Seit klar ist, dass der neue rot-rote Berliner Koalitionsvertrag bildungspolitisch mit einem Systemwechsel zur so genannten Einheitsschule kokettiert, zerstäuben die Medien das Thema in bits and pieces. Sie heizen Gerüchte an, wer auf den Zug namens "Pilotprojekt" aufspringen will. Man sieht förmlich die Gang der Schulleiter sich aufs Dach des Tresorwaggons herablassen, den Colt ziehen, um die Bewacher alle zu machen.
Von der Sache weiß man genau so viel: mit der ersten Klasse anfangen, Haupt-, Real- und Gymnasialschüler/innen zusammenfassen, den Gymnasien nicht weh tun. Ein Konzept ist das nicht. Was es nicht besser macht: Keine der Parteien hat es damit sehr eilig. Der Tagesspiegel streut rasch mal ein paar Zehnzeiler von "Experten" auf die Seite. Alle geben sich dazu her, in die bekannten Schützengräben zu springen, und zwar bevor noch irgendein Krieg erklärt worden ist: "Das Erfolgsmodell Gymnasium darf nicht in Frage gestellt werden." (Lenzen, FU-Präsident). Frau Volkholz plädiert für das zweigliedrige System. "Die GEW begrüßt ausdrücklich den Einstieg in die Gemeinschaftsschule." (Seggelcke, GEW). "Einige wenige Gemeinschaftsschulen lösen das Problem der Hauptschule nicht." (Mutlu, B90/Die Grünen) Vielleicht sollten Medien lieber präzise Fragen stellen, statt das Thema im Stile des gewohnten Bildungstalks totzuquatschen.
An die Gymnasialenthusiasten: Wie hoch ist beispielsweise die Abbrecherquote an den Gymnasien im Vergleich zu anderen Schulformen? Wie hoch ist die Abiturerfolgsquote nach Zulassung zur Prüfung am Gymnasium im Vergleich zu anderen Schultypen, die Hochschulreife erteilen? Wie fällt ein regionaler Vergleich von guten Gymnasien mit guten Gesamtschulen aus, die im Wettbewerb stehen?
Den Sekundarschulvertretern ins Stammbuch: Ist lediglich ein Zusammenschluss von Haupt- und Realschulen gemeint oder soll die Gesamtschule stillschweigend im zweigliedrigen System verschwinden? Vielleicht sollte man einmal die Realschulen danach fragen, wie sie darüber denken. Unter welchen Bedingungen (Klassengrößen, Förderkonzepte, Leistungsdifferenzierung) können den bisherigen Realschülern ihre Aufstiegschancen gesichert werden? Wird jede dieser Schulen eine gymnasiale Oberstufe haben, oder sollen die aus den siebziger Jahren bekannten, nun nach unten erweiterten Mittelstufenzentren entstehen? Wenn man das Gymnasium ausnimmt, wie soll dann verhindert werden, dass sich die soziale Spaltung der Bildungslandschaft in ein Zweiklassensystem überträgt?
Was die "Einheitser" betrifft: Von der Gesamtschule spricht niemand mehr. Sie ist nämlich praktisch in den vergangenen zwei Jahrzehnten abgebaut worden. Wo vor zehn Jahren noch Laborantinnen einen methodisch qualifizierten naturwissenschaftlichen Unterricht unterstützten - nichts mehr. Druckerei - ein Luxusartikel. Werkstattmeister für die Arbeitslehre - aus der Traum, zumal dieses so wichtige berufsorientierende, gesamtschultypische Fach praktisch abgeschafft ist. Stundenerhöhung, Streichung von Verfügungsstunden für Kerngruppenleiter - von diesem Schultyp steht nur noch ein Gerippe. Muss nicht die vollmundige Verkündung einer "Einheits-" oder "Gemeinschaftsschule" als stillschweigendes Ersteklassebegräbnis der Gesamtschule verstanden werden? Warum nicht stattdessen ein Neubeginn, eine Reform der Gesamtschule an Haupt und Gliedern?
Im Geraune über die neue Schulform hört man, dass die von den meisten Gesamtschulen bekannte "äußere Differenzierung" in Leistungskurse aufgegeben werden soll. Dieses Kurssystem ermöglicht eine Förderung der Schüler entsprechend ihren Fähigkeiten in nach Schwierigkeitsgrad abgestuften, annähernd leistungshomogenen Gruppen. Ein nennenswerter Teil der Realschüler kann erfahrungsgemäß seine Chance nutzen, sich auf Gymnasialniveau hinaufzuarbeiten. Für den Aufstieg von Hauptschülern auf das Realschulniveau gilt das in geringerem Maße. Es gibt auch bewährte Modelle von Gesamtschulen, die überwiegend mit leistungsheterogenen Gruppen arbeiten: Etwa die Fritz-Karsen-Schule in Britz, die seit 1948 Einheitsschule praktiziert, oder die reformpädagogische Bettina-von-Arnim-Oberschule in Reinickendorf. Doch sind sie so sorgfältig ausgewertet worden, dass zweifelsfrei gesagt werden kann: Durchlässigkeit und Chancengleichheit sind hier besser gewährleistet als in den hergebrachten Gesamtschulen?
Eine der Fragen, die am tiefsten im Nebel des Bildungstalks liegen, betrifft die institutionelle Konstruktion der neuen Schule: Wie sollen Grund- und Oberschulen eine "Einheit" bilden, wenn diese Einheit jederzeit durch das Recht der Eltern, ihre Kinder woanders hinzuschicken, gebrochen werden kann? Scheinbar haben wir schon vergessen, dass der beklagenswerte Zustand mancher Gesamtschule nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass die SPD diese Schulform im Status einer Reformruine der siebziger Jahre zurückließ. Heute wird die Selbstständigkeit der einzelnen Schule nach dem neuen Schulgesetz ganz groß geschrieben. Das könnte einen Gestaltungsspielraum für einen neuen Schultyp schaffen. Aber zugleich wäre dieser neue Schultyp unter den mit der "Freiheit" einhergehenden Marktbedingungen dem Wettbewerb um Schüler, Personal und Ressourcen viel schärfer ausgesetzt als die Gesamtschule in den siebziger Jahren.
Die Vorzeichen sind nicht gut. Die Bildungspolitik fasst das Neue mit spitzen Fingern an. Den neuen Schultyp in eine ungewisse Zukunft zu vertagen, hat erst das Schlagwort von der "teuren Spielwiese" provoziert. Dabei wird Geld tatsächlich eine entscheidende Rolle spielen, um etwa eine maximale Klassengröße von 24 zu gewährleisten, von der die Rede ist. Eine Systementscheidung zu treffen, ohne das ganze System mit allen seinen Teilen auf den Prüfstand zu stellen, schafft von vornherein eine Schieflage, deren langfristige negative Folgen aus vergangenen Bildungsreformen bekannt sind. Der halbherzige Start, die teils absurden und charakterlosen Rückzieher und die konzeptionelle Einsilbigkeit der Koalition liefern den Medien das Motiv, das Projekt im bildungspolitischen Smalltalk kleinzureden. Das bedeutet noch nicht, dass die Gemeinschaftsschule ein totgeborenes Kind ist. Es bedeutet aber wohl, dass wer immer sich dazu äußert, hinter das Niveau der von der Geschichte des Einheitsschulgedankens und von den PISA-Studien gestellten Fragen nicht zurückfallen darf.
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