Deutsche Gewaltverhältnisse

Grundgesetz Wenn heute alle dasselbe Verfassungsbewusstsein hätten wie die 68er damals, wäre Deutschland weiter

Der Deutsche Herbst des Jahres 1977 erlebt eine Medienkonjunktur. Gegenüber vergangenen "runden" Jahrestagen hat sich der Blickwinkel, aus dem die RAF betrachtet wird, allerdings auffällig gedreht. In seinem Bestseller Der Baader-Meinhof-Komplex von 1987 schilderte Stefan Aust die Hauptakteure des deutschen Terrorismus noch als Idealisten der postfaschistischen Demokratie. Da erfuhren die Leser zum Beispiel, dass Gudrun Ensslin Mitte der sechziger Jahre Wahlkampf für Willy Brandt gemacht hatte. Zehn Jahre nach dem Deutschen Herbst war dem Journalisten, der selbst nicht wenige Einsichten in den bundesdeutschen Sicherheitsstaat beigesteuert hatte, noch der Ernst der Frage anzumerken, wie es zur Radikalisierung und Abspaltung der RAF aus der APO kommen konnte.

Im Jahre 2007 wird die RAF-Geschichte zum Politkrimi verflacht. Der Aust von heute, als Spiegel-Chef staatstragend geworden, lässt in seiner Fernsehdokumentation gerade einmal ein paar schnelle Schnitte zwischen dem Familienalbum der Ensslins, einer Minute Jubelperser 1967 vor der Deutschen Oper Berlin und nackter Vietnamesin nach Bombenangriff über die Mattscheibe flimmern. So kann der Osten, wenngleich über die Stasi-Connection der RAF gleichsam unbewusst involviert, die Spuren sowieso nicht mehr lesen. Die Nation ist vereint in Fragen, wie man sie sich beim Tatort jeden zweiten Abend stellt: Wie kam die Pistole in Baaders Zelle? Sind die Taten gesühnt, die Täter womöglich noch unter uns? Wer war´s wirklich?

Man könnte sich auch ganz andere Fragen stellen. Hatte die bundesdeutsche Demokratie nach einem Vierteljahrhundert ihres Bestehens die erste große Herausforderung bestanden? Wie würde sie heute in ähnlicher Lage reagieren? Warum interessiert diese Frage so wenig? Warum überhaupt muss - nach NS, Stasi, 68 - nun auch noch die RAF öffentlich aufgearbeitet werden? Es ist, als könne Deutschland erst ruhig schlafen, nachdem auch dieses "Thema" für ein neues deutsches Geschichtsbewusstsein präpariert worden ist.

Der Herbst 2007 hat seine Vorgeschichte. Die RAF gibt es längst nicht mehr. Dient sie nun dazu, das in Deutschland angeblich zu schwach ausgeprägte Bewusstsein für die Terrorgefahren zu schärfen? Wird die RAF-Geschichte eben wegen dieser Funktionalisierung derart verkürzt dargestellt? Dem Deutschen Herbst 2007 geht das öffentlich inszenierte Scheitern der Begnadigung von Christian Klar voraus. Vor gut zwei Jahrzehnten wurde in der alten Bundesrepublik ein gesellschaftlicher Dialog geführt, der zur gegenseitigen Abrüstung von RAF und Sicherheitsstaat entscheidend beitrug. Warum konnte daran im vereinten Deutschland nicht angeknüpft werden? Was hat sich geändert, dass die Beschäftigung mit der RAF zu einer Einübung in Gnadenlosigkeit wird?

Da der Griff in die RAF-Geschichte zuallererst den Gedanken an Gewalt hervorruft, liegt die Frage nahe, wie sich die deutschen Gewaltverhältnisse verändert haben. Dies betrifft in erster Linie das Verhältnis der Gewalt zu den sie einhegenden und begrenzenden Instanzen. In diesem Bezug unterscheidet sich die alte Bundesrepublik von dem heutigen Deutschland allerdings elementar. Ein Land, das Soldaten in den Kriegsgebieten des Globus stehen hat, ist ein anderes Land als eines, das unter "Krieg" die vergangenen Weltkriege oder den Kalten Krieg verstand. Die Kinderfotos der Generation von Baader und Meinhof erzählen von Häkeldeckchenwohnzimmertischen, Kirchgang und Familiensonntag. Davon ist für eine Kindheit und Jugend heute nicht viel übrig geblieben. Jeder zweite Jugendliche hat heute die Erfahrung entfesselter Gewalt in seinem Alltag gemacht. Dagegen veranstalteten, aufs Ganze gesehen, die Rocker und die Rolling Stones Kinderfasching.

Der gelebten Verfassung, soweit davon gesprochen werden kann, wird nachgesagt, sie hege Gewalt ein, welche entfesselt wird, wenn sich zwischen Buchstaben und Leben eine Kluft auftut. Es mag heute überraschen, aber die 68er glaubten so tief an die Wahrheit des Grundgesetzes, dass dessen Verrat einen Schock auslösen musste. Den historisch-politischen Zusammenhang von Verfassungspatriotismus der Linken, Napalm und RAF versteht nur, wer den Legitimationsbruch erkennt, den diese Generation in den sechziger Jahren erlebte.

Es ist nämlich eine Binsenweisheit der Protestforschung, dass Tiefe und Heftigkeit einer Rebellion nicht von deren Subjekten abhängen, sondern dass diese ihrerseits durch den Zusammenbruch tradierter Legitimationen konstituiert werden. Aufbruch und Entwicklung der außerparlamentarischen Opposition der sechziger Jahre waren nicht vorrangig durch deren soziale oder politische Interessen bestimmt, sondern durch das Echo, das die etablierte Gesellschaft ihnen auf ihre Anrufung gab, Verfassungsnorm in Verfassungswirklichkeit umzusetzen. Erst die Erfahrung, dass dieser Appell den gesamten vorgeblich christlich-demokratischen Konsens vom Sockel holte, sobald nach der logistisch und politisch begriffenen deutschen Verstrickung in die Massaker von My Lai und anderswo gefragt wurde, mehr noch, dass der Staat mit öffentlich zur Schau getragenem Zynismus gegenüber den eigenen Verfassungsnormen reagierte, erst dies eben macht den Übergang eines Teils der Bewegungen zur terroristischen Gewalt verständlich.

Mitte der sechziger Jahre beherrschte das Muster "Verfassungsnorm/Verfassungswirklichkeit" den politischen Diskurs der APO. Sie folgte darin der historischen Widerspruchsanalyse, die etwa von der Abendroth-Schule der Politikwissenschaft in Marburg tradiert und gepflegt wurde: Rechne der schlechten Wirklichkeit ihre Abweichung vom Gründungsgeist der Verfassung vor und somit ihre versäumten Gelegenheiten gesellschaftlicher Veränderung! So ergab sich, ausgehend vom Potsdamer Abkommen und von den Kämpfen der vierziger Jahre, eine Perspektive, wonach sich das Selbstverständnis der Republik schrittweise verengt hatte. Eben diese Verengung sollte nun durch aktuelle Forderungen sichtbar und letztlich rückgängig gemacht werden.

Erst die gewaltsame und obrigkeitsstaatliche Reaktion auf diese frühe Phase des Protests führte einen größeren Teil der Bewegung zum Rückgriff auf marxistische Denktraditionen und einen kleinen Teil zur "Propaganda der Tat", beide in heftigem Streit miteinander. Dieser historische Zusammenhang ist in der Reflexion und Selbstreflexion der Protestbewegung so oft wie gründlich dargelegt worden, dass es schon lächerlich erscheint, ihn ein ums andere Mal gegen die modischen Kurzschlüsse von 68-er-Bewegung und RAF ins Feld führen zu müssen.

Aber was ist schon gegen eine interessierte Trivialisierung der Geschichte auszurichten, die sich zur Nationalgeschichte mausern will? Und warum sollte ausgerechnet Deutschland dem entkommen? Der Satz wäre auszuprobieren: Der heutige Staat müsste sich glücklich schätzen, könnte er auch nur entfernt auf eine derartige Verfassungsbindung zählen, welche die 68er-Aktivisten beseelte und die auch einen Teil ihrer Gewalt erklärt. Die Protestbewegung war weithin eine Rechtsbewegung, eine Bewegung der, wie auch immer illusorischen, Einforderung von Rechten. Sie war deswegen durchzogen von "Roter Hilfe" als Stützpunkte juristischer Weiterbildung der Bewegung. Warum spielten denn Rechtsanwälte eine so bedeutende Rolle? Ganz einfach, weil die Grundüberzeugung darin bestand, man könne Staat und Gesellschaft ihre eigene Melodie vorspielen und so in Bewegung setzen.

Ist in den heutigen Gewaltverhältnissen, in denen junge Menschen zwischen 18 und 28 leben, auch nur ein Hauch von dieser politisch aufgeladenen Rechtskultur zu bemerken? Kann sich jemand die Situation vorstellen, Täter wie Opfer familialer Gewalt, Teilnehmer jugendlicher Riots in den Vorstädten oder deutsche Söldner der globalisierten Bürgerkriege würden mit dem Gedanken an das "Grundgesetz" oder überhaupt an Rechte konfrontiert werden? Nicht einmal Gelächter wäre die Folge, sondern schlichtweg Unverständnis. "Notstandsgesetze"? Kein Thema mehr, sondern Normalität. Auf diesem Kanal wird nicht gesendet und nicht empfangen.

Vielleicht können die rechthabenden Kommentatoren und Geschichtsaufarbeiter von Glück sagen, dass es sich so verhält. Vielleicht war es ja gerade die beunruhigende Mischung von modernem, antifaschistisch geschärftem Normbewusstsein und deutschem Protestantismus, die im Aufbruch der sechziger Jahre und in den Taten selbstgerechter Verzweiflung der siebziger Jahre explodierte. Zumindest macht die amorphe und zerstreute Gewalt einer postmodernen Gesellschaft auch nicht die geringsten Anstalten, sich zu politisieren und als irgendeine Art oppositioneller Herausforderung aufzutreten. Nein, heute genügen Sozialarbeiter und Polizeitaktiken, die vor vierzig Jahren beide versagten.

Opfer und Täter, Gut und Böse, Vergebung und Vergeltung, - in solche unpolitische Kategorien gefasst, kann der Deutsche Herbst in den neuen deutschen Nationalmythos eingehen. Fürs historische Begreifen sind damit die Türen zu. Dabei gäbe es viele Fragen, denen lohnenswert nachzugehen wäre. Stellte der Protestantismus nicht auch eine wichtige, wenn nicht entscheidende Quelle der Parteiengeschichte nach dem Krieg dar, insbesondere für die SPD mit ihrem Fundamentalismus des Bergischen Landes, ohne den es weder die Neue Ostpolitik noch das entschiedene "Demokratie wagen" Willy Brandts gegeben hätte? Wie hängt das mit den Fundamentalismen zusammen, die zu Erfolgen wie in Sackgassen der Protestbewegung führten? Moment mal, - war nicht Rudi Dutschke in einer christlichen Gruppe, bevor er aus der DDR ins bewegte Westberlin kam?

Wie verhalten sich, eine andere spannende Frage, Begreifen und Mythologisierung der Geschichte im deutschen Fall zueinander? Es scheint eine Art Geheimgeschichte des Umkippens von Erkenntnisinteresse an Gewalt in das Gerichtsdrama von Schuld und Sühne zu geben, die sich von den Anklagen der 68er gegen ihre Eltern über die RAF bis in die Gegenwart zieht. An den Knotenpunkten dieser Geheimgeschichte entscheidet sich jeweils, ob die Stimmung zu innerem Krieg oder Frieden, zu Vergeltung oder Gnade umschlägt. Was irritiert einen, der die Waffe anlegt, mehr, als wenn die Kontur des Feindes verschwimmt? Strafen oder Verstehen, da muss man sich entscheiden. Das ist die eine Geschichte. Die andere, dass es zum verlorenen immer auch einen guten Sohn geben muss. Die deutsche Kamera stellt bei Josef Fischer, nach langem Hin und Her, auf Grautöne ein, bei der RAF ebenso zielbewusst auf harte Kontraste. Kann der gute Deutsche nicht ohne den bösen?

Wieland Elfferding lebt als Lehrer und Publizist in Berlin. Veröffentlichungen zur Theorie der Medien und Öffentlichkeit. Praktische und theoretische Auseinandersetzung mit Fragen des Alpinismus. Zuletzt erschien von ihm der Band: Die Alpen-Sherpas

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