Auch die Theorie werde zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreife, so lautete noch die Prognose von Karl Marx im Jahr 1844 in seiner Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Doch die Revolutionshoffnungen zerbrachen in Deutschland an der Ungleichzeitigkeit von Theorie und Praxis. Und diese Ungleichzeitigkeit gibt es heute noch.
Nehmen wir die Grünen. Womit haben Sie ihre Wahlerfolge verdient? Doch nicht mit der konsequenten und erfolgreichen Ausbreitung einer Theorie. Die Einsicht, sie profitierten nur vom katastrophalen Zustand der Sozialdemokratie, beruhigt nicht. Selbst die Beobachtung, dass alle anderen Parteien den grünen Gedanken übernommen haben und somit die Grünen schön blöd dastehen, genügt nicht.
Denn erstens ist jener Gedanke im Verlaufe seiner Ausbreitung unkenntlich geworden. Analog zur Entwicklung bei der Sozialdemokratie einhundert Jahre zuvor, ist nichts weiter als ein florierender grüner Kapitalismus herausgekommen – eben Umweltgeschäfte statt ökologischer Umbau der Industriegesellschaft.
Zweitens kann nicht wirklich davon die Rede sein, dass der grüne Gedanke die Massen ergriffen hätte und somit zur materiellen Gewalt geworden wäre. Jede kennt doch die Nachbarin, welche die Mülltrennung längst aufgegeben hat, weil sie sich sicher ist, dass hernach sowieso alles zusammengekippt wird. Und doch webt und wirkt der grüne Gedanke allenthalben, vom Elektroauto bis zum Kyoto-Prozess.
Diese Unschärferelation verlangt nach einer Erklärung: die Grünen sind nicht im Gespräch, sie gehen aber auch nicht unter. Der grüne Gedanke hat sich in Technologien, Institutionen und Gesetzen materialisiert, politisch ist er kraftlos geworden. Wie geht das zusammen?
Wie Marx verzweifelt die einflussreichen Ideen seiner Zeit durchforstete, um darin die Anzeichen der kommenden Revolution zu lesen, so wäre der Entwicklung des grünen Gedankens noch einmal nachzugehen, um das Scheitern des grünen Projekts begreifen zu können.
In Deutschland begann es als Umweltbewegung. Doch die Suche nach Umweltsündern mobilisiert nicht mehr und der Umweltbegriff ist längst dem der Ökologie gewichen. Die Ökologie ist als Wissenschaft etabliert. Bevor noch die Lehrstühle und Studiengänge eingerichtet wurden und die Absolventinnen zu Managerinnen florierender Ökounternehmen und -bürokratien wurden, verbrannte die grüne Bewegung ihre Hexen. Mithilfe des sozialistischen Lagers wurden schon in den späten siebziger Jahren die moralisch starken Bataillone der Anthroposophen im Süden der Republik ausgeschaltet.
Teufelsaustreiber Bahro
Kaum war das geschafft, ging es den Sozialisten an den Kragen. Die „apokalyptischen Reiter“ mussten sich mit ihren revolutionären Untergangsdiskursen auf die Trabrennbahn und schließlich in Managerschulungen zurückziehen. Gute Dienste leistete bei dieser Teufelsaustreibung Rudolf Bahro, der – wer erinnert sich noch? – als einer der letzten versuchte, alle grünrevolutionären Gedankenstränge zusammenzuraffen und das grüne Projekt im Leben zu verankern. Er war der nächste, der ausschied.
Die Liste ist lang. Auch die Verbannung des Heimatbegriffs aus dem grünen Diskurs gehört hierher, die Verwandlung von Geschichtswerkstätten in staatsoffizielle Ausstellungsprojekte oder stinknormale Heimatmuseen. Kurzum, nicht nur für den Aufstieg eines grünen Sonnenkönigs zum Olymp der Weltpolitik, sondern auch für die Etablierung des grünen Gedankens unter dem Namen der Ökologie in Institutionen und Unternehmen mussten so ziemlich alle bewegenden Ideen geopfert werden, welche die Massen hätten ergreifen können.
Mit dem Schlagwort der Herausbildung eines grünen Establishments ist die Sache allerdings nicht getroffen. Vielmehr geht es um die tragische Auftrennung von institutionellen und wissenschaftlichen Diskursen einerseits, lebensweltlichen andererseits. Im Verlaufe dieses Prozesses amputierte sich die grüne Bewegung so ziemlich alles, womit sie sich in breiteren Kreisen der Bevölkerung hätte verwurzeln und wodurch sie eine bewegende politische Kraft hätte bleiben können.
Dabei scheute die grüne Bewegung die Theorie wie der Teufel das Weihwasser – vermutlich einfach ein alberner Affekt gegen die 68er-Intellektuellen. Das verhinderte freilich nicht, dass sich das grüne Projekt tief in das Denken und Forschen über Natur und Landschaft eingrub. Leider hat das mangelnde Interesse daran, das eigene Denken durchzuarbeiten, die Zeugenberge des grünen Diskurses einfach unverbunden nebeneinander stehenlassen.
Nationalparks und Müllschiffe
Wer kann schon aus dem Stand erklären, wie sich in den Köpfen der wissenschaftliche Diskurs der Ökologie ohne weiteres mit den apokalyptischen Fanalen von Waldsterben, Tschernobyl und Ozonloch vertrug? Die Geschichte des Marxismus kennt jedenfalls die schlimmsten Zweifel, ob die Parteilinie sich wirklich direkt aus der Wertformanalyse und dem tendenziellen Fall der Profitrate ableiten lasse. Mit dem schlichten Verweis auf die Logik von Ökosystemen Nationalparks zu gründen oder Müllschiffe zu entern hat dagegen wohl noch keinem Grünen schlaflose Nächte bereitet.
Wer da an grüner Selbstaufklärung interessiert ist, greife zu dem Buch Vieldeutige Natur: Landschaft, Wildnis und Ökosystem als kulturgeschichtliche Phänomene">Vieldeutige Natur, das die Handschrift von Ludwig Trepl trägt. Trepl schrieb in den achtziger Jahren ein Standardwerk über die Geschichte der Ökologie und versammelte seit den neunziger Jahren, aus Berlin kommend, am Fachbereich Landschaftsökologie der TU München eine beachtliche Schar von Schülerinnen und Schülern um sich. Sie repräsentieren jene Generation, die das neue Denken über Natur und Umwelt in das weit gespannte Netzwerk von Institutionen des Naturschutzes und zu deren wissenschaftlicher Beratung geführt hat.
Ihre Botschaften an die Naturschützer und die Politik lassen aufhorchen. Lernen nicht schon Schulkinder, wie der tropische Regenwald funktioniert und warum er, einmal zerstört, nicht wiederhergestellt werden kann? Pustekuchen, der Regenwald erweist sich bei näherem Hinsehen nicht als Ökosystem, sondern als historisch-kulturelles Produkt wechselnder Interessen und Perspektiven. Und überdies verfügen Ureinwohner durchaus über Techniken der Wiederaufarbeitung von gerodeten Böden (Klaus-Dieter Hupke).
Wie tritt ein Nationalparkdirektor, etwa der des Bayerischen Waldes, empörten Anwohnern entgegen, die sich mit den hektarweiten Baumgerippen absterbender Fichten nicht anfreunden können? Er verweist auf das, was die Natur nun einmal braucht und „tut“, wenn sie vom Menschen nicht bevormundet, sondern alleingelassen wird.
Touristen kennen den ökologisch angereicherten Diskurs von Nationalparkprospekten, die mit „Wildnis“ werben. Doch welche Wildnis ist gemeint? Die „schreckliche Waldwildnis“ eines Adalbert Stifter oder das „bedrohte Ökosystem“ von heute? Auch hier lösen sich die scheinbar gesicherten ökowissenschaftlichen Begriffe in der Säure der historischen Diskursanalyse in eine Vielfalt von Positionen, Denk- und Handlungsmöglichkeiten auf, deren Legitimation erst noch aussteht (Gisela Kangler).
Naturschützer eifern für die Erhaltung seltener Arten und einmaliger Ökotope. Was aber, wenn eine seltene Art von außen einwandert und eine angestammte, nicht weniger schützenswerte Art bedrängt? Für welche Art von Vielfalt schlägt dann das grüne Herz – für die angestammte alte oder für die neue, noch unabsehbare? Sticht nicht ins Auge, dass hier, hinter der Phrase von der Biodiversität, gegensätzliche Konzeptionen von natürlichen Gesellschaften lauern, die verdammt analog sind zu konservativen oder liberalen Vorstellungen? Wie können die Naturschützer mit sich ins Reine kommen, wenn sie nicht den Zusammenhang ihres Strebens mit den im Hintergrund steuernden Konzepten der politischen Philosophie aufklären? (Thomas Kirchhoff und Sylvia Haider)
Ein letzter Versuch
Dieses Buch markiert nicht weniger als eine Neugründung der Ökologie durch eine Kritik ihrer begrifflichen Voraussetzungen. Das Denken über die Natur wird aus seiner scheinwissenschaftlichen Reduktion auf die Ökologie befreit und in den größeren Zusammenhang von Gesellschaft, Geschichte und Natur zurückgeholt. Gewiss stehen die innerwissenschaftlichen Motive dieses Paradigmenwechsels im Vordergrund. Doch lesen sich die Beiträge wie ein einziges Déjà-vu der von der grünen Bewegung geräumten Positionen. Landschaft als kulturelles Phänomen, die Rede von Heimat, die philosophischen Wurzeln von ökologischen Theorien – als Gesamtbotschaft lässt sich verstehen: verschanzt die Gegenstände des grünen Diskurses nicht hinter dem Ökojargon mit seinen scheinbar einfachen und unanfechtbaren Argumenten, sondern beschäftigt euch mit den vielfältigen historischen und kulturellen Bezügen, die alle verstanden und mobilisiert werden müssen, wenn es für die Welt eben noch nicht zu spät sein soll!
Die Trepl-Schule verschafft uns eine paradoxe Wiederbegegnung mit den Vergeblichkeiten des grünen Projekts. Während es längst an Auszehrung von gesellschaftlicher, moralischer, emotionaler Substanz leidet, während es sich von all seinen Wurzeln und Quellen sozialer Bewegung und politischer Veränderung getrennt hat, stellt die Wissenschaft all diese Bezüge wieder her, als sollte ein letzter Versuch gemacht werden zu retten, was noch zu retten ist.
Paradox ist die Ungleichzeitigkeit von Politik und Wissenschaft des grünen Projekts. Während der cultural turn der Ökologie eine enorme Belebung und Verbreiterung ihrer Wirkungsmöglichkeiten eröffnen könnte, ist die grüne Politik selbst längst anämisch geworden.
Auch dieser Markstein des Nachdenkens über Natur und Landschaft ist Kind seiner Zeit. Im methodischen Ansatz, der auf das idealtypische Denken Max Webers zurückgreift und Kategorien wie Wildnis oder Ökosystem folgerichtig als heuristische Begriffskonstruktionen auffasst, meint der Rezensent ein Stück unwillkürliche Mutlosigkeit angesichts des Niedergangs des grünen Projekts zu spüren. Denn wie anders könnte doch die Wissenschaft zu Werke gehen, wenn die lebendige gesellschaftliche Praxis selbst der Abstraktion und Verallgemeinerung von Begriffen zuarbeitete und die Denkformen als begriffliche Fassung herrschender Praxisformen auszuweisen erlaubte, als wenn die Grundbegriffe als reine Gedankenkonstrukte zur Einteilung der Wirklichkeit aufgefasst werden müssen.
Der methodische Vorteil, gegen essentialistische Missverständnisse gefeit zu sein, wird womöglich mit der Gefahr einer nominalistischen Ferne zu Welt und sozialer Bewegung bezahlt. Umso mehr ist den Umdenkerinnen der Ökologie zu wünschen, dass die Massen Besitz ergreifen von ihren Gedanken – und wenn es nur die Massen wären, die ab und zu noch einen nostalgischen Blick auf die Grünen werfen.
Thomas Kirchhoff, Ludwig Trepl (Hg.), Transcript Verlag, Bielefeld 2009, 353 S., 29,80
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