Produzenten des Chaos

Krieg & Politik Was deutsche Politiker zur Zeit übersehen: Wer in einen Krieg eintritt, muss wissen und bekennen, dass damit das Gebiet der Verantwortung verlassen wird

Kürzlich hat wieder ein Minister die Verantwortung übernommen. Merkwürdig, dass damit in unserer Kultur gemeint ist, dass einer davonrennt, statt die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Er war zu der Zeit ein Kriegsminister, der von Krieg nicht reden mochte. Auch hatte er, nach vorherrschendem Verständnis, die Verantwortung nicht dafür zu übernehmen, dass bei einem deutschen Angriff im fernen Zentralasien viele Zivilisten umkamen. Vielmehr wurde ihm zum Verhängnis, dass er über das Verhängnis nicht rechtzeitig und offen informiert hatte. Offen ausgesprochen, wäre das Verhängnis nicht sein Verhängnis geworden, sondern wäre das der zivilen Kriegsopfer geblieben.

Am gleichen Tag beauftragten die Abgeordneten, die den besagten Rücktritt entgegennahmen, die deutschen Soldaten, den „Krieg gegen den Terror“, wie es die USA von Anfang an nannten, in Afghanistan ein weiteres Jahr fortzusetzen. Nicht nur aus der Koinzidenz der Ereignisse geht eindeutig hervor, dass – wie es von verantwortlich handelnden Politikern nicht anders zu erwarten ist – die Kriegshandlungen, die demnächst ins neunte Jahr gehen werden, durchaus als verantwortbar betrachtet werden. Die Vorsilbe „ver-“ bezeichnet in der deutschen Sprache eine Steigerung oder Intensivierung, wie in „verarbeiten“ oder „verschließen“. Wer auf Fragen zu seinem Tun nicht nur antwortet, sondern dieses auch noch verantwortet, muss zu verstehen geben wollen, dass er die Folgen trägt – oder mindestens mitträgt.

15 Jahre nach dem Bürgerkrieg in Ruanda sind weite Teile der dortigen Gesellschaft noch von den Folgen des Genozids im Jahr 1994 traumatisiert. Wagt irgendjemand eine Prognose, wann die tiefen Wunden geheilt sein werden? Passt der Begriff „Verantwortung übernehmen“ zu den damals 14-Jährigen, die inzwischen in ihre Dörfer zurückgekehrt sind oder dies nie mehr können? Welchen Sinn stiftet die Vorstellung, diejenigen Machthaber, die damals die Lunte an das Pulverfass legten, oder die internationalen politischen Eliten, die dabei zusahen, würden Verantwortung für das Geschehen und seine Folgen übernehmen? Zwischen dem wirklichen Leben in seinem häufig katastrophalen Verlauf und den Worten klafft eine gewaltige Kluft.

Nicht messbares Unglück

Außenminister Westerwelle kann sich nicht damit anfreunden, die Vertreterin der deutschen Vertriebenenverbände würde mit Vertretern Polens gemeinsam im Stiftungsbeirat einer Gedenkstätte für die Flüchtlinge und Vertriebenen des Weltkriegs sitzen. Sein Problem ist – 70 Jahre nach Kriegsbeginn – eine Kriegsfolge. Man muss nur einmal den Gedanken zu denken versuchen, jemand hätte vor 70 Jahren zu behaupten versucht, er würde für die Folgen des eben begonnenen Krieges die Verantwortung übernehmen, also auch dafür, dass Herr Westerwelle besagte Schwierigkeit mit der Vertriebenenpräsidentin hat.

Als deutsche Soldaten nach Afghanistan gingen, hatte dieses Land schon fast zwei Jahrzehnte Krieg hinter sich. Nach allem, was jede und jeder gerade in Deutschland wissen muss, werden diese Jahre und jedes weitere Jahr Krieg Folgen zeitigen, die in weiteren Toten – selbst in Friedenszeiten –, in nicht messbarem Unglück, in Abermilliarden Aufbaukosten und eher in Jahrzehnten als in Jahren zu messen sein werden. Ist es überhaupt einem Begriff oder auch nur einer Vorstellung zugänglich, derzeit Beteiligte würden, sagen wir, für das Leben der Enkel in Afghanistan so etwas wie Verantwortung übernehmen? Was sollte das – außer einer so zeitungs- wie talkshowtauglichen Sprechblase – sein? Wer kann die Wirkungsketten, die, sagen wir, durch die Bombardierung zweier Tanklastzüge am 4. September 2009 mit einer dreistelligen Zahl von zivilen Opfern, in dem Dorf, in der Region ausgelöst worden sind, in die Zukunft verfolgen, durchbuchstabieren und für irgendeine der Folgeglieder, sagen wir in ein, zwei, geschweige denn in zehn Jahren etwas übernehmen, das Verantwortung genannt werden kann?

Nun könnte gegen diese Überlegung eingewendet werden, ihr liege ein grundlegendes Missverständnis menschlichen Tuns und vor allem des Verantwortungsbegriffs zugrunde. Schließlich könne, zum Beispiel, einem Dieb, der eine chinesische Vase von erheblichem Wert stielt und dabei nicht ermisst, dass der Besitzer mit Haut und Haaren diesem Gegenstand verfallen ist, den Raub bemerkend, unverzüglich zusammenbricht und sich von diesem Schlag niemals mehr erholen kann, nicht zugemutet werden, diesen Zusammenhang bei seinem allerdings verwerflichen Tun in Rechnung zu stellen und, neben der widerrechtlichen Aneignung des ihm nicht gehörenden Gegenstandes, auch noch den Tod des Besitzers zu verantworten. Ja, der oben entfaltete Gedankengang wird sich dem Verdacht aussetzen, er wolle jegliche Unberechenbarkeit menschlichen Tuns und somit jede Ungewissheit des künftigen Weltenlaufs eliminieren und fröne der Vorstellung von einer illusorischen, fast allmachtstrunkenen Berechen- und Beherrschbarkeit der Folgen jeglichen Handelns. Schlimmer noch, würde doch die Vorwegnahme aller nicht verantwortbarer Folgen heutigen Tuns zugleich alle Zukünftigen von aller Verantwortung entlasten, aber folglich auch aller Freiheit des Handelns berauben.

Dies wäre allerdings eine so unsinnige wie unvernünftige Argumentationsgrundlage. Doch wir reden hier nicht von einem Hausbau an der Kante eines womöglich in zehn Jahren aufreißenden Kraters, auch nicht vom ungesunden Leben, das den Nachfahren womöglich die Erbsubstanz ruiniert oder auch nicht. Wir reden vom Krieg, und Krieg ist anders. Hausbau ist Aufbau – Krieg Zerstörung. Wohl wahr, jedes gebaute Haus ist auch eine Verhinderung, es verhindert die Landwirtschaft oder die freie Sicht an derselben Stelle. Aber das ist nur die Veränderung durch jegliches Tun, das jedoch reversibel bleibt. Es gibt keinen Krieg, der nicht Irreversibilitäten für eine lange Zeit schaffte. Gewiss, die zynische Vorstellung vom Krieg als magnus creator begleitet die Moderne, sei es als „Vater aller Dinge“, sei es als Herr der tabula rasa, welche der nächsten Generation die Freiheit lasse. So etwa die Phantasie des Protagonisten Franz Marc, der sich vom Krieg, in dem er wenig später umkam, den Bahnbruch für die neue Kunst versprach. Kandinsky widersprach freundschaftlich-hart und behielt schrecklich recht.

Illusion von der Planbarkeit

Man muss den Krieg gedanklich vom Militärischen trennen. Das Militär mit seinem durchgehenden Professionalismus, mit seiner Krieg-als-Wissenschaft-Ideologie setzt den Krieg in Parallele zum Hausbau. Doch sind die Soldaten abgezogen, bleibt nichts mehr von ihrer Wissenschaft und Technik, dann bleibt die Zerstörung. Was das Militär der Politik antut, ist die Illusion von der Planbarkeit des Krieges. Schon auf die Politik allein bezogen, bleibt die Vorstellung von einer wissenschaftlichen Politik, das sagen die Besten dieses Faches, problematisch. Wie sehr erst für den Krieg, der, soweit er eine Produktion ist, aus der Produktion von Chaos besteht. Je länger ein Krieg dauert, das lehrt die Erfahrung, desto größer wird der Chaosanteil und der desto geringer seine Planbarkeit. Das wissen alle, daher das laute Pfeifen beim Gang in den Abstimmungskeller: Joschka Fischers Auschwitz-Vergleich vor dem Luftschlag gegen Serbien im Jahr 1999, George W. Bushs Hitler-Vergleich vor dem Irak-Krieg.

Aber, so hören wir, der Krieg ist doch so anders geworden: „neuer“ Krieg. Jahrelang verkauft die deutsche Regierung ihrem Volk den Krieg in Afghanistan als von einer Art Polizei begleitete Entwicklungshilfe. Wenn die ersten Entwicklungshelfer als Komplizen des Militärs „verwechselt“ und erschossen werden, sich zurückziehen und distanzieren, fliegt der Betrug auf. Jetzt wird deutlich, dass es ein grundlegender Fehler war, das postmoderne Kombattanten-Zivilisten-Mimikry, dessen sich die Terroristen bedienen, umdrehen und gegen sie nutzen zu wollen. Die Wissenschaft entdeckt, nach all der Rede von den „neuen“ Kriegen, deren alte Vorläufer, die internationale Politik experimentiert an der unscharfen Grenzlinie von Verbrechen und Krieg, von Polizei und Militär, von Hilfe und Vergeltung. Eine wache Öffentlichkeit wird sich durch diese Verwirrspiele nicht beirren lassen, sie wird die Erinnerung an solche Momente der Weltpolitik wachhalten, da selbst ein Franz Josef Strauss, späterer Verteidigungminister und Betreiber der atomaren Aufrüstung, nach 1945 das Wort von der Hand sprechen mußte, die in Deutschland verdorren sollte, würde sie noch einmal zu einer Waffe greifen.

Es mag gute Gründe für einen Waffengang geben. Ein Land mag sich zu einer Kriegsbeteiligung gezwungen sehen. Aber aus überschießendem Rechtfertigungsdruck den unhaltbaren Gedanken zu formulieren, der Krieg sei verantwortbar, muss als schwerster Fehler erkannt und zurückgewiesen werden. Wer in einen Krieg eintritt, muss wissen und bekennen, dass somit das Gebiet der Verantwortung verlassen wird und das nicht verantwortbare Handeln beginnt. Der Gedanke, Krieg sei – im Sinne des Wortes – nicht verantwortbar, bedeutet nicht, dass Kriegsverbrecher nicht zur Verantwortung gezogen werden könnten. Sie stehen dafür gerade, dass sie die wenigen und schwachen Regeln zur Einhegung eines prinzipiell unabsehbaren Handelns auch noch gebrochen haben. Politiker müssten für eine Unmöglichkeit einstehen: unabsehbare Folgen zu beherrschen.

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