Blockaden nehmen zu

#OnBloqueTout In Frankreich liefern sich Regierung und Streikbewegung ein Kräftemessen. Die Bürgerinnen und Bürger zögern nicht, das ganze Land lahmzulegen

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Demonstrierende in Le Havre
Demonstrierende in Le Havre

Foto: CHARLY TRIBALLEAU/AFP/Getty Images

Zwischen der Regierung einerseits und Gewerkschaften und sozialen Bewegungen andererseits hat sich in den letzten Wochen ein Schlagabtausch entwickelt, der in dieser Woche eine neue Stufe der Eskalation erreichte. Dabei verbinden sich branchenspezifische Tarifauseinandersetzungen mit der gemeinsamen Forderung nach der Zurücknahme der ohne Abstimmung durchs Parlament gepeitschten Arbeitsrechts"reform". On lâche rien – wir geben nicht nach – gibt die Stimmung wieder. In den letzten Tagen ist On bloque tout zur zentralen Devise geworden: Wir blockieren alles.

In der vergangenen Woche hatten sich nach den Eisenbahnern nun auch Fernfahrer und Hafenarbeiter in die Streikbewegung eingeschaltet und es kam zu ersten Blockaden von Raffinerien bzw. des Mineralöldepots. Inzwischen ist Benzinknappheit zu einem ernsten Problem geworden, zum Teil verschärft durch Hamsterkäufe streikerfahrener Franzosen.

Die Regierung versuchte, Härte zu demonstrieren und ließ zunächst zwei Blockaden von Depots, vorgestern in Cournon d'Auvergne und gestern in den frühen Morgenstunden in Fos-sur-mer nahe Marseille, von Polizei und CRS räumen. Die Antwort der Gewerkschaften war schon unterwegs, und inzwischen werden sämtliche Raffineriestandorte bestreikt.

Raffinerien bestreikt, Ölhäfen dicht ...

Dazu sind seit heute die Belegschaften der Ölhäfen von Le Havre (40% der französichen Ölimporte laufen darüber) und jetzt auch Marseille in unbefristeten Streik getreten.

Die Ölknappheit hat nicht nur Auswirkungen auf die Tankstellen, sondern auch für den Flugverkehr wird es langsam eng. Die Pariser Flughäfen Orly und Roissy sind direkt von der Versorgung aus Le Havre abhängig. Andererseits werden die Fluglotsen wohl auch in den Streik treten. Eigentlich macht es also nichts, wenn sie dort keinen Sprit mehr haben...

Zusätzlich werden praktisch für jede geräumte Blockade mehrere neue errichtet. Auch Logistikzentren von Supermarktketten sind seit heute betroffen. Dabei wurden auch schon Bauern mit ihren Traktoren gesichtet.

...und jetzt auch noch die AKWs

Dazu beginnen auch schon Streiks in französischen AKWs. In Nogent-sur-Seine wurde gestern beschlossen, den Betrieb des 2. Reaktorblocks (der erste ist bereits wegen Wartungsarbeiten heruntergefahren) ab Donnerstag zu stoppen. Auch Cattenom hat sich angeschlossen. Zu weiteren Arbeitsniederlegungen im Energiesektor wird von der CGT aufgerufen. Letztes Update: inzwischen wurde in 16 von 19 französischen AKWs für den Streik gestimmt. Das kann heiter werden.

Nächste Woche sollen ab 31. Mai bei den Staatsbahnen SNCF sowie ab 2. Juni beim Pariser Verkehrsverbund RATP ebenfalls unbefristete Streiks hinzukommen (RATP befördert täglich 8-10 Millionen Passagiere im Großraum Paris). Für Donnerstag, 26. Mai wird erneut zu landesweiten Streiks und Demonstrationen aufgerufen.

"convergence des luttes"

In all diesen Scharmützeln findet sich immer wieder die Bewegung der Nuit debout, die sich rasend schnell im Land verbreitet hat und in meist relativ kleinen, offenen Gruppen wie eine Hefe im Teig der sozialen Unruhe wirkt. Sie hat sich die convergence des luttes, die Zusammenführung der Kämpfe aus den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen, zum Ziel gesetzt. Der relativ kleinen Zahl aktiv Beteiligter – es mögen wenige Zehntausend in vielleicht 200 Städten sein – steht jetzt schon eine relativ große Wirkung gegenüber. Dass der weltweite Protesttag gegen Monsanto am 21. Mai in Frankreich besonders großes Echo fand, mag auch im Zusammenhang einer schon fast explosiven gesellschaftlichen Sensibilisierung stehen, die in Nuit debout einen Ausdruck findet.

Nuit debout ist schon jetzt in der Mainstream-Öffentlichkeit zu einem Label geworden, das einerseits im konservativen und rechten Lager zu den üblichen Hassprojektionen führt (jeder Stein, der geworfen, jedes Auto, das angezündet wird, ist das Werk von Nuit debout), im linksliberalen Lager bestenfalls hilflose, "verständnisvolle" Vereinnahmungsversuche hervorruft.

Die Botschaft von Nuit debout wird dabei natürlich nicht vermittelt: Man hat verdammt die Schnauze voll von diesem System. Die Arbeitsgesetzreform ist nur der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Contre la Loi Travail et son monde, gegen das Arbeitsgesetz und die Welt, für die es steht, ist die zentrale Aussage. Nuit debout hat von vornherein klargemacht, dass es mit der Rücknahme des inzwischen per Artikel 49.3 "angenommenen" Gesetzentwurfs nicht getan sein wird. Es geht um einen Systemwechsel, das Ende der Lohnarbeit, die Wieder- und Neuschaffung der Commons (nicht zufällig war auch Richard Stallman, Gründer der Free Software Foundation, als Gastredner auf der Plaçe de la République), die Sozialisierung der Produktionsmittel, eine den Prinzipien einer Räterepublik folgende politische Ordnung. Ein Kommunismus, der nicht mit seinem – von Freund und Feind beschmutzten – Namen genannt, aber nicht nur mit einem graffito an einem Metroausgang der République beschworen wird: "que revive la commune" - dass die Commune wiederauferstehe!

Der lange Atem

Vieles wird davon abhängen, ob dieses "utopische" Moment von Nuit debout nicht nur beibehalten werden kann – denn sie ist eine heterogene Bewegung ohne führende Köpfe oder festgeschriebenes Programm – und wenn ja, ob sie ihren revolutionären Überschuss nachhaltig im Bewusstsein weiterer Teile der Bevölkerung verankern kann. Es kann dabei durchaus nicht egal sein, ob das unmittelbare Ziel der Streik- und Protestbewegung, die Rücknahme des Gesetzes, erzwungen werden kann oder nicht. Mir scheint dieser Konflikt inzwischen etwa den Stellenwert des britischen Bergarbeiterstreiks unter Margaret Thatcher zu haben. Dessen Niederlage führte zum Triumphzug des Neoliberalismus in Europa. Es wäre enorm, wenn jetzt in Frankreich umgekehrt dessen Untergang eingeläutet würde

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Geschrieben von

wetterleuchten

"Du hast keine Chance, aber nutze sie" (Herbert Achternbusch)

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