Die alljährliche Lektion

Ländervergleich Im aktuellen OECD-Bericht "Bildung auf einen Blick" wird Deutschland wieder ein mäßiges Zeugnis ausgestellt

Wer den Bildungsstand eines Landes messen will, richtet den Blick zuerst auf die Beteiligung am Bildungssystem, die sich beispielsweise an der Zahl der Studienanfänger eines Jahrgangs zeigt. In seiner Präsentation der Studie Bildung auf einen Blick 2004 weist das Bundesbildungsministerium zwar darauf hin, dass die Studienanfängerquote in Deutschland von 28 Prozent im Jahr 1998 auf 35 Prozent im Jahr 2002 leicht gestiegen ist. Gegenüber dem OECD-Durchschnitt von 51 Prozent liegt sie jedoch weit zurück. Unaufholbar, könnte unter Berücksichtigung der realen Entwicklung an den Universitäten gesagt werden. Denn diese werden von ihren Trägern aus Gründen des Sparens zu drastischer Reduzierung der Studienplätze gezwungen. Zudem relativieren sich Daten zur Bildungsbeteiligung wenn man die demografische Entwicklung einbezieht. Hier kann selbst eine deutliche Steigerung der Quoten von Höherqualifizierten wegen des rückläufigen Anteils junger Leute an der Gesamtbevölkerung eine Stagnation bedeuten.

Was wollen die deutschen Bildungspolitiker - mehr Studenten oder weniger? Eine klare Antwort ist kaum zu bekommen. Während die Universitäten schrumpfen, verkürzen etliche Länder ihre Schul- und Studienzeiten. Auf lange Sicht ergibt sich somit absolut ein höherer Ausstoß von Absolventen. Oder vielmehr - das könnte so sein, wenn nicht gleichzeitig die Wiederholer- und Abbrecherquote steigt. Selbst wer an die günstige Variante glaubt, muss sich fragen, wo die Studienplätze für mehr Abiturienten und die Arbeitsplätze für mehr Absolventen des sekundären und tertiären Bildungsbereichs herkommen sollen. Insgesamt scheint, bei strikten Sparvorgaben, das Bildungssystem in Deutschland auf mehr Durchsatz zu zählen, wie das in der Betriebswirtschaft heißt, - auf Kosten der Qualität?

Diejenigen, die Hochschulabsolventen einstellen, Schulen ebenso wie Unternehmen, klagen immer wieder über zu geringe Qualifikationen. Ein Lehrer wird zukünftig mit einem Bachelor-Fachstudium auskommen, der fachwissenschaftliche Ausbildungsteil wird dünner. So etwas lässt sich auf dem Hintergrund populistischer Klagen über die "Realitätsferne" des Studiums leicht durchsetzen. Ob dieser Lehrer später fähig sein wird, den wachsenden Anforderungen an die fachliche Qualität seines Unterrichts gerecht zu werden, steht auf einem anderen Blatt.

Qualitätsfragen betreffen den zweiten wichtigen Maßstab zur Beurteilung eines Bildungssystems. Nehmen wir die in mehreren Bundesländern bereits durchgeführte Verkürzung der Schulzeit auf zwölf Jahre. Gut, die jungen Menschen sollen früher als bisher aus der Schule herauskommen. Aber wohin? Und wird die Qualität des Abiturs nicht unter der Verkürzung leiden? Leider enthält Bildung auf einen Blick 2004 keine Daten zur Beteiligung der Lehrer an Fortbildungsmaßnahmen, womöglich aufgeschlüsselt nach der Art der Fortbildung. Man könnte erfahren, welche Chance besteht, dass die heutigen Lehrergenerationen sich in den Stand versetzen, Qualitätsdefizite ihrer Arbeit, wie sie in den verschiedenen Bildungsstudien der vergangenen Jahre festgestellt wurden, intern aufzuarbeiten und auszugleichen.

Vielleicht findet sich hier ein Hinweis: Die OECD-Studie enthält erstmalig Informationen über die Bindung der Schülerinnen und Schüler an ihre Schule. Die Daten wurden im Rahmen der PISA-Studien 2000 erhoben. Eine knappe Hälfte der Schülerinnen und Schüler in Deutschland können sich mit ihrer Schule nicht identifizieren. Dabei zeigt sich, dass im Rahmen einer Schule eine hohe Korrelation besteht zwischen Identifikation mit der Institution und Leistungsbereitschaft. Es liegt nahe zu glauben, dass hier, neben der Haltung der Eltern, zwei Faktoren ausschlaggebend sind: das Verhalten der Lehrer und die Organisation der Schule. Deutschlands Lehrerinnen und Lehrer - muss es noch einmal betont werden? - sind hochbezahlt. Welche Stimmung sie verbreiten hängt - wer wüsste es nicht? - weniger am Gelde als am Betriebsklima. Dieses bestimmt sich durch die Arbeitsbedingungen und die Organisationsform der Schule.

Geht es um die Reform der Schulorganisation, werden Bildungspolitiker nicht müde, als Kernstück die wachsende Selbständigkeit der Schulen herauszustreichen. Bildung auf einen Blick 2004 zeigt, dass Deutschland, was dies betrifft, eher im unteren Mittelfeld der OECD-Länder liegt. Die "Philosophie" der Bildungsstandards und zentralen Prüfungen ("Evaluation") besagt: Das und das müsst ihr erreichen - wie ihr das macht, ist eure Sache. Für gewöhnlich kann man einer solchen Funktionslogik nur Institutionen unterwerfen, die über freie Ressourcenschöpfung und -verwendung verfügen. Wie steht es damit? In Berlin können Direktoren von Modellschulen über circa zwei Lehrerstellen von, sagen wir, einhundert selbständig verfügen. Die selbständige Einstellung von Personal etwa ist im neuen Berliner Schulgesetz vorgesehen, aufs Ganze gesehen ist das noch Zukunftsmusik. Was die Verfügung über Stundentafeln angeht, so werden die Berliner Schulen entscheiden können, ob sie, um das Ziel ihres Bildungsganges zu erreichen, ein, zwei Stunden eines Faches zwischen, sagen wir, der siebten und der neunten Klasse umverteilen. Die Summe bleibt gleich. - Um Missverständnisse zu vermeiden: Der Fortschritt von 0,5 Prozent Selbständigkeit auf ein Prozent beträgt 100 Prozent - so ist das nun einmal mit Statistiken.

Die Öffentlichkeit bevorzugt, wenn es in Deutschland um Bildung geht, Fortschritts- statt Widerspruchsanalyse. Dadurch stützt sie die allgemeine Tendenz, wonach der Bildungsjargon die Wirklichkeit immer schon zugetextet hat. Kein Bildungsministerium, das nicht bereits eine Stabsstelle für "Qualitätsmanagement" eingerichtet hat, bevor noch irgendeine Bodenberührung mit Unterricht und Erziehung vor Ort stattfand. Soll sich die Trendwende in den Lehrplänen zu mehr Freiheit für die Lehrerinnen und Lehrer etwa darin zeigen, dass in deren Vorworten die Vokabel "Kompetenz" in jeden Satz mehrfach eingestreut wird? Ansonsten zeichnet sich ein gewisser Trend "näher ran ans Leben" ab, der im Zweifelsfall dazu führt, dass in Chemie die Kenntnis von Atommodellen der Sensibilität für die Zusammensetzung der alltäglich genossenen Lebensmittel geopfert wird. Zu diesem Thema hat der berühmte Schulpolitiker Robert Walser schon das Nötige gesagt: "Die Schulen haben sozusagen angefangen, dem Leben zu schmeicheln. Wie aber, wenn das Leben von dieser Schulschmeichelei im Grund gar nicht viel wissen will?"

Die wahre Überraschung ist, dass die SPD anlässlich des OECD-Berichts eine Diskussion über das dreigliedrige Schulsystem beginnt, was sie nach dem berühmten "PISA-Schock" noch peinlich vermied. Vergessen wir nicht, die Gesamtschule ist eine Reformruine der SPD, aus der sie Ende der siebziger Jahre flüchtete - zugegeben, den entfesselten bürgerlichen Mob dicht auf den Fersen. Die GEW hat ihr Gesamtschulbekenntnis kürzlich offiziell relativiert. Nun ergreifen beide die Gelegenheit, in die Gesamtschulposaune zu blasen. Sollen wir ihnen Glauben schenken? Bloßes Wahlkampfgetöse? Die Zwischenbilanz der laufenden Bildungsreformen nährt die Einsicht, dass auf diesem wie auf kaum einem anderen Gebiet der Talk die Politik ersetzt. Wie gern ließen wir uns vom Gegenteil überzeugen.


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