Im letzten Sommer gab es nur ein Thema: Das Wetter. Davon abgeleitet war das Thema "Berge", speziell: schmelzende Gletscher. Es fing an mit dem Matterhorn, dessen Permafrostzone bei 3.400 Meter zu tauen begann, so dass einige Tonnen Gestein auf die Köpfe der Bergsteiger herabfielen und der Berg gesperrt werden musste. Eine der vielen Zeitungen, die darüber berichteten, wusste auch von einer Schweizer Schokoladenfirma, die das Matterhorn als Logo führt und nun fürchtete, weniger dass ihre Schokolade, als dass die Gewinne dahinschmelzen könnten.
Was lehrt uns das? Die Alpen existieren für uns mehr oder weniger in ihrer symbolischen Gestalt. Die Menschen schauen, erstens, wenn sie das Wort "Alpen" hören, nach oben. Was unten, im Tal passiert, gehört irgendwie nicht dazu. Und warum steigen die Menschen, zweitens, nicht auf einen anderen Berg, der ihnen nicht auf den Kopf fällt? Davon gibt es genug. Die Übermacht der symbolischen Alpen über die wirklichen Alpen hat eine lange Geschichte. Mal waren die Alpen nur furchtbar und unbedingt zu meiden, dann wurden sie irgendwann, zumindest in den "Malerwinkeln", schön. Dann waren die furchtbar schönen Gipfel zu erobern, später waren sie vor den Eroberern zu schützen. Diese Alpenbilder, an denen, wie uns der Autor des Alpen-Buches nachweist, jeweils nicht allzu viel dran ist, entfalten ihre wechselnden Wirkungen von der Renaissance bis in unsere Tage des Umweltschutzes und der Fun-Parks.
Der Erlanger Geograph Werner Bätzing wäre uns bei der Zeitungslektüre im letzten Sommer ganz schön in die Parade gefahren. Die aktuellen Temperaturentwicklungen in den Alpen hielten sich immer noch im Mittel der natürlichen Klimaschwankungen der vergangenen 300 Jahre. Und was immer wieder als "Naturkatastrophe" bezeichnet wird, Bergstürze, Lawinen, Muren, sind jedenfalls keine Katastrophen für die Alpen, sondern eher für unser Alpenbild. Sie stellen "die zentrale Eigenschaft der Alpennatur" dar, ohne welche die Alpen heute nicht so aussehen würden, wie sie aussehen.
Wer nun noch Lust hat, ein paar populäre Vorurteile über die Alpen für sich zu bearbeiten, bekommt in Bätzings Buch ordentlich etwas zu beißen. Manche sind in ihr kulturalistisches Alpenbild verliebt, besuchen mit Begeisterung Höfemuseen und nehmen an Tauerntrecks teil. Sie bekommen die ernüchternde geologische und naturgeschichtliche Dimensionen vorgesetzt, ohne welche die Entwicklung der Alpen nicht zu verstehen ist. Wer die Bergbauernwirtschaft als Modell alpinen Lebens verabsolutiert, gleichsam die ökologisch aufgeklärte Version der alpinen Heidiwelt, muss sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass städtisches Leben und die Verbindung zu den alpennahen Städten seit Jahrtausenden zu den Alpen gehörten. Wer bei "Alpen" nur an Kuh und Käse denkt, dem teilt Bätzing mit, dass Handwerk und Industrie seit Jahrhunderten das Leben in den Alpen prägen. Wer kritisch, wie wir nun einmal sind, den zerstörerischen Tourismus geißelt, erhält die Auskunft, nicht nur, dass dieser seit 1985 rückläufig ist, sondern auch, dass dieser, abgesehen von einzelnen Zentren, nie die vermutete dominierende Rolle für die Ökonomie der Alpen gespielt habe. Wer umgekehrt, Snowboarder oder Paraglider, heute die Alpen nur als postmodernen Playground betrachtet, sieht sich mit der Grundthese des Buches konfrontiert: Die Alpen verschwinden, sie verschwinden als eigenständiger Lebensraum. So verschwindet auch die Spannung zwischen den Alpen und ihrer Umgebung und somit die Voraussetzung für den ersehnten Ausgleich zwischen Großstadtstress und Erholung.
Bätzings Alpen-Buch liefert durch die Berücksichtigung der geographischen Grundlagen, der Produktions- und Kulturgeschichte, der Ökonomie und Siedlungsgeographie der Alpen und schließlich der aktuellen Politik um die Alpen eine ganzheitliche Darstellung. Schon dadurch ist hier, über Jahrzehnte gewachsen und nun völlig neu konzipiert, ein Alpen-Handbuch entstanden. Erstmalig wird eine Gesamtbilanz des Verschwindens der Alpen als eigenständiger europäischer Kulturlandschaft gezogen und methodisch sorgfältig ausgewiesen. Auf diese Bilanz, die katastrophal, doch nicht aussichtslos ausfällt, gründet Bätzing seine politische Perspektive.
Die Alpen haben keine Zukunft gegen die Landwirtschaft, aber auch keine gegen das städtische Leben, das die Alpen durch und durch bestimmt. Daher wendet sich dieses Buch gegen politische Vorstellungen, die entweder das Landleben als "heile Welt" oder die "moderne Stadt" verabsolutieren. Bätzing hält gegen beide Extreme die Leitidee der "ausgewogenen Doppelnutzung". Die Nutzung der Alpen durch die europäische Umgebung könne durch eine Art autozentrierte Entwicklung gebändigt werden. Der Autor sieht für die Realisierung gute Chancen im Rahmen der Alpenkonvention und ihrer Protokolle, die in diesen Jahren verabschiedet werden. Ob sich die Hoffnungen, die darin gesetzt werden, erfüllen, hängt gewiss zu einem nicht geringen Teil davon ab, ob die klugen Ideen auch mit Geld und Macht ausgestattet werden, die gegen die übermächtigen Tendenzen der Europäisierung und Globalisierung unter regionaler Kontrolle eingesetzt werden können.
Als dieses Buch in erster Auflage erschien, waren die Grünen gerade einmal vier Jahre alt. Es stellte einen mutigen Eingriff in das Verständnis des Ökologischen dar, das damals vielfach von einem absoluten, unhistorischen Naturbegriff geprägt war. Als roter Faden zog sich durch das damals im Sendler-Verlag erschienene Buch der Gedanke: die Rede von "der Natur", die zu schützen sei, verwechselt leicht Natur mit Landschaft und vergisst den Anteil des Menschen an der andauernden Verwandlung von Natur in Landschaft. Im Mittelpunkt stand schon damals das Paradigma der Bergbauernwirtschaft, welche die uns bekannte Alpenlandschaft nicht nur durch ihre Nutzung prägte, sondern die den Landschaftstypus der Almregion über Jahrhunderte stabil zu halten verstand. So definierte Nachhaltigkeit hat mit Reproduktion zu tun, und Reproduktion ist eine Weise der Produktion.
Nach zwei Jahrzehnten ist die Einsicht aktueller denn je. Ein Naturbegriff, der aus einem Gegensatz zur Menschengeschichte und zur menschlichen Arbeit konstruiert wird, ist der Ökologie nicht eben dienlich, eher allen möglichen grünen Metaphysiken. Verbindet sich doch mit Naturschutzkonzepten die Vorstellung, den Menschen aus der Natur herauszuhalten und die tradierten Nutzungen zu beenden. Manche grüne Philosophie scheint sich darauf zu reduzieren, die Quadratkilometer zu zählen, die der landwirtschaftlichen Nutzung entzogen und zu Naturschutzgebieten oder, noch besser, zu Nationalparks umgewidmet wurden. Die von Menschen genutzten Flächen tauchen durch diese Zweiteilung der Welt in das Dunkel des Verbrauchs und der Zerstörung, die der Natur zurückgegebenen ins Licht einer sich selbst heilenden Natur, die ihr welthistorisches Recht gegenüber dem Menschen endlich wiedererlangt.
In Naturschutzpolitik umgesetzt, erzeugt diese Strategie häufig das Gegenteil von dem, was sie behauptet. "Da seltene Pflanzenarten wie zum Beispiel Orchideen auf Magerrasen ein Kulturprodukt sind, verschwinden diese Orchideen, wenn man die Magerrasen unter Naturschutz stellt und die Mähnutzung einstellt. Diese Flächen verbuschen dann schnell, und die Orchideen können im Schatten der Büsche nicht mehr existieren." Die vom Menschen weitest möglich befreiten Gebiete werden zum Eldorado ökologischer Ursprungsmythen. Hier kann "Natur pur" in ihrer "ursprünglichen" Gestalt beobachtet werden, wenn auch unter der Führung von Nationalparkrangers und aus gebotener Entfernung. Haben Natur- und Menschengeschichte nur ein paar Steinhaufen übriggelassen, dann hilft eine am Geierhorst fest installierte Videokamera, die das Treiben der aus dem Innsbrucker Zoo ausgewilderten Prachtexemplare direkt in die Infozentrale des Nationalparks überträgt. Die angeblich wiederhergestellte Natur im Park liefert das Alibi dafür, dass die übrige, noch nicht geschützte Welt ruhig weiter zerstört werden kann. Denn der ökologische Umbau der ganzen Welt wurde aus den grünen Programmen vor langer Zeit gestrichen.
"Die Natur" und ihre Gesetze liefern nur scheinbar einen sicheren Anhaltspunkt für die richtige Politik. In Wahrheit, das zeigt das Alpen-Buch in immer neuen Anläufen, hat sich jede Epoche ihre Alpen geschaffen. Nun sind wir an einem Wendepunkt angekommen. Entweder die Alpen werden weiter in ein Ersatzteillager für die "postmoderne Dienstleistungsgesellschaft" verwandelt, was ihr Verschwinden besiegeln würde, oder Europa kann sich zu einer Neudefinition der Alpen entschließen, die eine ähnliche Stabilität zwischen Erwerb und Freizeit, zwischen Ökonomie und Kultur, zwischen Fremdbestimmung und Eigenregie der Alpenbewohner herzustellen erlaubt, wie es die Bergbauernwirtschaft beispielhaft über Jahrhunderte vermochte.
Dieses veritable Alpenhandbuch gehört in die Hand von Lehrern, die hier knappe Darstellungen zu allen wichtigen Aspekten der Wirtschafts- und Kulturgeographie der Alpen finden. Die Bilder aus dem Fundus des Autors, mitunter ein wenig klein reproduziert, sind derart treffend ausgesucht, dass die Leser schon bei Betrachtung des Bildes das Thema und die These des Textes erahnen können. Bewusste Berggeher kommen um dieses Buch nicht herum, damit sie noch besser sehen und verstehen, durch welche Landschaft sie wandern. Die Philosophen des Alpinismus, die in unseren Tagen wieder einmal mit ihren Schicksalsberg-Epen Furore zu machen suchen, sollten das Buch zur Ausnüchterung lesen und darüber nachzudenken beginnen, dass die Alpen nicht nur aus Gipfeln bestehen, sondern auch aus Ebenen und ihren Mühen.
Werner Bätzing: Die Alpen- Geschichte und Zukunft einer europäischen Kulturlandschaft. Verlag C.H.Beck, München 2003, 431 S., 34,90 EUR
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