Gewalt erzeugt Gegengewalt, heißt es. Die Gewalt, von Jugendlichen gegen Andere ausgeübt, ruft die Idee einer gewaltsamen Zurichtung auf den Plan. Andere bemerken allerdings auch, dass jener Gewalt bereits Gewalt vorausging, häufig die der Eltern, was die alte Weisheit in Erinnerung ruft, dass zunächst die Erzieher erzogen werden müssten. Da das Spiel um mehr oder weniger gewaltsame Bekämpfung der Jugendgewalt zwischen den politischen Parteien gespielt wird, ist zu fragen, was die Politik mit jener Gewalt zu tun hat.
Die Politik allerdings setzt, wie meistens, auf die Vergesslichkeit des Publikums. Hoffentlich sind die Täter Migranten, nicht wahr, dann kann ja die CDU die Malaise auf die angeblichen Multikulti-Illusionen von Rot-Grün zurückführen und vergessen machen, dass ab und zu so richtig deutsche Jungs Menschen einfach totschlagen. Die Wissenschaft flankiert in diesen Tagen mit Zahlen über Kinderarmut in Deutschland und behandelt diese im Zeithorizont seit dem Jahr 2000 - und was war davor? Die SPD kann ihre Mitverantwortung hinter der "Entlarvung" der CDU-Vorschläge als Wahlkampfgetöse verstecken.
Gegen all diese Flachheiten und vor allem gegen die gewollte Amnesie ist daran zu erinnern, dass die systematische Zerstörung von Familien, zumindest eine billigende Inkaufnahme dieses gesellschaftlichen Effekts, auf das Jahr 1982 zu datieren ist. Denn in diesem Jahr kam in Deutschland, damals Westdeutschland, zum ersten Mal eine Regierung mit einem explizit neokonservativen Programm an die Macht. Erinnert man sich noch an den Wahlkampf von Franz Josef Strauß im Jahre 1980, als dieser das soziale Netz der Bundesrepublik als "Hängematte für Faule" verhöhnte? Kohl war nicht Strauß, aber Kohl gehörte in eine Reihe mit Thatcher und Reagan. Zwar haben ihm die Hardliner der Union nie verziehen, dass er das neokonservative Programm nicht konsequent durchgeführt hat, weil er, in sozialen Fragen von der SPD bedrängt, befürchtete, die CDU auf eine 30-Prozent-Partei herunterkommen zu lassen. Doch darüber darf nicht vergessen werden, dass sich die deutsche Politik eben in der Ära Kohl daran gewöhnte, mit einer Sockelarbeitslosigkeit von zehn Prozent zu leben und nur noch für eine "Zweidrittelgesellschaft" da zu sein.
Die Ökonomen melden, die Verteilung des Reichtums, gemessen am sogenannten Gini-Koeffizienten, nähere sich in Deutschland US-amerikanischen Verhältnissen an. So könnte das Programm des Neokonservatismus in Deutschland zusammengefasst werden. Die deutsche Gesellschaft, im Kalten Krieg zum Konsummonster am "Eisernen Vorhang" hochgemästet, sollte endlich auf kapitalistisches Normalmaß einer "stratifizierten", also einer offenen Klassengesellschaft zurückgestuft werden. Rückzug des Staates aus sozialen und ökonomischen Verantwortungen, Privatisierung, Ausdehnung von Marktmechanismen auf möglichst viele gesellschaftliche Bereiche, plus starker Staat in den administrativen und polizeilichen Bereichen, um die Folgen des härteren sozialen Klimas "abfedern" zu können - das war und das ist das neokonservative Programm.
Nur Ignoranten können leugnen, dass, bei aller sozialkonservativen Abmilderung, dieses Programm bereits in den achtziger Jahren, also noch vor der Deutschen Einheit, gravierende Verwerfungen in der deutschen Nachkriegsgesellschaft hervorrief. Das Hohelied auf die Privatinitiative, auf die sozialen Siegertypen führt immer den Subtext mit sich, dass es auch Verlierer geben muss, was demnach billigend in Kauf zu nehmen sei. Eine Politik, die fast zwei Jahrzehnte lang damit lebt, dass Jahr um Jahr Hunderttausende von Eltern als langzeitarbeitslose Versager dastehen, hat sich nicht wundern müssen, dass der Vater eines Schlägers, in die Schule bestellt, den Lehrern die Auskunft gibt, sein Sohn habe ganz Recht, sich nichts gefallen zu lassen - schade, dass er dem Andern nicht noch eine in die Fresse gehauen hat! Langsam - nur nicht ins billige Argument flüchten: In der Tat werden, wenn es beruhigt, nicht alle gebeutelten Väter so, aber dass unter den Gebeutelten welche so werden, ist absolut gewiss.
Spätestens an dieser Stelle grummelt es im größtkoalitionären Leserbauch: Neokonservatismus, schon wieder dieses Schlagwort! Es ging doch in Deutschland um ganz andere Probleme: fit werden für den Weltmarkt (für die CDU/FDP), vom Globalisierungsverlierer zum Globalisierungsgewinner (für die SPD), Runterfahren der Staatsverschuldung zugunsten unserer Kinder (für die Grünen) - das sind die Themen! Schon wahr, so fein kann das auch umschrieben werden, was seit einem Vierteljahrhundert läuft. Nur dann muss die andere Seite, der Reformabfall, die berühmten Späne, die beim Hobeln fallen, mit in den Diskurs. Sollen sie eben sagen: Leute, wir bringen ein Drittel nach vorn, ein Drittel so lala, und ein Drittel springt über die Klinge. Oder, frei nach Herzog: Wo es einen Ruck gibt, da reißt auch einmal etwas.
Wenn heute von sozialen Verwerfungen und Gewalt gesprochen wird, dann ist von Hartz IV die Rede. Nein, die Geschichte reicht eben viel weiter zurück. Ihr Fortgang ist rasch erzählt. Helmut Kohl kam die Deutsche Einheit zur Hilfe, um das neokonservative Programm ein Stück weiter voranzutreiben. Die Thatcherisierung Deutschlands hat er jedoch aus Sicht der interessierten Kreise so weit hinausgezögert, dass - List der Geschichte - der härteste Schlag gegen den Sozialstaat seinen politischen Gegnern überlassen blieb. So konnte der Dicke nicht nur das Geheimnis des Schwarzen Koffers bewahren, sondern auch noch sein Image als guter Onkel der Deutschen. In Deutschland haben oft die Roten den Schwarzen Peter.
Gerade deswegen aber, weil sie sich zu den Vollendern des neokonservativen Programms in Deutschland gemacht haben, sollten die Sozialdemokraten den Mund angesichts der CDU-Vorschläge zur Verschärfung des Jugendstrafrechts nicht zu voll nehmen. Gilt doch für sie dasselbe wie für jede andere politische Richtung: sie wird gemessen an ihrem Willen und ihrer Fähigkeit, die Ursachen der Gewalt zu bekämpfen und den Gewaltbereiten alternative Verhaltensformen anzubieten. Wer bei den Ursachen der Gewalt eifrig mitmischt und bei den Folgen wegsieht, ist auch nicht viel besser. Vor allem aber müssen alle sich einer Therapie unterziehen, und Therapie heißt: in die Tiefen der eigenen Geschichte zurückgehen und die Augen vor den selbstverschuldeten Katastrophen nicht länger verschließen. Die neokonservative Normalisierung Deutschlands ist die gemeinsame Geschichte aller etablierten Parteien, einschließlich der Grünen. Den Jüngeren die Geschichte nicht ganz zu erzählen, sondern immer nur den für einen selbst genehmen Teil, tut auch Gewalt an - mindestens der Geschichte.
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