Gibt es eine Aktualität des Expressionismus in der Malerei? Wer eine Antwort auf die Frage sucht, könnte auf dem Weg durch Oberbayern in Murnau Station machen und in der Ausstellung Wege des Expressiven Aufschluss suchen. Das Schlossmuseum Murnau hat sich, besonders durch sorgfältige Pflege des Erbes vom "Blauen Reiter", als Ausstellungsort weit über Oberbayern hinaus einen Namen gemacht. Nun hat die Direktorin Brigitte Salmen mit ihrem Stab die Gelegenheit ergriffen, aus den umfangreichen Beständen eines privaten süddeutschen Sammlers 45 Stücke auszustellen. Sie reichen von Kirchner und Beckmann bis zu jüngsten Werken von Lüpertz, etwa einem Gemälde aus dem Jahre 2004.
Das Projekt des Expressionismus ist einhundert Jahre alt. Denn nicht das Erscheinungsdatum des Almanachs Der blaue Reiter 1912 ist einer Datierung zugrunde zu legen, sondern der Beginn des Übergangs zu einer neuen Wahrnehmung der Realität. Dieser Umbruch setzt, in verblüffender Parallele zu Einsteins annus mirabilis 1905, in der russischen Avantgarde wie in Frankreich und Deutschland mitten im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ein. Je weiter die Künstler auf dem Weg der Abstraktion voranschreiten, desto näher gehen sie auf die Gegenstände zu.
Kandinsky treibt die Münchener-Murnauer Avantgarde ins Freie und schärft immer wieder das Malen in der Landschaft ein. Das Russenhaus in Murnau füllt sich bald mit einer Sammlung von Gegenständen der Volkskunst, angefangen bei allen möglichen Holzfiguren bis hin zu den Werken der Hinterglasmalerei, wo die Künstler den mit dem Blauen Reiter verschmelzenden Heiligen Georg finden. So werden die klassischen Genres der Landschaft und des Stillebens zu Vehikeln des Übergangs zu einer radikal neuen Weltsicht.
Es wäre ein Missverständnis, würde man Kandinskis Rede vom "inneren Klang" von Form und Farbe neumodisch esoterisch interpretieren. Die Expressionisten der ersten Stunde sind davon überzeugt, dass sie gerade durch Abstraktion der Wahrheit der Welt näherkommen. Abstraktion bedeutet nicht zuletzt, die endlosen Schnörkel wegzuräumen, welche in der hergebrachten Malerei die Fülle des Lebens eher ver- als aufdecken. Die Rekonstruktion der Grundmittel der Malerei - Punkt und Linie, Fläche und Farbe - und ihre Markierung im Bildaufbau lassen sich auch als ein Zurück-zur-Natur-der-Dinge deuten.
Von diesem Pathos können die späteren Weggefährten des Expressionismus nicht mehr selbstverständlich zehren. Ohne dass die Murnauer Ausstellung die Betrachter durch Raumtitel oder Kommentierung darauf bringen würde, zeigen sich durch die Gruppierung und die Prägnanz der Werke hindurch Entwicklungslinien des Expressiven. Eine der Linien mag die Verschlüsselung sein. Der Reiter bleibt, wie man weiß, in Kandinskis geometrischen Kompositionen abstrahiert präsent. Doch der Gitarrenspieler in Markus Lüpertz´ Bild Ohne Titel aus dem Jahre 2004 ist im so sparsamen wie wilden Pinselstrich eher verschlüsselt und will herausgelesen werden. Auch die figürlichen Chiffren von A.R. Penck treten mit dem Gestus der Verschlüsselung an den Betrachter heran.
Die große malerische Geste, die mehr auf das Malen selbst als auf einen äußeren Gegenstand deutet, präsentiert sich häufig in der Gestalt technischer Experimente. Da sind nicht nur Arnulf Rainers Übermalungen zu nennen, die hier mit zwei Werken vertreten sind; auch beeindruckt Sigmar Polkes Druckfehler von 1996 durch Raffinesse des Materials und der Effekte. Die Farbschichten auf einer großformatigen transparenten, honiggelben Kunstharzplatte führen das Auge scheinbar unendlich nahe an die aufgerasterte Fehlerstelle heran, an der, als lebendige Auswüchse des Fehlers, merkwürdige Organismen ihr Wesen treiben. Georg Baselitz bläht den Farblinolschnitt zu wandfüllender Größe auf. Seine Ährenleserin II von 1979, wie ein in der Sammlung vertretenes Frauenportrait auf dem Kopf stehend, gewinnt mit ihrem flächigen, feinen Geflecht von getreidearbenen Strichen auf erdfarbenem Grund mythische Tiefe.
Neben der Selbstdarstellung des malerischen Gestus und dem Materialexperiment spielt eben die mythische Aufladung eine hervorragende Rolle. Lüpertz und Immendorff können im Rahmen dieser Ausstellung als Exponenten dieser Linie gelten. Letzterer lässt den Blick auf gegensätzliche historische Schichten unserer Gegenwart - St.Martin als Held des sozialen Teilens, farblich kontrastiert gegen das die Menschen verschlingende Hochofenfegefeuer der kapitalistischen Fabrik - durch vulvaförmige Rahmen gleiten und lädt die Präsenz des scheinbar Vergangenen durch mehrschichtigen Bildaufbau enorm auf. Von Lüpertz sticht in dem Bild Ohne Titel von 1974 die wandfüllende Ikone einer verfremdeten männlichen Modezeichnung ins Auge, betoniert in kaltem Grau, dekoriert mit knallroten Insignien der Infantilität und des Todes: kleine Kreuze als Krawatte und ein Kinderdrachen am Hemdkragen. Ein Exemplar der gesamtdeutschen Anzüge, sollte man denken, von denen wir regiert werden.
So signalisieren die hier ausgestellten Werke andere Entfernungen von der und also andere Annäherungen an die Realität als bei den ein Stockwerk darüber im selben Museum ausgestellten Werken von Kandinski, Münter und Werefkin. Die Vielfalt der Ansätze in dieser Auswahl aus 400 Werken der Sammlung ist mit den wenigen hier vorgestellten Linien keineswegs vollständig beschrieben. Da gibt es noch viel zu entdecken, angefangen bei Max Beckmanns Selbstportrait Der Befreite von 1937, über eine Galerie von sensiblen grafischen Arbeiten von Beckmann, Janssen und Baselitz bis hin zu einer Serie von Frauenportraits mit einem Stück aus Lüpertz´ Serie Männer ohne Frauen von 1993/94.
Wege des Expressiven. Baselitz, Lüpertz, Rainer und Zeitgenossen. Einblicke in eine Privatsammlung. Noch bis zum 7. August 2004. Schlossmuseum Murnau.
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