Schule ohne Rütlischwur

Beschleunigung Wie sich die Politik um eine Systemveränderung herumdrückt

Erinnert sich noch jemand an die Rütli-Schule? War das nicht dieser Anlass für die Medien, ihre jährliche Schule-Gewalt-Diskursorgie zu veranstalten? Und? Was hat sich geändert? Sofort kam ein neuer Schulleiter, die Schule konnte von Glück sagen, wenn sie ihn behalten durfte. Was weiß die Öffentlichkeit über die beiden aus dem Stand beorderten Sozialarbeiter? Sind sie nicht bereits wieder ins Bezirkskontingent zurückgewandert?

Schwarzmalerei, Miesmacherei? Hat man nicht diese kessen und sympathischen Hauptschüler unter Anleitung einer Künstlertruppe tanzen und singen sehen? Standen nicht sofort Sponsoren auf der Matte? Hat sich nicht buchstäblich die ganze Gesellschaft rührend um diese Schule gekümmert und geradezu überwältigend demonstriert, dass sie alles andere sei als eine "Restschule"?

Doch nun ist Wahlkampf in Berlin. Jetzt zieht der gewöhnliche Trick nicht mehr, sich um langfristige Problemlösungen durch kurzfristigen Medienrummel herumzudrücken. Nun ist die Zeit vorbei, in der die täglich vermeldeten Alarmschreie weiterer Schulen über den Marktplatz der Aufmerksamkeit schallen, so dass der Verdacht aufkommen konnte, das Rütlispiel sei die letzte Waffe, um dem hartleibigen Finanzsenator noch eine Stelle aus dem Kreuz zu leiern.

Nein, schon die vermeintliche Diskussion vor einem halben Jahr war heuchlerisch. Als hätte es die Tagungen und Kongresse zur Hauptschule nicht gegeben, die in den vergangenen 20 Jahren stattfanden. Wurde überhaupt über Schule diskutiert? Mitnichten. Für die meisten Politiker war die Rütli-Schule nur ein willkommener Anlass, ihre altbekannten Thesen über fehlende Integration, über "deutsche Leitkultur" und die angebliche Blauäugigkeit von "Multikulti" noch einmal aufzutischen.

Erinnern wir an die bekannten Tatsachen: Alle wissen seit Jahrzehnten, dass die Hauptschule, statt ihrem Namen Ehre zu machen, die Restschule des dreigliedrigen Systems ist. Alle wissen, dass eben dies bedeutet: hier landet der Rest der Gesellschaft, der von Gymnasium und Realschule nach unten weitergereicht wurde und der auch an den relativ wenigen Gesamtschulen keinen Platz gefunden hat.

Alle wissen seit mindestens zehn Jahren, dass die Migranten der zweiten und dritten Generation unter den Schulversagern und Arbeitslosen einen überproportional hohen Anteil stellen. Wenig geheimnisvoll, dass von ihnen viele an der Hauptschule landen.

Alle Politiker und Journalisten haben in den vergangenen 15 Jahren in ihrem Umkreis mehrfach davon gehört - oder selbst gesagt und geschrieben -, dass sich die soziale Stratifikation der Global Cities, nach einer Periode des partiellen Ausgleichs in den siebziger und beginnenden achtziger Jahren, wieder verschärft hat. Nur wer auf Durchzug stellte, konnte die Einsicht verpassen, dass - etwa im Vergleich zwischen den Berliner Bezirken Neukölln und Zehlendorf-Steglitz - sich die Chancenungleichheit vertiefte und, die Thesen 1 und 2 hinzugerechnet, so etwas wie eine "Rütli-Schule" früher oder später auftauchen musste.

Es ist allgemein bekannt, wie diese soziale Stratifikation der Stadt funktioniert. Wir haben beobachten dürfen, wie die neuen Mittelschichten aus den Kreuzberger Kiezen nach Prenzlauer Berg zogen - was wunder, dass sich die kulturellen Infrastrukturen veränderten? Sicher doch fuhren die Reporter der FAZ und des Tagesspiegel zur Rütli-Schule und stellten fest, dass die Jugendlichen, wie zu lesen war, gar nicht dumm sind. So, wie man erst dachte, oder? Natürlich, so waren sich alle einig, muss etwas getan werden für die Rütli-Schulen der Nation. Aber würden sie Ihr Kind - soll es vielleicht von den Prolls "runtergezogen" werden? - mit diesen zusammen auf eine Schule schicken? "Spiel nicht mit den Schmuddelkindern". Warum fasst sich die Bürgergesellschaft nicht zuerst an die eigene Nase, bevor sie nach der Politik ruft? Schließlich hat sie über Jahrzehnte ihre Kinder von irgendeiner potenziellen Rütli-Schule auf ein feines Gymnasium umverteilt. Nun wunderte sich Berlin-Zehlendorf, dass es genau die Neuköllner Hauptschule serviert bekam, vor der es schon immer gewarnt hatte.

Die wenigen Modell-Hauptschulen, welche sich durch als Schulversuche genehmigte Förderprogramme, insbesondere wohl durch die Zusammenlegung von Haupt- und Realschule aus dem Schulelend herausgerappelt haben, sind x-mal in der Öffentlichkeit vorgestellt worden. Wer sie immer noch einmal, sie können es brauchen, auf Seite zwei oder in der Berliner Abendschau bringt, aber nun als neuesten Hit, verlässt sich darauf, dass wir so vergesslich sind, wie uns die Medien haben möchten. Wer stellt die Frage, warum nicht alle Hauptschulen Modellschulen sind?

Wohlweislich wird über das Gymnasium in diesem Zusammenhang nicht geredet. Das Publikum soll auf die Gedankenschiene geschoben werden: manche Hauptschulen müssen sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen, andere tun sich mit einer Realschule zusammen. Im Ergebnis würde aus einer Dreiklassen- eine Zweiklassenschule werden - und damit wären dann alle Probleme gelöst, oder? Und vor allem: warum sind wir da nicht schon früher drauf gekommen?

Die Medienkampagne schlich, wie die SPD - und insofern zeigt sie sich als SPD-Kampagne -, um das Gymnasium herum wie die Katze um den heißen Brei. Als würde sich niemand mehr daran erinnern, dass nach PISA, wie es nach der Bildungszeit neuerer Rechnung immer heißt, gewichtige Stimmen in der SPD von einer neuen Aktualität der Gesamtschule sprachen. Jeder weiß, dass darin ein großes Korn Wahrheit steckt. Und jeder weiß, dass die SPD den Teufel tun wird, sich noch einmal, wie in den siebziger Jahren, von ihren Zehlendorfer, Pöseldorfer oder Westender Professoren, Journalisten und Mittelständlern als Bildungssau durchs Dorf jagen zu lassen.

Es ist ein Diskurskunststück höchsten Grades, dauernd von Integration zu sprechen, ohne dabei auch nur einmal Gefahr zu laufen, von diesem Begriff auf den Namen der integrierten Gesamtschule hinüberzuspringen. Deutschland befasst sich eben lieber mit dem Thema "Ali der Undeutsche" als mit Peter der Pinkel.

Der Gedanke, der in Deutschland nicht gedacht werden kann, ist der, dass Peter Ali nicht einfach die Mathehausaufgaben abschreiben lässt, sondern mit ihm gemeinsam für die nächste Klassenarbeit lernt, und zwar so, dass beide etwas davon haben. Er, dessen Mutti in seinem sechsten Monat die Kurse zum pränatalen Zweitsprachenerwerb besuchte, könnte Zeit verlieren auf dem Weg, mit 22 den Doktorhut über die Ohren zu drücken und ins Trainee bei der Deutschen Bank einzusteigen. Scherz beseite, warum wurde die Diskussion über die Rütlischule nicht als Diskussion über die EU-Integration geführt? Die Problemstrukturen ähneln sich. Wird doch für eine Integration der Türkei in die EU angeführt, sie helfe, eine womöglich nicht zu bändigende Nachbarschaft zu neutralisieren.

Die Schulentwicklung wird weniger unter dem Stichwort der "Integration" als unter dem der Beschleunigung betrieben. Schnellläuferklassen, Schulzeitverkürzung, Frühbeginn der Fremdsprachen. Ist es ungerecht zu behaupten, dass diese Gesellschaft in den vergangenen Jahren der Förderung der oberen fünf Prozent mehr Aufmerksamkeit geschenkt hat als der vernünftigen Beschulung der unteren 20? Hochbegabtendiagnose und -förderung - sehr wichtig. Aber wird nicht die Zukunft der Gesellschaft viel entschiedener bestimmt durch die Frage, was mit den 20 Prozent am unteren Rand des Leistungsspektrums geschieht?

Alles dies ist bekannt. Eingefüllt in die Zerstreuungsmaschinerie des politisch-medialen Komplexes, formen sich daraus keine verbindliche Einsicht und keine politische Strategie. Die Nichtintegrierten sollen sich integrieren, die Hauptschulen sollen besser werden, die Lehrer sollen wieder mehr lehren, die Eltern sollen mehr Mut zur Erziehung haben - das war´s dann, bis zum nächsten Mal.

Die Bürgerinnen und Bürger müssen sich von der Politik immer wieder vorhalten lassen, sie hätten nicht - wie in anderen Ländern - den Mut zum großen Wurf, zu entschiedenen Schritten auf dem Weg zur Reform der Sozialsysteme, auch wenn dies für sie mit Einschränkungen und Risiken verbunden sei. Muss Mann und Frau sich das sagen lassen? Seit PISA liegt die Gesamtschule in der Luft. Die Linkspartei/PDS bringt eine Einheits- oder Gemeinschaftsschule ins Spiel, die Grünen hängen sich an. Nun wird die Berliner SPD nach einem Wahlsieg einzelnen Gesamtschulen empfehlen, sich mit benachbarten Grundschulen zusammenzutun und somit eine Art grundständige Gesamtschule zu bilden, wie es in der Gymnasiallandschaft längst schon gang und gäbe ist. Soll das der mutige Schritt sein, wie er den Bürgern täglich abverlangt wird?

Was wäre das für eine Chance, die Gesamtschule angesichts der sozialen Verwerfungen der Global Cities und des nachwirkenden PISA-Schocks neu zu erfinden, beweglicher zu gestalten als in den siebziger Jahren, was die Förderung von "unten" und "oben" betrifft, was Wege der inneren und äußeren Differenzierung angeht oder die Formen, in denen Schulgröße und Gruppenzusammenhalt der Jugendlichen in ein vernünftiges Verhältnis zueinander gebracht werden. Auch die Gesamtschulen haben ihre Vorzeigeexemplare. Bei näherem Hinsehen hängt ihr zweifelsfreier Erfolg von wenigen, ganz einfachen Dingen ab:

- Die sie umgebende Bürgergesellschaft erfüllt die Gründungsbedingung, neben Haupt- und Realschülern auch mindestens ein Drittel Gymnasiasten auf sie zu schicken.

- Die Schulverwaltung lässt ihr Gestaltungsraum, um die Grundidee Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen zu realisieren.

- Die Ausstattung und die Erneuerung des Personals, vom Medienwart bis zur Fachleiterin Physik, erlaubt ihr, aktuell zu bleiben, was den Einsatz neuester Methoden des Forderns und Förderns im Unterricht betrifft.

Es kann gut sein, dass bei einer solchen Erneuerung ein paar heilige Kühe der Gesamtschule geschlachtet werden - oder auch nicht. Das Notensystem, genannt FEGA, haben seit Bestehen der Gesamtschule vermutlich kaum zehn Prozent der Eltern verstanden. Mag sein, dass schon das, der Bierdeckelphilosophie zufolge, dagegen spricht. Oder eben auch nicht. Ein Stück Ehrlichkeit der Gesamtschule würde auch dazugehören, was die verbreitete und schädliche Tendenz angeht, im Zweifelsfall eher nach unten zu nivellieren. Vielleicht wäre das eine gute Voraussetzung für das Eingeständnis der dogmatischen Verfechter des Gymnasiums, dass nicht selten zwischen zwei Gymnasien, die kaum fünf Kilometer voneinander entfernt sind, ein tieferer Niveaubruch besteht als zwischen einem (G)rund- und einem (F)ortgeschrittenenkurs der benachbarten Gesamtschule.


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