Moral im Container

Zahlungsmittel Wo Arbeit war, sollen Werte wachsen. Zur Konjunktur falscher Begriffe

Das Berliner Abgeordnetenhaus hat kürzlich beschlossen, dass alle Schülerinnen und Schüler in Zukunft Unterricht im Fach Ethik erteilt bekommen. Die dafür benötigten Stunden gehen, wie sinnig, auf Kosten der politischen Bildung und, an den Gesamtschulen, der Arbeitslehre. Diese, ein Pflichtfach dieses Schultyps von der ersten Stunde an, wird somit, bis auf eine Reststunde in der 9. Klasse, praktisch abgeschafft. Einer öffentlichen Diskussion bedurfte es dafür offenbar nicht. Werte statt Arbeit?

Zur selben Zeit ruft die Bundesfamilienministerin die christlichen Kirchen zu einem Bündnis auf, das den Eltern erklärtermaßen Mut machen soll, wieder zu Werten zu erziehen. Ob damit nur die christlichen Werte gemeint sind, soll hier nicht diskutiert werden. Die Parallele mit den Absichten der Berliner Schulpolitiker interessiert, entlastet sie diese doch von dem Verdacht, es handle sich nur um eine landesspezifische Marginalie.

Jugendliche ohne Ausbildungsplatz und ohne Anschlussbeschäftigung, das ist keine Seltenheit. Viele lernen, von Gelegenheitsjobs und Praktika abgesehen, die formende Kraft einer über einen längeren Zeitraum verpflichtenden und fordernden Arbeit in prägenden Jahren ihres Lebens nicht kennen. Die Arbeitslehre beschäftigt sich mit Gegenständen wie Berufskunde, Planung und Verfertigung von Werkstücken, Berufsorientierung und -vorbereitung. Wozu Arbeitslehre, wenn es eh keine Arbeit gibt? Eine böswillige Unterstellung an die Adresse der Berliner Volksvertreterinnen?

Frau von der Leyen und das Berliner Abgeordnetenhaus teilen die Auffassung, die Kinder und Jugendlichen müssten wieder mehr Orientierung an den Werten erhalten, die in ihrem Alltag verloren gegangen seien. Das verweist zunächst einmal darauf, dass Moralisierung und nachfolgende Emotionalisierung den Alltag der Jugendlichen bestimmen. Welche Klamotten die Kids tragen, ist scheinbar eine Frage von Gut und Böse, von Verehrung, Neid oder Verachtung. Das Handy wird zu einem Instrument des Ranking und der Stigmatisierung. Bevor hier eine Massenimpfung mit Gegen-Werten zur Anwendung kommt, sollte nach den Ursachen für die Konjunktur des moralischen Urteils gefragt werden. Treiben es doch die Erwachsenen im Prinzip gar nicht anders.

Zum Beispiel in der Politik. Auch hier kommt Moral vor nüchterner Betrachtung und Problemlösung. "Grundwerte" versprechen überall die letzte Rettung, egal ob es um den Verfall der sozialen Gerechtigkeit in Zeiten der Globalisierung geht, oder um die Fragen der Abschätzung von Technikfolgen, oder aber um das Kerngebiet der Politik, die Außen- oder internationale Politik, wo Fragen der Schuld und des Vergebens, der Menschenrechte und ihrer Ausbreitung längst die klassischen Fragen von Krieg und Frieden, von Diplomatie und Bündnis übertönen.

Kurzum, es drängt sich die Frage auf, ob nicht in einem viel weiteren Belang, als es die unbedeutende Entscheidung eines Parlaments in einem kleinen Bundesland ahnen lässt, unter dem Wertehorizont der Kontinent der Arbeit versinkt, auf dem doch vordem so wirksam mitentschieden wurde über die großen Lebensfragen: Auskommen, Persönlichkeit, Biographie. Die Arbeit tritt als prägende Tätigkeit, als Lieferantin von Orientierungen und Lebenserfahrung zurück. Mag dieser schleichende und unaufhaltsame Prozess auch schon eine Weile anhalten und insofern nicht neu sein, so wird doch wenig beachtet, was er für die Normausstattung der Einzelnen bedeutet. Jedenfalls müssen, wenn nicht mehr die Arbeit Haltungen und Fingerzeige für jeden Tag vermittelt, andere Kandidaten bereitstehen, um diese Aufgabe zu übernehmen. Doch welche werden das sein?

Werte bieten sich an. Es begann mit der Kampagne "Mut zur Erziehung" in den achtziger Jahren, an welche die CDU nun anknüpfen möchte. Die neokonservative Kritik an der angeblichen "Kuschelpädagogik" der 68er stellte einen Wertebegriff ins Zentrum, der alle den Antiautoritären angelasteten Läsionen der Ichschwäche zu heilen versprach. Ausgehend von Familie und Schule, durchzog der Wertediskurs seit der Kohl-Ära alle gesellschaftlichen Bereiche in konzentrischen Kreisen. Ob in der Wirtschaft, in der Politik oder in der Freizeit, - überall sollten es die Werte richten. Blieb auch die von den Konservativen versprochene "geistig-moralische Wende" nach Meinung der meisten Beobachter aus, so hinterließ allein ihre Beschwörung eine breite Spur von "Werten", an die immer wieder appelliert werden konnte, um zumindest die Stimmung moralischen Drucks zu verbreiten, dem sich egal welcher Schweinehund ausgesetzt sehen sollte.

Der Begriff des ethischen Werts ist seitdem zum allgemeinen Zahlungsmittel in Politik und Feuilleton geworden. Die enorme Ausstrahlungskraft der "Werte" hat auch die Linke nicht unbeeindruckt gelassen. Vom Ende der siebziger Jahre stammen die ersten, gar marxistisch inspirierten Versuche, linke "Grundwerte" zu postulieren. In keiner Programmdiskussion von SPD, PDS oder Bündnis90/Die Grünen würde eine üppige Verwendung des Wertebegriffs irritieren oder gar Anstoß erregen. Dabei gehörte es einmal zu den Grundüberzeugungen einer kritischen Theorie, dass der Rede von "Werten" etwas Ideologisches anhafte. Schon der vermeintlich nüchtern-ökonomische Warenwert sei, so Marx, ein Ding "voll metaphysischer Spitzfindigkeiten und theologischer Mucken". Auch für eine andere Disziplin, die Linguistik, ist dieser Begriff vertrackt. Besitzt ein Laut seinen "Wert" doch nur scheinbar als solcher, in Wahrheit aber nur im Verhältnis zu den konkurrierenden oder ähnlichen Lauten. Wie wenig versteht sich dann erst der moralische "Wert" von selbst, geht mit ihm doch die Vorstellung von etwas Höherem einher, das kraft seiner Autorität, der man sich beugt, wie mit einer "unsichtbaren Hand" die Niederungen des Alltags steuert.

Ohne Regeln können Menschen nicht zusammenleben. Aber wieso aus Regeln "Werte" machen? Die ersten Artikel des Grundgesetzes beispielsweise beschreiben Normen, die eine mehrhundertjährige geschichtliche Erfahrung zusammenfassen und sich als Orientierungen im Alltag bewähren. Aber "Werte"? Man versuche einmal, in Kants kategorischen Imperativ den Begriff des Werts hineinzuschmuggeln - es wäre vergebens. Der Witz ist gerade, dass sich die Imperative durch ihre pure Notwendigkeit im menschlichen Zusammenleben durchsetzen und daher dessen nicht bedürfen, dass sie als "Werte" gepredigt werden. Kant argumentiert etwa, die Regeln des Völkerrechts seien so gebaut, dass selbst ein Teufel sich letztlich an sie halten muss. Denn kein höherer "Wert" oder irgendein Glaube daran könnte ihn mehr überzeugen als die zwingende Notwendigkeit des Friedens. Aufgeplustert, ideologisch überhöht, als eine höhere Macht dargestellt, taugen die menschlichen Regeln, nach Kant wie nach Marx, lediglich zur Legitimation selbsternannter Moralapostel, die auf Rhetorik mehr geben als auf die Vernunft, die grundsätzlich jeder und jedem zuteil ist.

Wer sich diese Einsichten ins Gedächtnis ruft, könnte sich über die anhaltende Konjunktur der "Werte" wundern. Offenbar ist der Bedarf an Höherem gestiegen. Nahm die sozialdemokratische Staatsphilosophie der siebziger Jahre noch ihren Ausgangspunkt bei der Einsicht, dass in einer modernen, spätkapitalistischen Gesellschaft die Heterogenität der Lebenslagen keinen Grundkonsens über gemeinsame Werte und Überzeugungen mehr zulasse und dieser nurmehr in einem gemeinsamen Regelbestand kommunikativen Handelns bestehen könne, so scheint nunmehr die Devise zu gelten, dass globalisierte "Freizeit-" und Einwanderungsgesellschaften mit ihren auseinanderdriftenden Lebensweisen nur noch durch einen gemeinsamen Wertehimmel zusammengehalten werden können. Je größer der "Stress" wird, den die Leute zwangsläufig miteinander haben, desto lauter werden die "höheren Werte" beschworen, welche die Rückkehr zum gesellschaftlichen Frieden versprechen.

Es braucht wenig analytischen Tiefblick, um zu erkennen, dass diese gesellschaftliche Wertekonjunktur auf dem Mistbeet der Politik gedeiht. Entlastet sich diese doch durch demonstrativen Rückgriff auf außerpolitische Heiligtümer von dem Vorwurf, ihre, wie es in entlarvend pädagogisierendem Jargon heißt, "Hausaufgaben nicht gemacht" zu haben. Eine Politik, die über Jahrzehnte strukturelle Massenarbeitslosigkeit duldet, eine tiefere soziale Zerklüftung der Gesellschaft nicht nur zulässt, sondern geradezu propagiert, auf den kompensatorisch wirkenden Gebieten der Bildung und der Sozialausgaben spart, weiß sich schließlich nicht mehr anders zu behelfen, als Freiheit, Gleichheit, Solidarität mit dem Glorienschein von "Grundwerten" zu versehen. Sie bemerkt vielleicht zu spät, dass die Moralisierung der Gesellschaft unter dem Generalmotto, jeden Tag den Helden der Globalisierung zu küren, auf die Politik zurückschlägt und ihre Funktionsweise nachhaltig verändert.

Denn es bleibt ja nicht dabei, dass Prominente in den Container wandern, um ihr moralisches Überleben unter öffentlichem Dauerstress zu inszenieren, und im Gegenzug die Kleinen in der herrschenden Karaokekultur Auge in Auge mit ihren Idolen von Anfang an dem Wettbewerb ums Gute und Schöne auszusetzen. Nein, die Moralisierung der Öffentlichkeit wird mit einer Remoralisierung der Politik bezahlt. Die westlichen Demokratien erleben keineswegs die Verallgemeinerung des Liberalismus, was nämlich bedeuten würde, dass die Politik sich auf ihr nüchternes Handwerk zurückzöge und der sie kritisch beobachtenden Gesellschaft die Freiheit ließe, nach ihrer Fasson glücklich zu werden. Stattdessen mutiert die Politik selbst zu einem Container: hier fesselt ihr Personal die Aufmerksamkeit des Publikums, indem dieses die Insassen einem moralischen Dauertest unterzieht. Ehrlichkeit, Glaubwürdigkeit, Beliebtheit, Durchsetzungsvermögen der Politiker/innen zählen längst mehr als die Wirksamkeit der von ihnen beschlossenen Gesetze. Die Arbeit der Politik ist unsichtbar, an ihre Stelle ist die Inszenierung von Personen getreten. Die Personen gelten als Personifikationen derjenigen Werte, für die sie, wie in Wahlreden versichert wird, stehen.

So schließt sich der Kreis. Die Arbeit stellte einmal einen der wichtigsten Lebensbereiche dar, in denen skills and morals entwickelt wurden. Die Erinnerung daran, dass die Moral der Arbeit auch Herrschaft und Unterdrückung tradierte, vertreibt zwar nostalgische Anwandlungen. Immerhin war es "auf Arbeit", wo zu lernen war, wie die individuellen Fähigkeiten in einen gesetzmäßigen, Naturnotwendigkeiten beerbenden Prozess eingeflochten waren; wie Verbindlichkeit und Solidarität nüchtern aus Kooperation entstehen; wie Produktion von Stolz gekrönt sein kann. Kein Proletenkult, der daraus wiederum eine Ideologie machte, konnte diesem Erbe der Arbeit die Krone stehlen.

Die Heutigen sollen mit anderer Nahrung groß werden. Statt der Fähigkeit zu arbeiten sind "kommunikative Kompetenzen" gefordert. Etwas darzustellen, Präsentation - letztlich seiner selbst, auch wenn es um die Sache geht - wird zum A und O. Statt Kollegin oder Kollege zu werden, mausert sich jeder zu seinem eigenen PR-Agenten. Die Werbewelt hat sich, auch wenn alles aus Arbeit hervorgeht, vor die Arbeitswelt geschoben. Die Marken werben längst nicht mehr mit den Vorzügen der Produkte, die, wenn auch entfernt, noch an die sie hervorbringende Arbeit erinnern. Sie stellen, wie die Politik, die Werte in den Vordergrund, für die sie stehen. Wer glaubt, ein Produkt zu kaufen, scheint sich zu täuschen. Er tauscht lediglich Geldwert gegen moralischen Wert. Wie die Gesamtbilanz einer so rechnenden Tauschgesellschaft aufzumachen ist, weiß noch niemand.


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