Die Freiheiten der "neuen Schule"

Bildungsreform Es muss sich noch herausstellen, ob am Ende der Umgestaltungen eine Prüfanstalt oder ein Ort des Lernens entsteht

Nicht dass es wirklich still geworden wäre um die Schule seit dem Berliner Schulbeginn 2005. Schließlich ging das Tischerücken in den Grundschulen in Erwartung von mehr als 40.000 ABC-Schützen nicht geräuschlos vonstatten. Und die Eltern schlucken ihre Sorgen, ob es mit den Ersatzkitas unter dem Dach der Schulen klappen wird, ob wirklich genug Lehrerinnen und Lehrer da sein werden, auch nicht einfach herunter. Allerdings wird die größte Schulreform seit mehr als 30 Jahren nicht vom Schwung einer gesellschaftlichen Bewegung angetrieben: Anpassung aller Verhältnisse an das neue Schulgesetz; Schule bereits für Fünfjährige; mehr Unterricht in den 5. und 6. Klassen - und ab dem nächstem Jahr in der Oberschule -, damit das Abitur einmal in zwölf Jahren abgelegt werden kann; Vorbereitung des Mittleren Schulabschlusses, genannt "Miniabitur", am Ende der 10. Klasse; Vorbereitung des neuen Abiturs mit zentralen Aufgabenstellungen und durchweg neuen Lehrplänen in der 12. Klasse; so nebenbei wird hier eine Forderung aus den siebziger Jahren erfüllt, den situationsunabhängigen methodischen Fähigkeiten größeres Gewicht zu geben als dem Erlernen bestimmter "Inhalte". Nein, eher muss man sich wundern, dass alle diese tiefgreifenden Veränderungen im eifrigen Getriebe dahingehen, begleitet allenfalls von Geräuschen, die nach Zähneknirschen oder Tiefdurchatmen klingen.

Ökonomisierung und Verdichtung

Die Medien pflegen, mangels einer strategischen Diskussion über Bildung, einen kurzatmigen Umgang mit dem Thema nach dem Muster: vor den Ferien machen wir Stimmung, dass der Senator sich mit all den Reformen übernimmt; bricht dann nach den Ferien das Chaos nicht aus, geben wir Entwarnung. Das betrifft die Oberfläche der Reformen und somit durchaus die praktischen Interessen vieler Beteiligter. Schüler wollen wissen, mit welchen Anforderungen sie rechnen müssen. Eltern wollen Sicherheit, was die Betreuung und die Chancen ihrer Kinder angeht. Die Lehrer kämpfen, angesichts einiger unzweifelhaft positiver Ziele der Reformen, mit ihrem Überforderungsreflex, den die Politik durch jahrelange Versäumnisse intensiv gepflegt hat. Über allem steht die immer berechtigte Frage, ob der Schul- oder der Finanzsenator die Bildungspolitik bestimmt. Bildet man dieses Geflecht von Interessen und Unsicherheiten auf die große Anzahl von Reformbaustellen ab, auf denen gegenwärtig gearbeitet wird, dann scheint es kaum eine Chance zu geben, die große Linie über den tausend Einzelfragen nicht aus dem Blick zu verlieren. Womöglich gilt nicht nur für die Reformen im Bildungsbereich, dass der Wald vor lauter Bäumen verschwindet. Eine eigene Frage, ob das einer breiten Unterstützung fürs Aufforsten förderlich sein kann.

Dabei sind die großen Themen der Kritik an der Schule rasch resümiert: Seit Jahrzehnten wird der Schule Bürokratismus, Unbeweglichkeit und Weltferne vorgeworfen. Der berüchtigte PISA-Schock schien nur noch den Beweis für diese These von der Seite der Unterrichtsergebnisse her zu liefern: Leistungen und Förderstärke der deutschen Schule blieben hinter den meisten Vergleichsländern zurück. Und schließlich wird beklagt, die Abgänger von Bildungsinstitutionen seien zu alt und die frühkindlichen Lernfähigkeiten würden schlecht genutzt. Die staatliche Schulreform reagiert, koordiniert über die Kultusministerkonferenz, auf diese dreifache Kritik mit zwei strategisch angelegten Projekten: einerseits die Freisetzung der Schule vom alten Typus bürokratischer Vorschriften, ihre Umformung in eine Institution, die auf Input-Output-Reize reagiert. Und zweitens die zeitliche Vorverlagerung und Verdichtung der Schulkarrieren.

Es lohnt sich, das Puzzle der Schulreformen gedanklich diesen strategischen Linien zuzuordnen und zu prüfen, ob die Maßnahmen den Zielen dienen. Eine ganz andere Frage ist, welche gesellschaftlichen Wirkungen die Ziele langfristig auslösen werden. - Verlagerung der Horte in die Grundschulen, Frühbeginn der Fremdsprachen, Erweiterung der Stundentafel, zum Beispiel um das Fach Naturwissenschaften, in der 5. und 6. Klasse; Schnellläuferzüge an Gymnasien; Abitur in zwölf Jahren und entsprechende Verdichtung der Stundentafeln in den vorangehenden Schulstufen, - all diese bekannten Einzelprojekte lassen sich mühelos auf das zweite strategische Ziel abbilden. Wenn gleichzeitig Ganztagsschulen ausgebaut werden, zielt dies auch auf die sozialen Rahmenbedingungen und ihre bildungspolitische Interpretation: Deutschland traut den Familien immer weniger Bildungsleistung zu und verlagert sie daher in die Schule. Freundlich verpackt, lautet das Motiv: Eltern mit Kindern finden so leichter ihren Platz auf einem Arbeitsmarkt, der "Flexibilität" verlangt. Gewiss, auch die andere Deutung ist möglich: endlich sind sich Konservative und Sozialdemokraten einig in dem Ziel, die Fähigkeit der Schule zu nutzen, soziale Unterschiede auszugleichen.

Die unsichtbare Hand des Bildungsmarktes

An diese Überlegung schließen zwei Fragen an. Die eine betrifft den Zielkonflikt der Bildungsbeschleunigung. Wer immer das Lerntempo erhöht, wird die soziale Differenzierung der Lernenden im Ergebnis vertiefen, es sei denn, dies wird durch außerordentliche Förderangebote in kleinen Lerngruppen mit intensiver Betreuung kompensiert. Schaut man sich die Größe der Berliner ersten Klassen im Jahr 2005 an und bedenkt man die Entwicklung des Berliner Haushalts, so sind massive Zweifel daran berechtigt, ob die finanziellen und personellen Voraussetzungen fürs "Fördern" bei schärferem "Fordern" gegeben sind.

Die andere Frage, ob es langfristig wünschenswert, menschlich und dienlich ist, Kinder als "Bildungsressource" zu betrachten und einen immer größeren Teil der Kindheit zu verschulen, wird in einer Gesellschaft kaum diskutiert, die es sich nicht erlaubt, Begriffe wie Modernität, Effektivität und Wirtschaftlichkeit auch kritisch zu betrachten. Die Lehrer, die heute Fünfjährige betreuen, sollten sich für die nächste Skandalkampagne von Medien und Politik zum Thema "Gewalt an Schulen" - und die kommt bestimmt - die Frage notieren, ob sie als Ersatzeltern aus- oder fortgebildet wurden. Die schulwütige Gesellschaft vergisst, sich die Frage zu stellen, ob die Schule - will sie erfolgreich sein - nicht ihrerseits auf moralische und charakterliche "Ressourcen" zurückgreifen können muss, die sie nicht selbst erzeugen kann.

Die zweite große Linie der Schulreform, neben der Beschleunigung, lässt sich als Annäherung der Institution Schule an die Charakteristik eines Unternehmens beschreiben. Damit sind eine ganze Reihe von Freiheiten verbunden, die von Lehrern, von Direktoren zumal, lange gefordert wurden. Die Lehrer können stärker als bisher bestimmen, was sie unterrichten und wie. Sogar die Verwendung von Schulstunden für bestimmte Fächer wird in der Hand der Schulen liegen. In Zukunft wird man sagen können: Das ist die Schule, an der den 13-Jährigen eine Stunde mehr Deutsch gegeben wird, während eine andere Schule den Schwerpunkt auf Mathematik und Naturwissenschaften legt. Profilbildung, Unverwechselbarkeit der Angebote und der pädagogischen Methoden, das wird die Schulen stärker als bisher kennzeichnen. Zu diesem Zweck können Schulen mit dem Geld freier umgehen. Sei es, dass sie einen Teil des festen Personals gegen flexibel einsetzbare Honorarmittel tauschen, sei es, dass sie Geld von einem Jahr in das nächste transferieren.

Begeben sich Schulen auf den Bildungsmarkt, so können sie, sollte man denken, auch scheitern. Die "unsichtbare Hand" des Marktes garantiert zwar angeblich eine Verteilung von Gütern und Ressourcen, keineswegs aber den Bestand des Einzelunternehmens. Nun, so weit treibt es die Schulreform, abgesehen vom "Abbau Ost", mit der Kommerzialisierung der Bildung nicht. Den erweiterten Freiheiten der Schulen entspricht vielmehr ein engeres Netz von Kontrollen. Das lässt sich am Sinn der sogenannten Bildungsstandards erläutern, welche die Lehrpläne landesweit regieren. Ein Bildungsstandard definiert für eine Altersstufe und ein Fach eine Fähigkeit, die nachprüfbar erworben wurde. Etwas übertrieben könnte gesagt werden: Der Gesellschaft ist egal, wie die Schule das erreicht, dass sie es erreicht, daran wird sie gemessen (Output-Orientierung). Daher müssen sich die Schulen etlichen Überprüfungen (Evaluationen) öffnen, die eben feststellen, in welchem Maße die Schüler dieser Schule den Standards genügen.

Bisher entsteht der Eindruck, dass hier, im Namen der Entbürokratisierung, an anderer Stelle als bisher ein enormer bürokratischer Aufwand entsteht. Für Tausende von Schülern der 10., zukünftig auch der 9. Klassen werden in drei Prüfungsfächern Noten mit vielen Teilnoten an die Schulbehörde weitergegeben, damit die Vergleichbarkeit der Leistungen geprüft werden kann. Vielleicht wird der Aufwand durch Vereinfachung des Verfahrens in Zukunft geringer, vielleicht spielt sich die Sache ein. Hoffentlich wird der enorme Aufwand für die Lehrer in Zukunft auch dadurch einsichtiger, dass sie eine statistische Auswertung der Ergebnisse für ihre eigene Schule zeitnah erhalten, um Konsequenzen für den Unterricht des folgenden Schuljahres ziehen können. Allerdings lassen die angekündigten Inspektoren, die demnächst die Schulen zum Zwecke der Qualitätskontrolle besuchen werden, ins Bücherregal greifen und Gogols Revisor zur vergleichenden Lektüre herausziehen.

Prüfungsschule oder Lernschule?

So wird die "neue Schule", wie sie auf den Fluren der Schulverwaltung schon mal genannt wird, nicht nur eine Lernschule, sondern vorrangig eine Prüfungsschule sein. An großen Oberschulen wird das zweite Halbjahr durch die Prüfungen von, sagen wir, 200 bis 300 Schülern geprägt sein, und zwar jeweils schriftliche und mündliche Prüfungen der Abschlussjahrgänge. Die Anzahl der mündlichen Prüfungen wird sich ab dem nächsten Schuljahr schlicht verdoppeln. Sechs, sieben volle Prüfungstage à acht Stunden können da schon zusammenkommen, oder eine entsprechende höhere Anzahl von halben Tagen, sofern nicht dauernd der Unterricht für die übrige Schule ausfallen soll. Was macht aber in diesem zweiten Halbjahr die neue Lernschule, die durch selbstbestimmtes Lernen der Schülerinnen und Schüler, durch Projektunterricht, thematische und methodische Variation gekennzeichnet sein soll? Die neue Schule soll nach innen freier werden, nach außen berechenbarer. Der Steuerzahler wird freudig zustimmen, und nicht nur er. Doch ist die alte Frage nach der Messbarkeit von Bildung und Erziehung wirklich neu beantwortet worden? Wird es bei der Vergleichbarkeit bleiben? Oder wird sich Angleichung einstellen?

So könnte es der Schule doch gehen wie den Teilnehmern des "freien Marktes": wie verschieden doch die Automarken sind, wie enorm die Wahlfreiheit der Käufer - und wie rasch sie alle die Fließhecks und Spoiler und den andern Schnickschnack kopiert haben, bis man die Modelle nur noch aus drei Metern Entfernung unterscheiden kann! - Womöglich sind in die "neue Schule" weitere Zielkonflikte eingebaut, auf deren Lösung - würden sie überhaupt öffentlich bemerkt werden - man gespannt sein könnte. Die Verantwortlichkeit der Schule, immer noch eine Behörde, gegenüber der Gesellschaft soll gesteigert werden. Die Koordinaten ihrer Konstruktion als Institution verschieben sich nach dem neuen Berliner Schulgesetz nachhaltig. Als wichtigste Veränderung ist hier zu nennen, dass die Gesamtkonferenz der Lehrer, bisher das entscheidende Mitbestimmungs- und Kollegialgremium für die Direktion, entmachtet wurde gegenüber der Schulkonferenz, in der die anderen beteiligten Gruppen, Schüler und insbesondere Eltern, vertreten sind. Die Mitbestimmung über den auf Zeit bestellten Direktor, die Entscheidung über das Programm einer Schule, ihr pädagogischer Grundriss, liegt jetzt bei diesem Gremium, in dem die Lehrer eine Minderheit bilden.

Auch hier werden viele sagen: na, endlich! Endlich Schluss mit der Selbstherrlichkeit der Pauker. Noch ist es zu früh für eine Bilanz. Doch darf diese Grundkonstruktion wohl auf ihre Stimmigkeit hin befragt werden. Dieselbe Politik rechnet mit einem gesellschaftsweit geringeren Engagement der Eltern für die Bildung ihrer Kinder und zieht einen größeren Teil der Kindheit unter das Dach der Schule, welche andererseits den Eltern ein wachsendes Engagement in der Bestimmung über die Geschicke der Schulen zutraut und zumutet. Dieselbe Politik versetzt, analog zur übergreifenden Reform staatlicher Verwaltungen, die Schule in den Status eines dienstleistenden Unternehmens und somit die Eltern in die Rolle von Kunden, von denen andererseits die Rolle von Mitverantwortlichen und Mitbestimmenden erwartet wird. Wie soll die Schule die unvermeidlichen Rollenkonflikte verarbeiten? Ist es nicht heute schon so, dass Eltern gegenüber der Schule in erster Linie, wie es ihnen die verbreitete "Philosophie" der Vermischung von Staat und Wirtschaftsbetrieb tagtäglich nahelegt, als Fordernde auftreten und nicht als Mitverantwortliche? Und umgekehrt, - tragen nicht die Lehrer dieser Generation die Hauptlast des tiefgreifenden Umbaus der Schule? Ist es angesichts dessen klug, sachdienlich und anständig, ihren Einfluss auf die Gestaltung ihres Arbeitsplatzes zu schmälern?

Die Öffentlichkeit ist vergesslich. Sie hat auch schon vergessen, dass den Berliner Lehrern vor wenigen Jahren zwei zusätzliche Stunden aufgebrummt wurden mit der Aussicht, diesen Beschluss wieder zurückzunehmen, wenn es die politische Lage erlaubt. Kein Mensch redet mehr davon. Stattdessen wird die Personalausstattung der Schulen wieder so eng geschnürt, dass von den berühmten finnischen Verhältnissen einer Förderschule aufs Ganze gesehen nicht gesprochen werden kann. Viele Hunderte von Lehrerinnen und Lehrern haben sich in den vergangenen Jahren durch Fortbildung in neuen Lehrmethoden auf die "neue Schule" eingestellt. Nun wollen sie auch Arbeitsbedingungen vorfinden, in denen sie und die Schüler die Früchte ernten können, statt sich in Vertretungsunterricht und Springerdiensten zu verschleißen. Alle wissen doch, dass eine gute Schule immer noch in erster Linie von den Lehrer abhängt.


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