Wer würde bestreiten, dass sich Caspar David Friedrich seine Landschaften suchte, dass Elbsandsteingebirge und Rügen demnach zu seinem künstlerischen Anliegen in besonderer Weise passten? Es könnte sogar davon gesprochen werden, dass seine »typischen« Landschaften die Grundlage dafür bildeten, dass Friedrich die Wesenszüge seiner Malerei erst richtig ausbilden und ans Tageslicht bringen konnte. Das Recht auf eine landschaftliche Natureinbettung, das beispielsweise einem romantischen oder realistischen Maler ohne Frage zugestanden wird, kann ein Abstrakter nicht so ohne weiteres für sich beanspruchen. Hat er sich, ganz Kopf- und Schreibtischtäter, gar selbst heimatlos gemacht durch die sträfliche Absehung von den liebenswerten, konkreten Gestalten? Wähnt sich, Gegenfrage, manche kunsthistorische Betrachtungsweise zu Recht haushoch über dem Stammtisch, wenn sie in der expressionistischen Avantgarde nur Geist und Tiefsinn raunen hört?
Dieser Frage soll hier einmal am Beispiel des »Blauen Reiter« und dessen speziellem Verhältnis zu seinem Geburtsort, zur oberbayerischen Landschaft um Murnau und Kochel nachgegangen werden. Schließlich zeichnen sich Marc, Kandinskij oder Münter nicht nur durch Höchstpreise auf dem internationalen Kunstmarkt aus, sondern auch durch nicht abreißende Aufmerksamkeit im Ausstellungsbetrieb: Neunzig Jahre nach Erscheinen des berühmten Almanachs Der Blaue Reiter und vierzig Jahre nach dem Tod von Gabriele Münter wurde im vergangenen Jahr Marianne Werefkin mit ihren in Ascona aufbewahrten Murnauer Skizzenbüchern als das heimliche geistige Oberhaupt der Gruppe enttarnt; an Heinrich Campendonk erinnerte nicht nur sein zeitweiliger Wohnort Penzberg, sondern auch eine Ausstellung der »Rheinischen Expressionisten«, zu denen er gemeinsam mit August Macke die Verbindung darstellte.
Die atemberaubend schnelle Entwicklung schlägt das Auge, wie bei allen Revolutionen dieser Art. Kandinskij, Münter und andere kommen 1906 als Spätimpressionisten nach Murnau und malen Monate später Bilder reinsten expressionistischen Wassers. Gewiss, es lag etwas in der Luft, der Umbruch war durch Van Gogh, den alle hoch verehrten, und Cèzanne vorbereitet; Frankreichreisen waren obligatorisch. Nicht nur in Deutschland, auch etwa in Russland brennen die avantgardistischen Künstlerzirkel darauf, der akademischen Malerei, aber auch den halbherzigen Sezessionisten mit Krach den Rücken zu kehren. Und doch geschieht beim Übergang zur sogenannten »abstrakten« Malerei in Oberbayern etwas Besonderes, das augenscheinlich nicht zuletzt mit Ort und Landschaft etwas zu tun hat.
Entgegen allem, was volkstümlich unter den Abstrakten verstanden - oder missverstanden - wird, treibt Kandinskij seine Malschülerlnnen in die freie Natur. Das Malen nach der Natur war das A und O. Die Münter berichtet die Anekdote, er habe bei dem Aufenthalt in Kochel 1902 Trillerpfeifen verteilt, um die Schülerinnen zur Korrektur im Gelände abklappern zu können. Noch entstehen die Bilder, etwa Kandinskijs vom Kochelsee, im Schlepptau der großen Vorbilder des 19. Jahrhunderts. Doch in den darauffolgenden Jahren, sicher ab 1905, greifen die Entwicklung neuer Bild- und Malkonzepte und die stets erneute Rückkehr in die Gegend von Kochel und Murnau ganz offensichtlich ineinander, als verfolgten die neuen »Wilden« damit eine Strategie. Gewiss, dass Münchener Maler aufs Land zogen, war nicht neu, eine künstlerische Notwendigkeit und eine gesellschaftliche Usance. Die Murnauer Villa des oberbayerischen Stararchitekten Gabriel von Seidl bildet einen Treffpunkt der Münchener Higher Society. Doch was die »Blauen Reiter« treibt und was sie dort treiben, hat damit wenig zu tun.
Absolut aufregend zu beobachten, wie, etwa bei der Münter, in den entscheidenden Jahren 1908/09 Monat um Monat, Bild um Bild die eben noch bewegten Pinselstriche zu Flächen zusammenschießen, welche durch die nun nebeneinander gesetzten Farben entstehen und ihre Wirkung entfalten. Betrachtet man die verschiedenen Versionen des »Blauen Sees«, so drängt sich förmlich der Gedanke auf, dass die besondere Charakteristik der Voralpenlandschaft um Murnau mit ihrem scharfen Gegensatz von flachem Murnauer Moos und dahinter jäh aufragenden Bergen, mit dem für den häufigen Föhn typischen klaren Licht, das die Landschaftskonturen scharf hervortreten lässt, und andererseits mit dem für die Gebirgskante typischen Dunst, der dafür sorgt, dass die Bergflanken bei steilem Einfall des Sonnenlichts zu großen Flächen einheitlicher Färbung verschwimmen, - dass diese Besonderheiten des Ortes eben doch dem künstlerischen Unterfangen, mit dem sich die Bewohner des »Russenhauses« und ihre Verbündeten trugen, auf glückliche Weise entgegenkamen.
Auch wenn dies immer wieder bestritten und zu Recht darauf verwiesen wird, dass mehrere Umstände zu jenem revolutionären Umbruch geführt haben, der sich mit dem Namen des »Blauen Reiter« verbindet, so ist doch unstrittig, dass Künstler ihre Gegenstände suchen und dass die Wahl der Gegenstände und somit die Wahl eines Ortes mit seiner Eignung für die Durchführung des ästhetischen »Programms« zu tun haben. Lässt sich doch die These vom Genius loci noch auf andere Weise belegen. Kandinskij bringt den Reiter aus der russischen Volksmythologie mit, die Farbe Blau steuert Franz Marc bei. Die Verwandlung des Kosaken in einen Heiligen Sankt Georg, der in geistigem Tiefblau den Drachen des flachen Materialismus besiegen soll, gelingt leicht. Uberhaupt kein Zufall, wie die Lektüre des Almanach von 1912 zeigt, dass sich Münter der bayerischen Hinterglasmalerei zuwendet. »Unfaßbare Ideen äußern sich in faßbaren Formen.«, schreibt August Macke in seinem Beitrag Die Masken. Hier figurieren die Werke der Volkskunst ausdrücklich gleichrangig neben den Werken der Künstlervereinigung und ihrer französischen und russischen Zeugen. In der Volkskunst finden Münter und andere jene Reduktion aufs Wesentliche vorgebildet, zu der sie in ihrer besonderen historisch-künstlerischen Lage vorstoßen wollen. Sie streben, wie Kandinskij in seinem Beitrag ausführt, nicht Abstraktion um der Abstraktion willen an, sondern vielmehr ein neues Verhältnis von Realität und künstlerischer Darstellung. ,,Das zum Minimum gebrachte Gegenständliche muss in der Abstraktion als das am stärksten wirkende Reale erkannt werden.«, so dass letztlich gelten soll: ,,Realistik = Abstraktion, Abstraktion = Realistik«.
Die »Blauen Reiter« befinden sich in guter Gesellschaft. Nicht nur dass ihr Aufbruch bewusst Verbindung und Vergleich sucht mit den anderen Gruppen in Deutschland und Europa, etwa mit der »Brücke«, sie verfolgen zudem Methoden, die auch in anderen Kunstgattungen Anwendung finden. Bela Bartók, um nur ein Beispiel zu nennen, arbeitet sich am Vorabend des Ersten Weltkriegs durch die verschiedenen nationalen Volksmusiken auf ungarischem Boden hindurch, nicht etwa, um einer im Vorkriegsgetümmel modischen Volkstümelei auch nur entfernt Vorschub zu leisten, nein, vielmehr und ganz anders gesinnt, um die Suche nach neuen Elementar-Bausteinen der Kunst auf unerhörte Weise zu bereichern. Die Materialfrage wird entscheidend, das gilt für Werefkins aus Italien mitgebrachte Farben ebenso wie für Bartóks Volkstöne und Münters Motive aus der bayerischen Hinterglasmalerei.
Natürlich bringt sich, wer im Volksgut gräbt, sogleich in den Verdacht, sich an den Abgründen zu bewegen, welche Deutschland, nicht zuletzt die Kunst, zweimal verschlang. Und in der Tat: Liegt die Sprache der Avantgarde mit all ihrem »Geistigen in der Kunst«, mit der Beschwörung der Mystik, mit ihrer Erleuchtungsrhetorik nicht gefährlich im Trend, der auf den großen Krieg zusteuert? Womit zündelt Macke, wenn er, auf der Suche nach »starken Äußerungen starken Lebens«, formuliert: »Der Privatgelehrte steht als Soldat neben dem Bauernsohn. Beiden fährt der Parademarsch gleichmäßig durch die Glieder, ob sie wollen oder nicht«? Wie weit ist es da noch zu Rilkes unsäglichen Zeilen im August 1914, wo es heißt: »Menschlich hebt sich das Feld ins Menschengewitter«? Wissen wir doch von der Begeisterung für den Krieg, die so viele erfasste, darunter Marc und Macke - nur Campendonk und Klee werden sich entschieden abwenden und durch den Tod der Freunde Macke (1914) und Marc (1916) schockartig Recht behalten. Ist nicht, die Linie fortgesponnen, der Avantgarde gerade in den letzten Jahren immer wieder ihre, fahrlässige oder tragische, Nähe zu den Völkischen vorgerechnet worden, welche jene doch längst symbolisch, später handgreiflich auf den Scheiterhaufen warfen?
Und doch hat die beschriebene und unzweifelhafte Bodenhaftung der neuen Kunst des »Blauen Reiter« mit »Blut und Boden« nichts, aber auch gar nichts gemein. Zu tun hat sie mit dem revolutionären Impetus der Zeit, der sich nicht nur in einem »An alle!«, sondern auch in einem »Von allen« artikuliert. Die Sprache der Avantgarde mag dies vielfach verstellen. Ob nicht beispielsweise die Begriffe, wie sie Kandinskij verwendet, jene Rede vom »inneren Klang«, von der »inneren Notwendigkeit« des künstlerischen Ausdrucks, die metaphysische Vorstellung von Innen und Außen, von Geist und Materie, als Anleihen beim 19. Jahrhundert vom ästhetischen Programm unterschieden werden müssen? Dafür sprechen Passagen in Kandinskijs Beitrag zum Almanach, wo er, in verblüffender Parallele zu de Saussures Sprachphilosophie, die Funktionsweise des Buchstabens als Illustration für die künstlerische Formproblematik heranzieht: wie sich die Bedeutung der dinglichen Buchstabengestalt für den Leser mit dem von ihm Bezeichneten verbinde, so müsse sich die künstlerische Form (Farbe, Linie) aus der »inneren Notwendigkeit« ihres »Ausdrucks« ergeben. Und unter «Ausdruck« verstehen die »Blauen Reiter« offenbar vielfach etwas, das mit den zweckfreien Momenten des Alltags mehr zu tun hat als mit metaphysischem Tiefsinn. Kandinskij schreibt in seiner parallel zum Almanach erscheinenden Schrift: »Eine einfache gemeinsame Arbeit (z.B. die Vorbereitung zur Hebung eines großen Gewichts) wirkt, wenn das Ziel unbekannt ist, so bedeutungsvoll, so geheimnisvoll, so dramatisch und packend, dass man unwillkürlich stehen bleibt, wie vor einer Vision...« Wahrhaftig, was für ein starker Eindruck, wenn sich z.B. jemand anschickt, eine schwere Last zu schultern! Nicht aus der Dachstube des Künstlers, sondern aus dem Leben, aus dem Alltag der Menschen stammt das Material, auf das sich die neue Kunst stützen soll. Es muss nur aus dem Gespinst von hergebrachten, von künstlichen und schulmäßigen Sichtweisen befreit und neu komponiert werden, damit das Wesentliche daran sichtbar werden kann. Für eine neue Synthese, für eine »Grammatik« der Malerei, so Kandinskij, sei die Zeit allerdings noch nicht reif.
Die Sprache der Manifeste mag ausdrucksästhetisch sein, die von ihr angezielte Praxis zeigt Umrisse einer Materialästhetik. So gibt es mindestens zwei Lesarten des expressionistischen Weltbezugs. Die eine nimmt ihren Jargon auf böswillige Weise wörtlich und sieht bei den volkstümlichen Ikonen, die, von Münter und Kandinskij gesammelt, auf dem Bord überm Esstisch stehen, das Völkische wabern und hört bei der Rede vom »Geistigen« die hilflose Metaphysik, welche durch die Gewalt des imperialistischen Krieges desavouiert wird. Die andere jedoch, die gutwillige, unterscheidet den Diskurs von den Wörtern und sucht ersteren in der künstlerischen Praxis auf, welche das Inventar der Dinge neu zu erstellen sich anschickt. Dazu müssen sie unter Schmerzen aus den alten Bezügen herausgelöst, gesammelt und neu komponiert werden. Dabei geschehen allerdings unheimliche Dinge. Die Tiere Franz Marcs sind unheimlich, unheimlich unschuldig oder unheimlich martialisch. Herausgelöst aus dem religiösen Kitsch wird die Gewalt der Tiermythologie, das Animalische im Menschen, eher zugespitzt als neutralisiert. Dagegen mögen Münters »Strahdrischen«, die Heuhaufen im Murnauer Moos naiv, zu naiv erscheinen.
Es gibt keine Sicherheit auf dem Pfad zur ästhetischen Neuschöpfung der umgebenden Welt. Mystizismus und Kitsch bleiben kaum zu vertreibende Weggefährten der »Blauen Reiter«. Zu welchem Sinn die aus der Welt der akademischen Malerei und aus den Sedimenten volkstümlicher religiöser Kunst herausgelösten Motive und Formen neu »komponiert« oder »synthetisiert« werden, hing nicht von den Künstlern allein ab. Wer antwortete damals auf sie, wer rang mit ihnen um ihre künstlerische Sicht auf Landschaft, Mensch und Volk? Welche geistigen oder politischen Strömungen standen als Korrespondenten bereit, um einem immer riskanten Experiment gesellschaftliche Verankerung und orientierendes Echo zu geben? Dem Almanach von 1912 sollten weitere Ausgaben folgen. Kandinskij und Marc dachten an einen großen, die verschiedenen Künste umfassenden Aufbruch. Enttäuscht lassen die Herausgeber von ihrem Plan ab, nicht nur weil der Krieg dazwischenkam, sondern weil das Echo der Gesellschaft bei weitem ihren Erwartungen nicht entsprach. Bis heute steht der von Franz Marc so gewiß erhoffte Tag aus, »... wo wir unseren Ideen auf der Landstraße begegnen.«
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