwährungsordnung zu erkennen. Das neoliberale Ding wird durchgezogen. Aber irgendwann einmal muss man sich vielleicht doch wieder an die Lehren aus den Jahren nach 1929 erinnern.

Werner Vontobel ist Wirtschaftsredakteur und lebt in der Schweiz

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