Man muss einmal hier gewesen sein - im Wald von Compiègne. Auf dem Weg vom Parkplatz zur Gedenkstätte ist es staubig und schwitzig. So war es damals nicht, im November 1918, sondern trübe und nasskalt. Die Landschaft ist flach und es scheint unendlich viel Raum zu geben. Der Blick verliert sich von hier aus in den Weiten des europäischen Kontinents, über die sich der Krieg ausdehnte. In dem Haus aber, das eine Replik des historischen Waggons enthält, in dem der Waffenstillstand unterzeichnet wurde, scheint der Krieg keinen Platz zu haben. Wie beruhigend. Alles scheint zusammengerückt - eher wie in einem Wohnzimmer der Erinnerung. Doch draußen kommen von irgendwoher diese beiden Gleise, und die vermögen es nicht, sich zu berühren, nicht einmal im Unendlichen.
Erst nach und nach durchdringt das Bewusstsein die verschiedenen Symbolschichten, die an diesem Ort übereinander getürmt und miteinander verschweißt sind. Wo anders als in einem Eisenbahnwaggon konnte der Waffenstillstand des ersten Weltkriegs unterzeichnet worden sein, wenn doch dieser Krieg sich ohne die enorme Ausdehnung des Eisenbahnnetzes über den ganzen Kontinent nie zum Weltkrieg hätte aufblähen können? Wo zuvor Güterwaggons, beladen mit Kanonen, rangierten, sollten sich der französische und der deutsche Waggon gegenüberstehen. Das braunstichige Foto vom Ort des Geschehens vor Augen, sieht man förmlich die deutschen Arrangeure der Katastrophe ihren Waggon verlassen und im Zickzack zwischen den Bäumen durch das feuchte Laub auf den Waggon des General Foch zu waten. Wer von den Anwesenden sich nicht das Bild von Wilhelm im Spiegelsaal von Versailles vor Augen führte, musste für die zukünftige Geschichte als heillos verloren gelten.
Aber weit gefehlt. Denselben Boden betreten 22 Jahre darauf ein Kanzler Hitler, Marschall Göring, Marschall Keitel, Admiral Raeder, die Generäle von Brauchitsch und Jodl sowie die Minister Hess und von Ribbentrop. Diesmal kommen sie von der anderen Seite und lassen die Franzosen warten. Außer der Demütigung, den Waffenstillstand von 1940 an diesem Ort unterzeichnen zu lassen, tun sie den Besiegten das Schlimmste an, was man einem Feind antun kann. Denn schlimmer als der Tod ist die Vernichtung der Symbole, die ein Fortleben garantieren könnten. Der Waggon des General Foch wird entführt und verschwindet nach seiner Ausstellung als Trophäe im Berliner Lustgarten für immer irgendwo in Thüringen, wo deutsche Soldaten ihn kurz vor Ende des zweiten Weltkriegs zerstören.
Compiègne im Nordosten und Versailles im Südwesten verbindet eine Linie, die mitten durch Paris und damit durch das Herz Frankreichs geht. Versailles bezeichnet den Namen des Friedensschlusses, der in Deutschland nach dem ersten Weltkrieg nie nachhaltigen Frieden stiften konnte. Können Weltkonflikte überhaupt gelöst werden, deren Linien wie hier in Compiègne und ähnlich in Versailles mehrfach und mit äußerster symbolischer Gewalt konträr übereinandergelegt, verknotet und festgezurrt worden sind? Wenigstens dieser Zweifel beschleicht einen auf dem Weg von den massiven und irreal pathetischen steinernen Geschichtszeichen, die die französische Nation in den Sand neben den Gleisen von Compiègne geschrieben hat. Kein Stein kann groß genug sein, keine Form überwältigend genug, um darzustellen, was hier dargestellt werden müsste.
Beim Betreten des Museums gerät man in eine andere Symbolwelt. Der schellackglänzende Waggon lädt fast dazu ein, im warm erleuchteten Inneren am Verhandlungstisch Platz zu nehmen und verströmt diese Atmosphäre erlebter Geschichte, die von den Heimatmuseen der älteren Generation vertraut ist. Alles spricht so hemdnah die Sprache der Authentizität, rückt so auf den Leib und ist doch so unendlich fern in eine nicht mehr erreichbare Schicht der Historie entrückt. Die Originale von Dokumenten sind in der anschließenden Rotunde, wo nur geflüstert wird, fein unter Glas in Vitrinen deponiert, deren dunkles Holz besagt, dass hier Staub sein muss, auch wenn täglich Staub gewischt wird.
Die Besucherinnen und Besucher, zwischen acht und 80 Jahre alt, können sich dem Sog der im Kreis angeordneten panoptischen Gucklöcher mit uralter 3-D-Technik nicht entziehen, die ihnen einen Schwarz-Weiß-Blick auf die Schlachtfelder gewähren. Jede dieser rissigen Photographien, die nicht mit "F" geschrieben werden wollen, gibt als erstes zu verstehen: Ich bin ein Dokument. Was sie in Wahrheit dokumentieren, hat einen schweren Stand gegen die undurchdringlichen Schichten der tausendfachen Hollywood-Versionen der Geschichte, durch die hindurch die Betrachterinnen in die geheimnisvollen Räume hinter den Gucklöchern schauen. Die Uniformmännchen und die Tanks scheinen wie in animierten Kinderbüchern aus der Zweidimensionalität des Schwarz-Weißen einfach hochgeklappt zu sein.
Demgegenüber muten die lauten Historien-Genrebilder in Acrylfarben hoch über den Köpfen mit ihrem Hyperrealismus, der irgendwo zwischen amerikanischer Popart und Projekttag des benachbarten Lyceums zu liegen kommt, schon wieder gegenwärtig an. Hier schlägt, etwa in solchen Themen wie "Abschied von der Liebsten", distanzlos die immer schon zugestandene, fraglos legitime Subjektivität und Parteilichkeit durch, die wir nur deshalb so stark bemerken, weil sie sich in der heutigen Museumswelt nicht mehr gehört. Im Wald von Compiègne gewährt uns die Geschichte einen Moment der Erschütterung durch einen kurzen Einblick, der nur durch die altehrwürdige Präsentationstechnik freigegeben wird. Diese baut gerade so viel Distanz auf, dass uns die Irritation vom Scheinrealismus des Geschichtsfilms in unserem Kopf ablenkt und die Monstrosität des Versuchs bewusst macht, den nicht mehr zu lösenden Knoten symbolischer Gewalt im Nachhinein wenigstens noch einmal sichtbar zu machen.
Man muss Antikriegsmuseen in der ehemaligen Sowjetunion besucht haben, etwa das Stadtmuseum Leningrads, man muss die jungen Leute erlebt haben, die sich einander versprochen haben und am Tag der Hochzeit die Kippe über die Kaimauer in die Newa werfen, um sich in die Bunkeratmosphäre der Ausstellung zu begeben, die zerknitterte Komsomoljacke mit Einschussloch hinter Glas anschauen, sich durch die nachgebauten Trümmer bücken und dort die vom knisternden Tonband eingespielten Geräusche des Fliegeralarms und das Donnern der Bombeneinschläge mitnehmen und mit einem unterdrückten Lachen quittieren, der in die Gegenwart zurückführt. Da war Compiègne ganz nah und der Systemgegensatz verschwand hinter der Wucht einer kaum heilbar verletzten Nation.
Frankreich kann auch ganz anders ausstellen. Die Franzosen sind, wie bekannt, naive Technikfans und machen etwas daraus. Wer sich den Luxus gönnt, von Compiègne aus noch die drei Stunden nach Sancerre zu fahren, um das Maison des Sancerres und die ins fruchtbare Gestein gehauene Weinbau-Ausstellung zu besuchen, dem wird eine Erfahrung der anderen Art zuteil. Auf geschliffenem Kalksandstein gleitet die Besucherin im Halbdunkeln zwischen Pilastern in Glas und Holz hindurch, Vitrinen, aus denen perfekte Videoanimationen die Gesichter mit rasch wechselnden Farbspielen überflackern. Im größten Raum stehen wir gebannt um ein animiertes, mehrere Quadratmeter großes Landschaftsrelief der Weinberge von Sancerre, das die verschiedenen Böden mit ihren Rebsorten aufleuchten lässt, Hanglage und Feuchtigkeit sowie Sonneneinstrahlung so eingängig darlegt, dass jeder überzeugt ist - hier konnte nie etwas anderes als weltberühmte Weine angebaut werden.
Im Prospekt heißt es dazu: Entdecken Sie alle Geheimnisse eines Territoriums mit besonders komplexem Boden. Das könnte auch über den Wald von Compiègne gesagt sein. Nichts gegen die astrale Technik der außergewöhnlichen Ausstellung in Sancerre, gebaut aus dem Surplus weltweiten Verkaufs teurer und sehr guter Weine. Ein Deidesheim kann nur davon träumen, so einen Ausstellungsort zu besitzen. Aber bitte lasst das altmodische Compiègne bestehen, bitte lasst uns diesen Riss im Bewusstsein, diesen befremdenden Spalt im Boden der Geschichte. Wenn ich wiederkomme, will ich dasselbe alte Holz der Guckkästen sehen, dieselben verstaubten Dinge und dieselben obszönen Bilder oben an der Wand, die allein im Kopf den notwendigen Wirbel zu erzeugen vermögen.
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