Gewissen schickt sich nicht

VOR DEM PARTEITAG IN ESSEN Kopfnoten für die neue CDU

Nach der Bundestagswahl des Jahres 1998 durfte man gespannt sein, welche inhaltliche Erneuerung ihrer Politik die CDU in Folge der Wahlniederlage anstreben würde. Auf das Terrain der SPD und der Grünen vordringen, um WählerInnen zu gewinnen, die unter Kohl unerreichbar waren? Oder würden die "Jungen Wilden" ihren Kurs der nachholenden neoliberalen Wende, ungehindert durch sozialstaatliche Rücksichten, durchsetzen können, um gegenüber Rot-Grün ein schärferes Profil der CDU zu gewinnen? Die Antworten auf diese Fragen sind der CDU, nach ersten raschen Erfolgen in Landtagswahlen, durch ihren Parteispendenskandal für einige Zeit erspart geblieben. Oder soll man lieber sagen: Sie hatte im Pech auch wieder Glück, dass die Fragen der programmatischen Neuorientierung hinter dem Schleier der Kriminalisierung und Personalisierung ihrer Politik bislang gnädig verborgen blieben?

Damit ist es nun vorbei. Zwar werden die Personalentscheidungen auf dem bevorstehenden Parteitag noch einmal im Vordergrund stehen. Doch die Grundlinien sind vorgezeichnet. Edmund Stoiber lancierte, sobald die Kandidatur Angela Merkels bekannt wurde, den Verdacht, sie sei in irgendeinem Sinne links, relativ zur CSU jedenfalls. Journalistische Beobachter des Königs der "Südschiene" entlarvten dies als schlaue Provokation gegenüber dem christdemokratischen Restdeutschland, um Angela Merkel umso sicherer ins Amt zu hieven. Also, nichts Genaues weiß man nicht. Frau Merkel war als Frauenministerin vielen CDU-Politikern zu liberal, als Umweltministerin vielen CDU-Gegnern zu rechts. Als Ost-Frau war sie gegen die Rote-Socken-Kampagne im Jahr 1994. Die Kampagne ihres Parteikollegen Koch gegen die doppelte Staatsbürgerschaft, mit der dieser die Landtagswahl in Hessen gewann, kommentierte sie kritisch, die diesjährige von Rüttgers gegen die Anwerbung ausländischer Computerspezialisten scheint sie zu unterstützen. Es bleibt bei diesem widersprüchlichen, unklaren Bild.

Oder doch nicht? Bei genauerer Betrachtung zeigen sich einige feste Parameter der zukünftigen Entwicklung der CDU. Sie setzt nun nicht nur den lange verzögerten Generationswechsel an der Spitze durch, sondern mit der älteren Generation tritt, so scheint es, der sozialkonservative Flügel vollständig ab. Heiner Geißler verlässt den Parteivorstand ebenso wie der CDA-Veteran Blüm. Der designierte Vertreter des Arbeiterflügels der CDU, CDA-Vize Arentz, misst in jedem Interview die allzu großen Fußstapfen Blüms aus, in die er treten soll. Hat man die neue Vorsitzende in diesen Wochen je ein Signal in Richtung des linken Flügels aussenden sehen? Konnte man sie bei einer Problembeschreibung beobachten, wie eine CDU ohne ihr soziales Gewissen aussehen wird? Nein! Blüm gibt rabenschwarze Interviews, und Geißler diskutiert in der Öffentlichkeit nicht mit Angela Merkel, sondern mit Bisky. Sie spricht derweil über den Nutzen, in Deutschland Fleiß, Pünktlichkeit und Wohlverhalten in Zeugnisköpfen wieder mit Noten zu versehen, während ihr Fraktionsmanager Merz, sozusagen unverblümt, gleich zu Beginn seiner Karriere etwas versucht, was mancher erst zum Ende wagt: sich mit den Rentnern anzulegen.

Kurzum, Frau Merkel tut im Vorfeld des Parteitages alles, um den süddeutschen Konservatismus sicherer und dauerhaft auf ihre Seite zu bringen. Diese Beobachtungen mehr taktischer Natur klingen mit dem strategischen Dilemma der Partei auffällig zusammen. Der SPD-Generalsekretär Müntefering sprach es aus: Falls Frau Merkel in die "Mitte" wolle, da sei bereits die SPD. In der Tat sind inzwischen alle wichtigen Themen des neokonservativen Projekts von der regierenden Koalition besetzt: Privatisierung sozialer Risiken, neoliberale Steuerreform, Zuzugsbegrenzung für Ausländer, Reduktion der Umwelt- auf Energiepolitik, High-Tech-Offensive, Rollenwechsel in der internationalen (Sicherheits-) Politik. Wie soll es der CDU gelingen, diese als ihre originären Themen zu reklamieren, nachdem Rot-Grün sie ausnahmslos besetzt hat? Für eine wertorientierte, sozialstaatliche Wende, um SPD und Grüne auf deren altem Terrain anzugreifen, fehlen aber auch alle Voraussetzungen. Was bleibt also außer einer Radikalisierung des neokonservativen Profils der CDU mit ihren widersprüchlichen manchesterliberalen, nationalkonservativen und modernistischen Bestandteilen?

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