Die FDP findet wieder mehr öffentliche Beachtung als noch vor ein, zwei Jahren. Das liegt nicht nur daran, dass es ihrem Vorsitzenden Westerwelle - nach erfolglosem Werben um die SPD bei früherer Gelegenheit - jüngst gelang, seine Partei zum Joker eines Erpressungsspiels des Kanzlers gegenüber den Grünen zu machen. Denn in diesem Sinne wurde über das halbstündige Gespräch berichtet, das zwischen beiden Parteivorsitzenden vor der Abstimmung über die Vertrauensfrage im Bundestag am 16. November stattfand. Nein, schwerer wiegen die guten Ergebnisse der FDP bei den Landtagswahlen in Hamburg und Berlin bei gleichzeitiger Schwäche der Grünen. Ein dreiviertel Jahr vor der Bundestagswahl müssen diese Ereignisse die Frage aufwerfen, ob es bei anhaltender Führungskrise der CDU nicht im nächsten Herbst auf die zweite sozialliberale Koalition in Deutschland hinauslaufen könnte.
Vielfach wird darauf hingewiesen, dass der FDP - im Unterschied zu Bündnis 90/Die Grünen - beide Koalitionsoptionen, nach links wie nach rechts, offen stünden und sie sich daher in einer komfortablen Lage befände. Die FDP würde damit in ihre angestammte Rolle einer Scharnierpartei zurückkehren, die sie auf Bundesebene durch die 16jährige Verbannung in die Karawane Helmut Kohls und durch den Eintritt der Grünen in die Regierung zunächst eingebüßt zu haben schien. Diese Rolle bestand mehrfach in der Geschichte der Bundesrepublik darin, in einem System etwa gleich großer Parteiblöcke mit eingebauter Wechselträgheit durch mehr oder weniger spektakulären Partnerwechsel der kleinen Partei dennoch eine andere Mehrheit zu ermöglichen.
Manchester hat die SPD schon genug
Die Voraussetzung dafür lag nicht nur in der sprichwörtlichen taktischen Wendigkeit des führenden Parteipersonals, sondern diese setzte in den sechziger bis achtziger Jahren in jedem Fall eine gewisse Breite des in der FDP beheimateten politischen Spektrums voraus. So machten die Bürgerrechtsliberalen der Sechziger mit dem "Freiburger Kreis" als Zentrum den Übergang zur sozialliberalen Koalition im Jahre 1969 möglich - der neoliberal zugespitzte Wirtschaftsliberalismus den Wechsel zur Regierung Kohl/Genscher im Jahre 1982. Das "Scharnier" war immer aus politischem Fleisch und Blut, bestand aus Programm und Personen.
Nun ist in Bezug auf diese programmatische Voraussetzung seit den neunziger Jahren eine womöglich entscheidende Veränderung eingetreten, die nur mit Blick auf das gesamte Parteiensystem verstanden werden kann. Die FDP übernahm in der Koalition von 1982 die Rolle, den Neoliberalismus zuzuspitzen. Sie verlor dabei in vollem Bewusstsein fast ihren gesamten bürgerrechtlichen Flügel und vollführte eine veritable Parteispaltung. In den vergangenen 20 Jahren allerdings wurde der Neoliberalismus zum Credo nicht nur der CDU/CSU, sondern ging ebenso in die Politik der SPD und sogar der Grünen ein. Die FDP verlor in diesem Prozess ihren Originalitätsanspruch auf Sozialstaatsabbau, ebenso wie die Grünen durch die nominelle Ökologisierung der gesamten Politik einen großen Teil ihres grünen Profils einbüßten. Daher könnte man sich die Frage stellen, worin denn das "Scharnier" der FDP zur SPD bestehen sollte, wenn doch für diese eine neoliberale Wirtschaftspolitik nicht unbedingt eine Innovation wäre. Besteht die FDP aus nichts weiter als aus Manchestertum und hat die SPD davon schon genug, dann repräsentiert die liberale Partei eine leere Mitte, die nur noch unter dem Gesichtspunkt der Mehrheitsbeschaffung als "neu" bezeichnet werden kann.
"Go West" nicht mehr finanzierbar
Vielleicht ist aber auch alles noch ein wenig anders. Auf deutschem Boden ist die Durchsetzung des Neoliberalismus im Vergleich zu den USA oder Großbritannien immer gebremst gewesen, gebremst durch die Unverzichtbarkeit sozialstaatlicher Politik in der Konfrontationszone des Kalten Krieges. Die Osterweiterung Westdeutschlands erzwang einen ersten Schub der "Normalisierung". Die Osterweiterung der EU und die Beteiligung Deutschlands an einer "Weltinnenpolitik" in Asien und Afrika bringen den verschleierten finanziellen Bankrott der bisherigen Lebensweise an den Tag. "Go West" ist nicht mehr finanzierbar. Da bleibt nur der Übergang zu einer anderen, finanzierbaren Lebensweise. Die könnte ökologisch oder amerikanisch sein. Die Grünen standen einmal für den Umbau der Industriegesellschaft angesichts der Einsicht in die "Grenzen des Wachstums". Die FDP steht für die bittere Vollendung des neoliberalen Projekts in Deutschland. Sie will einen Spitzensteuersatz von 35 Prozent. Manche werden sich noch daran erinnern, dass vor 20 Jahren der Plan von Franz Josef Strauß, den Spitzensteuersatz von 53 auf 50 Prozent zu senken, einen landesweiten Aufschrei hervorrief.
Der Siegeszug des Neoliberalismus hat tiefe Spuren hinterlassen. Gleichwohl stehen die Zeugenberge des Sozialstaats in Deutschland mit geologischer Hartnäckigkeit. Schranken zu durchbrechen, Tabus zu verletzten, bedarf auch in der Politik besonderer Bedingungen und Vorkehrungen. Dass nun ein Sicherheitspaket nach dem anderen aus den "Schubladen" des Innenministers quillt, verweist auf den 11. September als Türöffner einer vorbereiteten, aber bislang gebremsten Politik. Könnte die bohrende und immer stärker irritierende Beschwörung des 11. Septembers als Zeitenwende - im Schnitt alle zehn Jahre eine Wende: 1982, 1990, 2001 - unter anderem die Funktion übernehmen, die zivilen Hindernisse für die Angleichung des deutschen Neoliberalismus an atlantisches Niveau zu beseitigen?
Demnach wäre die Programmschrumpfung der FDP kein Hindernis dafür, dass sie im September 2002 ihre Scharnierfunktion wahrnehmen könnte. Die Drehung wäre keine in der Waagerechten, sondern in der Senkrechten: die Vertiefung der neoliberalen Anpassung an eine weltpolitische Überhebung Deutschlands bei leeren Kassen. Diese könnte mit der Union ebenso durchgeführt werden wie mit der SPD. Es kann geschehen, dass der Wahlkampf vom Krieg bestimmt wird und die wirtschafts- und sozialpolitische Umrüstung dahinter verschwindet. Die Grünen, die sich zur leeren Mitte noch nicht modernisiert haben, könnten mit einer solchen Konstellation auf dem falschen Fuß erwischt werden: das Thema einer ökologisch gewendeten Austerity haben sie links liegengelassen, eine neue Rolle Deutschlands in der Welt noch nicht durchbuchstabiert.
Der FDP-Vorsitzende hat den Ökoliberalen bei den Grünen den Parteiübertritt angedient. Sollte die FDP in den nächsten Monaten eine Westerwelle auf ökologische Allgemeinplätze vollführen, müssten bei den Grünen die Alarmglocken läuten. Der Versuch, die FDP dauerhaft im rechten Block und so Rot-Grün zu halten, wäre misslungen. Ampelkoalitionen waren auf Länderebene nicht von großer Dauer und für die Grünen nicht sehr glücklich. Im Bund müssten sie nach der Kriegszumutung noch die andere bestehen, mit der FDP um die Position des besseren Sparkommissars zu konstruieren - für die grüne Basis eine schwer zu bestehende, doppelte Herausforderung. Die Hauptstadt bot dafür gerade das Experimentierfeld. Die FDP mutete SPD und Grünen in den Koalitionsverhandlungen den Spagat zu: Finanzierung von riskanten und skandalverdächtigen Unternehmungen und dafür Sparen bis an die Grenze der Verwahrlosung des Staates - das ist das Menetekel. Fürs erste haben sie es nicht geschluckt. Wer wird - langfristig - damit Erfolg haben?
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