Lang, lang ist´s her ...

Brief an einen Freund bei den Grünen Lieber Freund, ...

Lieber Freund,

es ist wahr, der Faden ist gerissen. Was das mit Dir zu tun habe? Einerseits, andererseits. Eure Sache steht allerdings nicht zum besten. Gelegentliche Wahlerfolge verdanken sich der Verlegenheit, dass die anderen Parteien noch schlimmer sind. Und doch bewundere ich aus kritischer Distanz Dein Festhalten am grünen Engagement. Gewiss bleibt das ökologische Prinzip richtig und verteidigenswert, wie Du immer wieder hervorhebst. Allerdings leben die Politiker aller Parteien von der Durchhalteparole, gäbe es sie nicht, geschähe dies und jenes gar nicht.

Das Pathos der gerechten Sache hat in Wahrheit mit den Regeln wenig zu tun, nach denen sich politische Parteien bewegen. Die Sache des Sozialismus war 1875 so gerecht wie 1914, 1919 oder 1959. Aber hätte die SPD sie nicht auf jeweils völlig verschiedene Weise in die historische politische Landschaft gepflanzt, wäre sie nicht die Partei gewesen, die sie jeweils war. Das gilt für den Konservatismus im selben Sinne. Der Konservatismus der CDU nach dem Zweiten Weltkrieg wäre als bloßes Festhalten an einem Prinzip so gut wie gar nicht verstanden, sehr wohl aber als historisch neue Artikulation des konservativen Prinzips nach der Erfahrung, vor dem Faschismus versagt zu haben und angesichts des Durchbruchs der Volksparteien.

Daher überzeugt es wenig, die Grundsätze zu wiederholen und die Partei als die "letztlich einzig wahre Vertreterin" derselben darzustellen. Dies umso weniger, als sich ja längst, allerdings ohne ein Godesberg der Grünen, andere Ziele und Fronten als die Ökologie in den Vordergrund geschoben haben. Was ist aus der Frage von Krieg und Frieden geworden? Wie steht die von den Jungen erhobene Generationenfrage zum grünen Ausgangspunkt? Das sind nur zwei der Fragen, die sich stellen, ohne wirklich gestellt zu werden. Nein, lieber Freund, in Wahrheit stünde, um einer schleichenden Erosion der Grünen entgegenzuwirken, an, das grüne Projekt neu zu gründen, so wie die anderen politischen Strömungen an Wendepunkten der Geschichte um den Preis des Untergangs immer wieder neu gegründet werden mussten.

Eine derartige Neubegründung hat mit den periodischen Diskussionen um Grundsatzprogramme wenig zu tun. Das sind pragmatische Anpassungen der verbalen Ausstattung der Partei an veränderte Tagesverhältnisse, nur um die gröbsten Widersprüche zwischen Wort und Tat zu glätten. So halten es alle Parteien, und dies zu Recht, ohne dass das Publikum dem besondere Beachtung schenken würde. Eine Neuartikulation der ökologischen Frage in der politischen Landschaft wäre etwas gänzlich anderes. Sie würde nicht nur nachvollziehen, was sich an heimlichen Verschiebungen längst ergeben hat, sondern würde das Projekt neu zu den anderen politischen Projekten positionieren. Das wäre eine Neubestimmung des Ortes und der Aufgabe der Partei im Verhältnis zur sozialen Frage, zum Konservatismus und zum Liberalismus, - all dies immer in Bezug auf die Kernfrage des Ökologischen.

Das Verhältnis von sozialer und ökologischer Frage tritt in den Vordergrund, da nicht nur die SPD, sondern auch die Grünen durch das Wachstum einer neuen linkssozialdemokratischen Partei bedroht wird. Ihr glaubt aber immer noch, ihr könntet die soziale Frage additiv ins Programm schreiben und damit sei die Sache erledigt. Schlimm vor allem, dass Eure Jungliberalen, die schon überhaupt jeden Bezug zu einer sozialen Bewegung verloren haben, die soziale durch eine reaktionäre Generationenfrage ersetzt haben. Hier, wie in anderen Bereichen, bräuchte eine Neubegründung der grünen Sache nicht alles neu erfinden, könnte vielmehr auf verschüttete Bausteine eines ökologischen Umbaus der Gesellschaft zurückgreifen.

Schließlich haben Eure politischen Väter einmal ökologische Sozialstaatskritik geübt. Sie begriffen den bestehenden Sozialstaat als Auswuchs und Stütze eines auf falschem, lebensfeindlichem Wachstum beruhenden Gesellschaftskonzepts und bahnten eine Neufassung der sozialen Frage von grünem Standpunkt aus an. Neufassung, nicht Abschaffung der sozialen Frage! Lang, lang ist´s her. Stell Dir nur einmal vor, wie sich dieser Gedanke auf die Gesundheitspolitik auswirken würde. Die Grünen würden, statt einfach eine weitere Variante des Sparstaates und der Zwangsbewirtschaftung zu vertreten, die Fronten zwischen Staat, Ärzten und Pharmaindustrie produktiv durcheinanderbringen, indem sie den Gedanken einer alternativen Medizin ausgraben und somit das Sparen an eine andere Vorstellung von Leben und Gesundheit binden. Wussten wir nicht schon einmal, dass die Herz-Kreislaufkrankheiten mehr mit Lebensweise als mit Pillen zu tun haben? Und dass eine Umorientierung obendrein eine riesige Kostenersparnis erbringen würde? Was haben wir aus der Einsicht gemacht, dass die Frage, wie die Menschen Gesundheit und Krankheit in ihrem Leben definieren, an erster Stelle steht, an zweiter oder dritter erst, welche Krankheiten ihnen eine Gesundheitsfabrik zu diagnostizieren vermag?

Beginnst Du erst, die überwachsenen Stufen in die grüne Geschichte hinabzusteigen, eröffnet sich ein Panorama der versäumten Gelegenheiten. Das gilt für die Verdrängung des konservativen Erbes ebenso wie für die Dethematisierung des Pazifismus. Was wäre das für eine Lust zu beobachten, wie die Grünen den heutigen Konservatismus vorführten, der die eigene Großmutter für ein paar Euro Globalisierungsgewinn zu verkaufen bereit ist. Was wäre das für ein Parteiprofil, sich nicht der aussichtslosen Logik der SPD-Politik zu unterwerfen, wonach Friedenspolitik als bewaffneter Friedensexport betrieben wird. Es gab einmal Zeiten, in denen über die Militarisierung der Gesellschaft diskutiert wurde. Die Wurzeln von Krieg oder Frieden haben wir in den alltäglichen Austauschverhältnissen gesucht, welche die Menschen mit ihrer menschlichen und natürlichen Umwelt eingehen. Im Umkreis der Grünen zeichnete sich für Deutschland einmal eine Art skandinavische Option ab, welche einen ganz anderen Typus von nicht-militärischer Macht in den internationalen Verhältnissen definiert.

Stirnrunzeln und verlegen-überlegenes Lachen. Ich weiß, in den Augen von Realpolitikern sind das nostalgische Anwandlungen. Doch, lieber Freund, bedenke, mit der Realpolitik ist das so eine Sache. Halten wir es doch längst für möglich, dass die Menschen, denen die Grünen das nicht zuzumuten können glaubten, die fünf Mark pro Liter Benzin aus der Hand von Shell oder BP klaglos akzeptieren würden. Wem gibt das zu denken, und was? Nein, reine Ideologie, dass die grüne Geschichte so ausgehen musste. Aber wahr ist auch, dass es zu spät ist. Das fängt schon damit an, dass die Voraussetzungen für eine Neugründung längst nicht mehr gegeben sind. Wer interessiert sich bei den Grünen noch fürs Denken, für politische Analysen jenseits der Wahlkämpfe und der Alltagspolitik, für ökologische Theorie und Philosophie? Eben, niemand. Schon daran würde jeder Versuch einer Erneuerung scheitern. Die politische und geistige Kultur einer Partei ist träge, ihre Fundierung braucht Jahre. Meist sind es nicht Willensakte, sondern historische Brüche, die dazu den Anstoß geben. Die Hoffnung darauf braucht man nicht aufzugeben.

Sei meiner Freundschaft sicher, meiner Stimme nicht.

Dein Wieland Elfferding


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