Endlich! Im Irak hat das Volk schon Saddam Hussein und in Ägypten Hosni Mubarak vom Sockel gestürzt. Jetzt droht dasselbe Schicksal auch unserem Herrscher, ihro Hoheit dem Bruttoinlandsprodukt – kurz BIP. Seine Wachstumsrate soll in Zukunft nicht mehr das Mass aller Dinge sein. Das hat eine Expertenkommission des Bundestages empfohlen. Es sei nicht mehr zeitgemäß, lediglich alle im Inland produzierten Waren und Dienstleistungen zu messen und danach die Politik auszurichten. Noch ist allerdings nicht klar, was wir an seiner Stelle auf den Sockel heben sollen. Doch nicht etwa das Glück? Wo bliebe da der unbedingte Leistungswille, der uns wettbewerbsfähig hält und vor Verschuldung und Verluderung bewahrt? Die Debatte ist eröffnet.
Doch damit wir uns anständig vom BIP, verabschieden können, müssen wir uns zunächst klar darüber werden, was uns das BIP bisher bedeutet hat. Zunächst fällt auf, dass uns immer nur dessen erste Ableitung interessiert – die Wachstumsrate. Mehr BIP gilt als gut. Aber mehr von was? Mehr Häuser? Mehr Autos? Mehr Schlagsahne? Seien wir ehrlich: Diese Frage interessiert uns spätestens seit den siebziger Jahren nicht mehr. Sie ist nie Gegenstand der öffentlichen Debatte. Mehr BIP muss nur noch deshalb sein, damit mehr Arbeitslosigkeit vermieden werden kann.
Schon heute ist das BIP somit nur ein Hilfsindikator für eine weit wichtigere Größe – die Arbeitslosigkeit. Diese wiederum ist ein Indikator für sozialen Stress. Unser Problem mit dem BIP-Wachstum liegt nicht nur darin, dass es ein schlechter Indikator für die Steigerung des allgemeinen materiellen Wohlstands ist. Die ist uns auf dem heute erreichten Niveau sowieso ziemlich egal. Die Fixierung auf das BIP-Wachstum ist vor allem deshalb von Übel, weil es uns im Irrglauben bestärkt, dass das BIP-Wachstum das einzig wichtige Instrument zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sei. Zumindest müssen wir heute feststellen, dass alles Streben nach Wachstum dieses zentrale Problem in den vergangenen 30 Jahren nicht entschärft hat.
Und noch etwas ist in jüngster Zeit sehr klar geworden: BIP-Wachstum hat mit unserem Wohlstand immer weniger zu tun. So ist etwa das BIP pro Kopf in Deutschland zwischen 1991 und 2000 um immerhin 24 Prozent gestiegen, das wären rund drei Monatslöhne mehr. Theoretisch. Praktisch ist das Einkommen des durchschnittlichen Deutschen im erwerbsfähigen Alter in dieser Zeit um rund ein Prozent gesunken. Diese Information entnehmen wir einer Statistik der OECD – die aber nirgendwo beachtet worden ist, geschweige dann Schlagzeilen gemacht hat.
Dabei ist dieser Indikator sehr wichtig. Er bildet erstens die Veränderung des Wohlstands viel besser ab als die Wachstumsrate des BIP pro Kopf. Dessen Veränderung ist bestenfalls ein Indikator für die Produktivkraft eines Landes. Er sagt aber nichts über die Fähigkeit der Politiker aus, Produktivität in allgemeinen Wohlstand für den Normalbürger umzuwandeln. Gemessen an diesen Kriterium schneidet Deutschland extrem schlecht ab. Denn das Einkommen sinkt. Von 2000 bis 2010 ist Deutschland (mit minus 3 Prozent) Schlusslicht unter 27 OECD-Staaten.
Zudem ist die Veränderung des Durchschnittseinkommens ein wichtiger Indikator für die Verteilungsgerechtigkeit und ein Frühindikator für Arbeitslosigkeit. Das Durchschnittseinkommen steht für Massenkaufkraft. Hinkt diese hinter der Produktivität her, so zeigt dies erstens eine Umverteilung von unten nach oben an. Zweitens bedeutet eine sinkenden Kaufkraft auch steigende Arbeitslosigkeit. Dass Deutschlands Arbeitslosenquote dennoch seit 2000 gesunken ist, spricht nicht gegen diesen Zusammenhang. Es beweist lediglich, dass auch andere Einflussgrößen eine Rolle spielen. Denn Exportmeister Deutschland hat seit 2000 durch seinen Handelsbilanzüberschuss gut fünf Prozentpunkte Arbeitslosigkeit ins Ausland verlagert.
Das Beispiel zeigt, dass es nicht darum gehen kann, einen völlig neuen Indikator für eine vage Größe, wie etwa „das Glück“ zu entwickeln. Synthetische Zahlen wecken keine Emotionen. Unter dem realen Einkommen des Normalbürgers hingegen kann sich jedermann und jede Frau etwas vorstellen. Wenn solche Zahlen künftig nicht erst mit zwei Jahren Verspätung errechnet und publiziert werden, können sie durchaus politische Kraft entwickeln. Zusammen mit Vergleichsgrößen wie etwa das BIP pro Kopf oder pro Arbeitsstunden können sie zu Eckwerten mutieren, an denen sich die politische Diskussion entzünden und an der sich die Wirtschaftspolitik orientieren kann.
Einverstanden, hier fehlt – unter anderem – die ökologische Dimension. Aber damit ein Indikator griffig bleibt, darf er nicht auf alles zugreifen wollen. Natürlich sind BIP-Wachstum und Umweltschutz tendenziell Gegensätze. Aber es gibt keinen klaren Zusammenhang. Es kommt sehr darauf an, was da genau wächst. Deshalb muss man mehr denn je den Einzelfall abwägen: Wieviel bringt uns der Zuwachs an Produktion und Konsum und wie schwer wiegt das im Vergleich zu den Umweltkosten? Diese Informationen in einen Index zu verpacken, bringt keinen Erkenntnisgewinn.
Werner Vontobel ist Ökonom und Journalist. Er lebt in der Schweiz
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