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Grundkurs Viele Deutsche glauben, dass die Euro-Schuldenländer unser Geld wollen. Aber es ist genau umgekehrt. Eine Richtigstellung
Trotz Krise: Der Export rollt
Trotz Krise: Der Export rollt

Bild: Sean Gallup / Getty Images

Die Meinung in Deutschland steht fest: Die Euro-Südländer schaffen es nicht, ihren Staatshaushalt auszugleichen. Sie machen Schulden und wollen diese auf Deutschland abwälzen. Auf eine Schlagzeile verkürzt, lautet die Botschaft: „Geisel des Südens“ (Spiegel) oder „Europa will an unser Geld“ (Welt am Sonntag). Aus dieser Diagnose folgt logisch die Therapie: Die Südländer müssen ihre Schulden selber in den Griff kriegen, erst danach kann Hilfe von außen kommen. „Eine Voraussetzung für Solidarität ist Solidität“, sagt Jörg Asmussen, deutsches Mitglied im Direktorium der Europäischen Zentralbank, bei jeder sich bietenden Gelegenheit.

Doch leider ist diese Analyse und Therapie falsch. Sie ist die üble Frucht eines aus allen Zusammenhängen gerissenen Denkens und der Ignoranz der einfachsten volkswirtschaftlichen Grundregeln. Aus diesem Kuddelmuddel entstehen in Deutschland dann Schlagzeilen wie diese: „Europa greift nach unserem Geld.“

Die Schulden der anderen

Mit Geld sind die Guthaben gemeint, die Deutschland erwirtschaftet hat, weil es mehr Waren ins Ausland verkauft, als es von dort Waren bezieht. Seit 2002 hat sich ein Guthaben von mehr als 1.200 Milliarden Euro angehäuft. Im ersten Quartal 2012 sind schon wieder 45 Milliarden Euro dazugekommen. Dabei wird eines leicht vergessen: Deutschlands Guthaben sind die Schulden der andern. In vielen Ländern hat dieses Defizit jetzt ein Niveau erreicht, das eine Refinanzierung über den Markt nicht mehr zulässt, zumindest nicht zu tragbaren Zinsen.

Bei dieser Ausgangslage müsste man eigentlich ernsthaft über einen (teilweisen) Schuldenerlass diskutieren. Mit Ausnahme Griechenlands ist davon aber nicht die Rede. Das äußerst dünn kapitalisierte Finanzsystem würde einen Schuldenerlass aber kaum überstehen. Andererseits wäre eine Rückzahlung der Schulden nur möglich, wenn das Schuldnerland viel mehr exportiert und viel weniger importiert. Dies setzt jedoch voraus, dass die Gläubiger ihrerseits Leistungsbilanzdefizite zulassen. Doch diese Diskussion hat Deutschland von Anfang an nachhaltig unterdrückt. Das Land will Exportweltmeister bleiben und weiterhin Guthaben anhäufen, die aber – bitte schön – werthaltig bleiben sollen.

Marktfähiges Vertrauen

Deshalb haben wir jetzt diese unselige Diskussion, bei der es darum geht, die Schuldscheine von Griechenland, Portugal, Spanien oder Italien „marktfähig“ zu machen. Die „Märkte“ sollen wieder „Vertrauen“ fassen. Als „vertrauensbildend“ gelten dabei in erster Linie Kürzungen der Staatsausgaben und die feierliche Verpflichtung, das Budgetdefizit des Staates fast auf null zu reduzieren. Diese Verpflichtung zur Schuldenbremse soll zudem in der Verfassung festgeschrieben und von der EU-Kommission überwacht werden.

Gebracht hat es bisher fast nichts. Nach Schätzung der Organisation für Wirtschaft und Zusammenarbeit OECD werden Portugal, Griechenland und Irland – die drei Länder unter EU-Aufsicht – im laufenden Jahr Haushaltsdefizite von durchschnittlich acht Prozent aufweisen. Spanien und Frankreich stehen nicht viel besser da. Deshalb steht seit einiger Zeit eine andere vertrauensbildende Maßnahme zur Diskussion: Die EZB soll zusammen mit dem Internationalen Währungsfonds für die Schulden der Euro-Südländer mit haften. Dies ist bereits in hohem Ausmaß geschehen. Der Ökonom Hans-Werner Sinn beziffert die entsprechenden Garantien auf 2085 Milliarden Euro. Davon entfallen 713 Milliarden auf Deutschland. Noch handelt es sich dabei nur um Garantien. Doch wenn die Schuldner pleitegehen, werden daraus echte Verluste – die letztlich vom deutschen Steuerzahler übernommen werden müssen.

Wer greift da zu?

So gesehen, wird also tatsächlich nach „unserem Geld“ gegriffen. Doch wer genau greift zu? Die Schuldnerländer oder die Inhaber der wertlos gewordenen Forderungen? Reden wir zunächst von diesen: Gemäß dem Wealth Report der Credit-Suisse sind die Vermögen der deutschen Privatpersonen seit 2001 um 6.100 Milliarden Euro gestiegen. Davon entfallen nicht einmal drei Prozent auf die ärmere Hälfte, aber mehr als ein Viertel auf das reichste Prozent der Haushalte. Teil dieser 6.100 Milliarden sind auch die – inzwischen faul gewordenen – Forderungen gegenüber dem Ausland.

Das „Modell Exportweltmeister“ hat die Geldelite aber nicht nur auf Kosten des Auslands bereichert. Auch der deutsche Normalbürger wurde zur Kasse gebeten. Zwischen 1999 und 2009 (neuere Daten liegen nicht vor) ist sein Einkommen um 13 Prozent gesunken. Vom Exportboom profitiert hat nur das reichste Zehntel. Diese Umverteilung von unten nach oben ist zweifellos eine Folge der Lohnpolitik. Deren Zweck war es – zunächst mit „Lohnzurückhaltung“, dann mit der Schaffung eines Niedriglohnsektors –, Kostenvorteile im Export zu erringen. Die sinkenden Lohnstückkosten und steigenden Exportüberschüsse zeigen, dass diese Politik erfolgreich war. Dass jetzt die Verluste aus den faulen Auslandsguthaben auf die Steuerzahler abgewälzt werden sollen, ist die Krönung dieser Umverteilung.

Deutschland ist nicht „Geisel des Südens“, wie der Spiegel meint, sondern Geisel der Reichen und ihrer Banken. Sie können einmal mehr glaubhaft mit einem Zusammenbruch des Finanzsystems drohen, falls die Europäische Zentralbank oder die Bundesbank ihre Forderungen nicht deckt. Zwar sind die bisher garantierten 713 Milliarden ein Klacks zu den mehr als 10.000 Milliarden deutschen Vermögens. Setzt man sie aber zu den 354 Milliarden Euro Eigenkapital aller deutschen Banken in Beziehung, erkennt man leicht ein hohes Drohpotenzial. Auch die Welt am Sonntag müsste ihre Schlagzeile anpassen: „Die Reichen greifen nach unserem Geld.“

Brutale Abwertung

Dieses innerdeutsche Verteilungsduell wird jedoch weder von den Medien noch von den Politikern wahrgenommen. Die konzentrieren sich auf den Versuch, den Schaden auf die „faulen Südländer“ abzuwälzen. Diese Schuldeneintreibung läuft auf zwei Ebenen. Zum einen sollen die Defizit-Länder durch Lohnsenkungen wieder „wettbewerbsfähig“ gemacht werden. Nach den Berechnungen von Goldman-Sachs müssten die Löhne in Portugal um 35 Prozent, in Griechenland um 30 Prozent, in Spanien und Frankreich um 20 Prozent und in Italien um 15 Prozent fallen. Erst dann sollten diese Länder in der Lage sein, wieder so viel zu exportieren, dass sie Leistungsbilanzüberschüsse erzielen und ihre Schulden abstottern können.

Zweitens geht es darum, dass diese Überschüsse beim Staat landen, damit dieser seine Schulden (gegenüber dem Ausland) abbauen kann. Zu diesem Zweck zwingt die EU-Kommission die Schuldnerländer, ihre Staatsausgaben und insbesondere die Sozialleistungen massiv einzuschränken und die Steuern auf Konsum, Einkommen und Grundbesitz zu erhöhen.

Gefährliches Rezept

Doch dieses Rezept ist extrem gefährlich. Erstens kann schon die Aussicht auf sinkende Löhne, Renten und Arbeitslosengelder zum Kollaps der Nachfrage führen. Zweitens weiß man, dass sinkende Löhne von den Unternehmen benutzt werden, um die Gewinne zu erhöhen, statt die Preise zu senken. Das Beispiel Griechenlands zeigt dies exemplarisch: Seit 2007 haben die Unternehmen dort die Investitionen um 40 Prozent und die Löhne um 26 Prozent gesenkt, gleichzeitig stieg aber das Geld in den Kassen der Unternehmen um 12 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Dasselbe geschah in Spanien.

Aus Sicht der EU ist das ein dreifacher Misserfolg. Erstens geht das Geld – das tatsächlich gespart wird – nicht an den Staat und kann nicht zur Schuldentilgung verwendet werden. Zweitens wird das Ungleichgewicht zwischen Arbeit und Kapital, das die Krise überhaupt erst ausgelöst hat, weiter vergrößert. Drittens sind die Unternehmen faktisch gezwungen, ihr „überflüssiges“ Geld ins Ausland zu bringen, was die Krise weiter anheizt. Aus Italien und Spanien sind zwischen Juli 2011 und März 2012 475 Milliarden Euro abgeflossen.

Pure Verzweiflung

Damit aber ist der GAU programmiert. Um einen weiteren Abfluss von Geldern zu verhindern, müssen die Banken die Zinsen erhöhen, womit die Schulden des Staates, der Haushalte und vieler Kleinunternehmen erst recht untragbar werden. Mario Monti und Mariano Rajoy haben deshalb jüngst auf dem EU-Gipfel in Brüssel nicht hoch gepokert. Sie haben vielmehr aus purer Verzweiflung gehandelt. Wenn die Zinsen in ihren Ländern nicht bald sinken, droht der Kollaps. Dagegen wäre ein Austritt aus dem Euro das kleinere Übel.

Mit ihrer Politik schwächt die EU-Kommission die Arbeitnehmer und setzt damit einen Umverteilungsprozess von unten nach oben in Gang, der letztlich die ganze Wirtschaft lähmt.

Werner Vontobel ist Journalist und Volkswirt. Er lebt in der Schweiz

Deutschland, europäischer Exportmeister

2011 wurden laut Angaben des Statistischen Bundesamtes aus Deutschland Waren im Wert von 1.060 Milliarden Euro exportiert und Waren im Wert von 902 Mrd. Euro importiert.

Die deutschen Ausfuhren waren damit im Jahr 2011 um 11,4 Prozent und die Einfuhren um 13,2 Prozent höher als 2010.Die deutsche Außenhandelsbilanz schloss 2011 mit einem Überschuss von 158,1 Mrd. Euro ab. 2010 hatte der Saldo in der Außenhandelsbilanz einen Überschuss von 154,9 Mrd. Euro.

Die Leistungsbilanz schloss nach vorläufigen Berechnungen der Deutschen Bundesbank 2011 mit einem Überschuss von 135,9 Mrd. Euro ab. 2010 hatte die deutsche Leistungsbilanz einen Aktivsaldo von 141,5 Mrd. Euro ausgewiesen.

Teilt man die deutschen Exporte nach Gütern auf, ergibt sich für 2011 folgende Top 5: Am meisten wurden Kraftwagen und Kraftwagenteile exportiert, und zwar im Wert von rund 184,75 Milliarden Euro. Danach folgen Maschinen (161,58 Mrd. Euro), chemische Erzeugnisse (101,13 Mrd. Euro), Datenverarbeitungsgeräte, elektronische und optische Erzeugnisse (85,15 Mrd. Euro), elektrische Ausrüstung (66,21 Mrd. Euro) und Metalle (60,62 Mrd. Euro).

Die fünf wichtigsten Handelspartner nach dem Wert der Exporte waren 2011 Frankreich (101,51 Mrd. Euro), die USA (73,69 Mrd. Euro), die Niederlande (69,32 Mrd. Euro), Großbritannien (65,50 Mrd. Euro) und China (64,76 Mrd. Euro).

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