Schulreform In Berlin lösen mit dem Schuljahr 2010/11 die Sekundarschule und das Gymnasium die Gesamtschule ab. „Alles unter einem Dach“ – das war einmal
In den parlamentarischen Gremien Berlins wird derzeit über einen neuen Schultyp debattiert: die neue integrierte Sekundarschule. Geht in dieser Schulform die Integrierte Gesamtschule unter – oder auf? Tatsache ist, dass es die gerade im Pionierland (West-)Berlin seit den späten sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts recht verbreitete Schulform ab dem Schuljahr 2010/11 nicht mehr geben wird. Der Fluss der Abschiedstränen scheint schmal zu werden, weil die neue Schule schon dem Namen nach, so integriert, wie sie genannt wird, die gute alte Gesamtschule zu beerben scheint. Tatsächlich werden Haupt- und Realschule in der Sekundarschule vereint sein, nicht dagegen das Gymnasium. Aber wenn eine ehemalige Gesamt- und zukünftige Sekundarschule über eine gymna
mnasiale Oberstufe verfügt, dann sind doch wieder alle drei Schularten unter einem Dach. Alles in Ordnung?April, AprilEs ist, wie immer bei solchen Strukturveränderungen: die Öffentlichkeit und die Geschichte werden nur das Resultat vermerken, über die Schlichen und Intrigen unterwegs wird der Mantel versöhnlichen Schweigens fallen. Eine Sache für den Chronisten. Lassen wir diesen für einen Moment gewähren. In den vergangenen Jahren wurden neue Lehrpläne für die 5. und 6. Klassen der Grundschule, für die 7. bis 10. Klassen gleichermaßen des Gymnasiums und der Gesamtschule entwickelt mit dem Ziel, den Stoff der 11. Klassen nach unten umzuverteilen, damit jede und jeder die Chance haben sollte, den Weg zum Abitur auch in zwölf Jahren zu absolvieren. Natürlich wurden auch die deutschlandweit vorgesehenen Stunden, die ein Abitur zur Vorbereitung verlangt, auf die Klassen 5 bis 10 verteilt. Das schien den Sinn zu erfüllen, dass sich ja erst nach der zehnten Klasse, also nach bestandenem mittleren Schulabschluss herausstellt, wohin die Reise geht: Berufsausbildung, Fachoberschule, Abitur in 12 oder in 13 Jahren? Alle könnten auf diese Weise die gleichen Chancen haben, auch das höchste Ziel zu erreichen.Ja, so musste man denken. Doch nein – April, April. Nachdem dieser langjährige Prozess der Unterrichtsreform – verknüpft mit der Einführung des mittleren Schulabschlusses und eines reformierten Abiturs – abgeschlossen ist, fällt der Berliner Politik ein, dass von den vielen Schülerinnen und Schülern der Gesamtschulen sowie der ehemaligen Haupt- und Realschulen vielleicht doch nur ein geringer Teil den beschleunigten Gang zum Abitur einschlagen wird. Was für eine Verschwendung, auch sie, wie die Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums, in den Genuss der zusätzlichen Stunden in der 7. bis 10. Klasse kommen zu lassen! Wie kann das bei allgemein knappen Kassen gerechtfertigt werden, Tausenden von Schülern, die vielleicht den Schnellläufergymnasiasten später einmal den Kopf frisieren, über vier Jahre zwei Stunden zusätzlich zu erteilen, wo sie diese doch gar nicht brauchen?Also sieht die Stundentafel der neuen Sekundarschule systematisch zwei Wochenstunden weniger vor als die Stundentafel der Gymnasien. Was würden wir von einem Bauern denken, der nur einen von drei Hektar Land düngt, weil ja nicht aus jeder Pflanze die beste, womöglich zum Export bestimmte Kartoffel wird? Aber woher weiß er denn, wo die krumpeligen, die Proletenkartoffeln, herauskommen, und wo die feinen, die Gymnasialkartoffeln?Die Berliner Schulpolitik weiß das. So sind für drei Naturwissenschaften, Biologie, Chemie und Physik, in der neuen integrierten Schule über vier Jahre drei Stunden vorgesehen, das Gymnasium geht in den Klassen 7 und 8 mit vier Stunden heran und erreicht in den Klassen 9 und 10 die heute übliche Ausstattung von sechs Stunden, also zwei Stunden für jede der drei Naturwissenschaften. Berlins Schulen suchen händeringend Physiklehrer. Deutschland fällt – so wird landauf, landab geklagt – in Naturwissenschaft und Technik auf einen hinteren Platz in der Welt zurück. Sollen Biologie, Chemie und Physik an der zukünftigen Sekundarschule zu Einstundenfächern werden? Oder sollen die drei Fächer über vier Jahre verteilt einander periodisch Platz machen, um nach einer Lücke des Vergessens wieder aufzutauchen? Welche Chance haben derart in Naturwissenschaften halbgebildete Schüler und Schülerinnen, in der gymnasialen Oberstufe einen Leistungskurs Chemie oder Physik zu belegen?Ein gesellschaftswissenschaftliches Fach ist im deutschen Abitur verpflichtendes Prüfungsfach. Für Geschichte und Erdkunde sind in der Sekundarschule durchgängig zwei Stunden vorgesehen, während sich Gymnasiasten – wie bisher – mit drei Stunden auf ihre weitere Schullaufbahn vorbereiten. Doch halt, ist diese Betrachtung nicht ungerecht?Stehen der Sekundarschule nicht, da sie Ganztagsschule sein wird, zusätzliche Stunden für Profilbildung und Förderung zur Verfügung, über die sie weitgehend selbst bestimmt und mithilfe derer sie also auch die genannten Benachteiligungen gegenüber den Gymnasien ausgleichen kann? Doch, das ist vorgesehen. Allerdings wird es einer integrierten Sekundarschule äußerst schwer gemacht, sich auch als verlässliche Heimat von Gymnasiasten darzustellen – gerade in den Klassen 9 und 10, wo sich die Wege zu den Abschlüssen entscheiden. Werden die vorgesehenen drei bis fünf Profilstunden pro Woche zur Verstärkung der Natur- und der Gesellschaftswissenschaften verwendet, dann können weitere Profilkurse zur Vorbereitung der späteren Leistungskurse im Abitur nur noch aus den Schülerarbeitsstunden „finanziert“ werden, die jedoch ausdrücklich nicht für benotbaren Unterricht vorgesehen sind.Eine Träne darf rollenZudem haben die Berliner Bildungspolitiker einige Segnungen vorgesehen, die zwar der Sekundarschule ein pädagogisch sinnvolles Profil geben, die sie aber vom Gymnasium umso deutlicher absetzen. Die gerade wegen des neuen Faches Ethik abgeschaffte Arbeitslehre – früher ein polytechnisch-profilierendes Fach der Gesamtschule – feiert nun ihre Wiederauferstehung unter der Zielstellung der Berufsorientierung und -vorbereitung. In diesem Zusammenhang müssen alle Sekundarschulen das so genannte duale Lernen organisieren, also die Verknüpfung schulischen Lernens mit außerschulischen Lernorten in der Gestalt von Praktika über das bisher übliche Betriebspraktikum hinaus. Niemand wird leugnen, dass die Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler dringend immer wieder die Begegnung mit der außerschulischen Welt braucht, um angeeignete Fähigkeiten im Praxistest zu erproben und sich für die Zeit nach der Schule zu orientieren.Aber bitte, warum sind die Gymnasiasten von dieser Pflicht befreit, wo doch alle wissen, dass die Vorstellung, fast alle würden ein Studium aufnehmen, einer fernen Vergangenheit angehört?So wird aus dem Segen einer berufsorientierenden Profilierung der Fluch einer Zweiklassenschule, dem sich die Schule der Zukunft nur gegen den Strich der Verordnungen und mit äußerster Pfiffigkeit und innerer Willensstärke und Geschlossenheit wird entziehen können. Zwar heben die einschlägigen Formulierungen immer wieder hervor, dass jede integrierte Sekundarschule Anschluss an eine gymnasiale Oberstufe haben soll, dass auch hier die Schülerin und der Schüler einen beschleunigten Weg zum Abitur beschreiten kann. Doch man wird den Eindruck nicht los, dass dies Lippenbekenntnisse sind gegen eine Realität, die allermeist so aussehen wird: Wer besser ist oder sich etwas Besseres dünkt, drängt ans Gymnasium. Die Sekundarschule muss, getrieben durch das Gewicht der Tatsachen, einen wachsenden Teil ihrer Kraft und ihrer Ressourcen auf die Förderung der Schwächeren verwenden. Eine Gleichberechtigung mit dem Gymnasium, was den Weg zum Abitur angeht, wird nur schwer zu erreichen sein. Trotz aller gebrauchten schönen Worte, so scheint es, ist die Zwei-Klassen-Schule eine besiegelte Tatsache.Die Gesamtschule war, zumindest von Form und Struktur her, eine echte Integration aller drei Schulformen, die ansonsten in Deutschland getrennt sind. Damit ist nun in Berlin, der ehemaligen Hauptstadt der Gesamtschulen, Schluss. Die scheinbare Ausbreitung der integrierten Schule bezeichnet in Wahrheit die Einführung der Zwei-Klassen-Schule und die Abschaffung der integrierten Gesamtschule. Das sei notiert. Eine stille Träne darf rollen.
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