Horváths Figuren irritieren, am deutlichsten vielleicht durch Sätze, die wir ihnen kaum zugetraut hätten. So dem ausgenutzten und betrogenen Fräulein Pollinger den Gedanken, nicht nur der Herr Reithofer sei ungerecht, auch der Stuhl sei ungerecht, der Schrank, das Fenster, der Hut, der Mantel, die Lampe, alle diese wie der Reithofer unschuldig daherkommenden Dinge seien ungerecht. Oder dem schwarzen Reichswehrmann Sladek, nachdem er mit anschaute, wie ein Kompagnon die Anna aus Nazigründen umgebracht hat, die Einsicht: "Ich hab mich mit dem Vaterland verwechselt." Derartige Sätze scheinen über die Menschen aus dem Volk, um die es bei Horváth für gewöhnlich geht, hinauszuwachsen, aber doch nur in dem Sinne jener Durchstiche ins Reich der Wahrheit oder der Brechtschen "Kunst des plumpen Denkens", die vornehmlich bei Menschen mit gewisser Bodenhaftung gedeihen kann.
Im Murnauer Schlossmuseum - Geheimtipp eines besonderen Ausstellungsorts in Oberbayern - wohnt Horváths Andenken im obersten Stockwerk. Dort kann man sich hinsetzen und, wie er es in den Ausflugslokalen der Gegend häufig tat, die Zeitung vom Ständer langen, in der vom Skandal geschrieben steht, den der Schriftsteller den lokalen Nazis machte. Er sagte im Jahr 1931 als Zeuge einer Saalschlacht in Murnau gegen die Nazischläger und für die Sozialdemokraten aus, was ihm die Verfolgung durch die ersteren einbrachte. Sein Roman Jugend ohne Gott, der mitunter heute noch in der Schule gelesen wird, bezieht seinen Schauplatz aus der Umgebung Murnaus, eine von Horváths zahlreichen "Heimaten", wo im Jahr 1934 ein HJ-Lager stattfand.
Doch Vorsicht - Horváth in die saubere antifaschistische Schublade gepackt, und schon wäre das Irritierende und Spannende verwühlt. Gewinnt doch der Mordbube Sladek unser fast sympathisches Interesse durch seine Widersprüchlichkeit, seine Zweifel, seine Abweichung von der Linie. Und wer weiß schon, dass der aufrechte und vor den Nazis schließlich flüchtende Horváth im selben Jahr 1934 vor diesen den Kotau macht und in den Reichsverband Deutscher Schriftsteller eintritt, um in Berlin unter wechselndem Pseudonym Ufa-Filmdialoge zu schreiben? Gewiss, später distanziert er sich von dieser Arbeit, der RDS schließt ihn nach drei Jahren wieder aus. Jedenfalls durchlebte der Schriftsteller selbst jene Mehrdeutigkeit, welche seine Figuren lebendig und irritierend zugleich macht.
Vermutlich fühlte sich Horváth, diese Spekulation ist erlaubt, tatsächlich nicht als etwas Besseres denn seine Pollingers oder Sladeks. Er saß in denselben Kneipen, trank denselben Wein und teilte dieselben Ängste und Heiß-Kalt-Gedanken, welche die Leute immer schön am Rande der Verzweiflung hält. Bekannt wurde er durch Stücke, die er zur Irritation seiner Kritiker "Volksstücke" nannte. Darunter verstand er alles andere als in dem Begriff mitschwingt: keinerlei Anbiederung an das Volk, Dialekt ist verboten, das Personal des alten Volksstücks ist gegen das neue, die Gesellschaft der Zwischenkriegszeit bestimmende ausgetauscht - die Kleinbürger in ihren proletarischen oder bürgerlichen Schattierungen.
Wer sich auf die Spießer einlässt, riskiert, in ihren Sumpf hinuntergezogen zu werden. Wer dieses Risiko scheut, riskiert das größere Übel, die breite Masse Hitler zu überlassen. Horváth tritt ins literarische Fingerhakeln mit den Rechten ein, für das sich so viele zu schade sind, die schon das Wort "Volk" nicht in den Mund zu nehmen sich getrauen. Er schreibt "süddeutsch", das er auf der Bühne hochdeutsch zu sprechen verlangt. Seine Personen stammen aus dem Volk, seine Schauplätze liegen häufig nahe den "weißblauen Kalkalpen".
Horváth beherrscht die dialektische Subversion des Völkischen, so etwa in Ein sonderbares Schützenfest, wo es um das in Murnau im Jahr 1929 groß gefeierte Graf-Arco-Schießen geht, nach Graf Arco, der die Bayern im Jahr 1809 zur Verteidigung Murnaus siegreich gegen die Tiroler führte. "Es gibt also noch Deutsche", mokiert sich Horváth, "denen die Errettung ihrer Marktgemeinde vor 120 Jahren wichtiger zu sein scheint, als Großdeutschland." So führt er die vaterländisch sich aufplusternden Tanzbären am Nasenring ihrer eigenen Widersprüche im Kreise herum. Eine gern zu lesende Geschichte - wie überhaupt die kleine Prosa wiederzuentdecken ist, die allzu leicht gegenüber den Stücken und Romanen vernachlässigt wird. Denn dort finden sich Grundmotive Horváthscher Dichtung ins Kurze zusammengezogen, nicht selten mit biografischen Bezügen verknüpft.
Ödön von Horváth, am 9. Dezember vor 100 Jahren geboren, war zu Beginn des ersten Weltkriegs 13 Jahre alt. Für seine Generation, die Kriegsgeneration, schreibt er: "Wir sind in der glücklichen Lage, glauben zu dürfen, illusionslos leben zu können. Und das dürfte vielleicht unsere einzige Illusion sein." Die prosaische Selbstironie dieser Sätze umreißt nicht nur die biografische Ausgangsbedingung eines Schriftstellerlebens, sondern auch den Kern eines poetischen Programms: das Doppelbödige, das unerwartet Überschießende im Alltagsleben zu suchen, selbst wo dieses jenseits aller Illusionen geführt wird; an Geheimnisse zu glauben nach aller Ernüchterung; zu sammeln, was an Poesie des Alltags übriggeblieben ist, nachdem dieser komplett auf den Boden der Tatsachen heruntergeholt wurde.
So schreibt Horváth Märchen, Märchen neuer Art. Dabei geht es nicht nur darum, ein weiteres volkstümliches Genre in die Zeit zwischen den Kriegen zu übersetzen. Vielmehr erlaubt das Märchen, das aufzubewahren, was nicht in die vulgärmaterialistische Alltagsphilosophie der Leute hineinpasst. Das Wundersame, zeigt Horváth, liegt so unsichtbar nah, wie im Falle des das Märchen suchenden Mädchens, das sich schließlich von einem dem Tode nahen Pferd belehren lassen muss, dass es selbst das tot geglaubte Märchen ist: eben ein das Märchen suchendes Mädchen.
In den Stolpersteinen des Lebens findet Horváth seine poetischen Anlässe, im unspektakulären Nonkonformismus die Würde seiner Figuren, in der Religion zweiter Ordnung - was den Leuten "heilig ist" - seine Botschaft. In dieser Mischung eines illusionslosen Materialismus - "bekanntlich braucht man zum denken einen Stuhl, auf dem man sitzt" - mit einer so lakonischen wie untrüglichen Moralität, repräsentiert Ödön von Horváth einen Typus des Linksbürgertums, das heute in Deutschland so dringend nötig wäre, wie es selten zu finden ist.
Horváth hätte sein poetisches Programm, das Widerständige aufzusuchen, ohne es vordergründig zu politisieren, schwerlich ohne einen Schuss Dada durchhalten können, der bereits in den frühen Sportmärchen enthalten ist ("Der Hochsprung und der Weitsprung waren Todfeinde. Das kam so:..."). Überraschende Wendungen, Sprachcollagen und ironisierende Selbstzitate gehören zu seinem Repertoire. Allerdings verliert Horváths Ironie nicht die Bodenhaftung, es ist eine der Wirklichkeit entnommene Ironie, er lehnt nicht zufällig fürs Drama jede Parodie als gekünstelt ab.
Die Suche nach dem unerwartet Widersprechenden, nach den kleinen Abgründen im Alltag als Leitfaden des Werks wird nicht zuletzt durch einen persönliche Zug Horváths angetrieben: seine oft beschriebene Panik vor Unfällen, vor unvorhergesehenen Katastrophen, deren Eintreffen er doch obsessiv erwartete. Es ist mehr als eine Ironie des Schicksals, dass Horváth im Alter von 37 Jahren, eine Autofahrt ausschlagend, ausgerechnet durch einen Unfall, einen herabstürzenden Ast auf den Champs-Élysée, zu Tode kam. In einem späten Text, wieder ein modernes Märchen, verknüpft Horváth auf irritierende Weise den Tod mit dem Gedankenhandwerk des Schriftstellers. Verzweifelt sucht einer den entfallenen Gedanken, der ihm kürzlich als der schönste begegnete. Die Suche begleitet ihn bis nach dem Tod, da eben dieser sich schließlich als jener Gedanke zu erkennen gibt, als das unvordenkliche, nicht zu behaltende Nichts, das den Suchenden zu Lebzeiten einmal streifte.
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