War nicht "Reformstau" einmal das (Un-)Wort des Jahres? Jedenfalls kranken die gegenwärtigen Reformen in Deutschland am wenigsten daran, dass über sie zu wenig geredet wird. Ob es immer erhellend ist, steht auf einem anderen Blatt. Umfragen fördern seit Jahren das widersprüchliche Ergebnis zutage, dass sich die Menschen, was die allgemeine Einsicht in die Notwendigkeit, ja - die Überfälligkeit von Reformen in Deutschland angeht, ohne Vorbehalt an die Seite der Regierungen werfen, ebenso vehement jedoch Unzufriedenheit mit jeder einzelnen Reform bekunden. Wasch mich, aber mach mir den Pelz nicht nass - ist es das?
Das Land ist keineswegs arm an Analysen von Reformprozessen. Vielleicht darf von einer Ulla Schmidt keine vertiefte Kenntnis der Debatten über die Dialektik von Reform und Revolution erwartet werden, sowenig wie Franz Müntefering in Implementations- und Evaluationsforschung firm sein muss, auch wenn es sich um politologische Ansätze handelt, die nicht zuletzt angesichts der Reformruinen entwickelt wurden, die seine Partei in den siebziger Jahren hinterließ. Aber vielleicht erinnern sich beide noch - warum nicht auch Fritz Kuhn? - an die Unterscheidung: Reform-von-oben oder Reform-von-unten. Spüren sie doch alle schmerzlich den Unterschied zwischen einem sich selbst tragenden Prozess, von Massenbewegung und -begeisterung grundiert, und der heutigen Übung, bei der das angeblich Notwendige ins Volk hineingeprügelt werden muss.
Als die Reform schon weit vorangetrieben ist, überlegen es sich die Politiker anders
Allerdings hat sich die Reformuhr, verglichen mit den siebziger Jahren, weitergedreht. Der Zeiger steht heute auf einer Art von Reformen, die womöglich einmal als retrograde oder sich selbst zerstörende Reformen bezeichnet werden. Sie sind nicht nur durch jenen passiven Widerstand der Menschen gekennzeichnet, welcher Politikern den Eindruck aufdrängt, sie würden in einem immer dichter werdenden Medium rudern, nein, sie verwandeln sich, je länger sie betrieben werden, immer mehr in eine Serie von Selbstdementis, welche früher oder später den letzten politischen Lebenshauch, von Rückenwind ganz zu schweigen, abwürgen.
Werfen wir zum Beispiel einen Blick auf die landauf, landab laufenden Bildungsreformen. Die sogenannte Rechtschreibreform ist ohnehin als Musterbeispiel einer sich selbst zerstörenden Reform in die Geschichtsbücher eingegangen. Mustern wir daher die eher nicht so bekannten Hintergründe der Schulreformen. Ein Landesminister setzt, dem allgemeinen Trend zur Schulzeitverkürzung folgend, eine Reform der gymnasialen Oberstufe in Gang und verfolgt dabei die Kompromisslinie, aus 13 nicht zwölf, sondern zwölfeinhalb, oder, genau nachgerechnet, zwölfdreiviertel Jahre zu machen. Nach vielen Diskussionen, während noch die Wogen von Zustimmung und Ablehnung hoch gehen, wird die zuständige Rechtsverordnung angepasst, die Schulen stellen sich bereits auf die neuen Verhältnisse ein. Als die Reform schon weit vorangetrieben ist, überlegen es sich die Politiker anders: nicht zwölfeinhalb, sondern zwölf Jahre sollen es sein. Nicht nur, dass diese andernorts längst praktizierte Lösung von vielen schon zuvor gefordert worden war, alle Argumente, die einmal öffentlich für die verquetschte Zwischenlösung angeführt worden waren, sollten über Nacht ihre Gültigkeit verloren haben. Das Heer derjenigen, die eine solche Reform vor Ort würden umsetzen und gegen Kritiker verteidigen müssen, war gründlich an der Nase herumgeführt und marschierte, von einem auf den anderen Tag, in die entgegengesetzte Richtung.
Warum auch nicht. Schließlich gehört es zu den Privilegien des politischen Souveräns in parlamentarischen Demokratien, dazuzulernen und sich zu korrigieren. Aber wer wird sich an das ursprüngliche Ziel, die jungen Leute sollten früher in Beruf und Studium gelangen, noch gern erinnern? Ein anderes Anliegen, das sich der Zustimmung bis hin zu deutschen Stammtischen sicher sein kann, betrifft die "faulen Säcke", egal ob sie sich in die letzte Bank verdrücken oder ob sie als gut bezahlte Pädagogen angeblich Zeitungslektüre vorn am Pult betreiben: endlich überprüfen, endlich dem Wettbewerb aussetzen, so tönt es landauf, landab. Es dauert noch ein, zwei Jahre, bis das Wirken pädagogischer "Marktpreise" so richtig ins öffentliche Bewusstsein dringen wird. Aber eines kann heute schon mit Sicherheit gesagt werden: viele werden sich die Augen reiben. Die Eltern, weil sie auf der Suche nach den Ursachen für ständigen Unterrichtsausfall im zweiten Schulhalbjahr darauf stoßen werden, dass eine Prüfung die andere jagt und mitunter die Zeit gefehlt hat, das zuerst einmal beizubringen, was abgeprüft werden soll. Die Politiker, weil sie im Lande Luhmanns die selbstreferentielle Kraft von Systemen unter Stress unterschätzt haben. Denn die Schulen werden, der Not gehorchend - und gar nicht anders als Unternehmen unter hohem Wettbewerbsdruck -, Techniken der Maskierung für die Evaluationsarmeen entwickeln, die auf sie einstürmen. Produktion für den Markt ist nicht immer Produktion für das Leben. Kurzum, die Reform wird hier ihrer Selbstreflexion begegnen, die da heißt: Erkenne den Effekt, der nur für dich und durch dich erzeugt wurde, der jedoch für die Umwelt so flüchtig ist wie das Parfüm für den großen Abend.
Die personellen und finanziellen Ressourcen reichen keinesfalls
Der Teufel liegt auch bei den Reformen im Detail. Die Schulreformen erfüllen eine Reihe von Forderungen, die von Lehrern schon lange erhoben wurden. Das gilt für Ansätze zu größerer Selbstständigkeit der Institutionen ebenso wie für mehr Freiheit in der Anwendung und Ausgestaltung der Lehrpläne sowie für eine methodische Orientierung an zu erwerbenden Fähigkeiten statt an bloßem Lernstoff. Alle diese Segnungen, für die Politik und Verwaltung wärmste Dankbarkeit entgegengebracht werden sollte, verkehren sich jedoch durch die sich selbst dementierende und zerstörerische Art und Weise, wie die Veränderungen ins Werk gesetzt werden, in ihr Gegenteil. Die personellen und finanziellen Ressourcen reichen keinesfalls, um die neuen Strukturen zum Erfolg führen zu können. Die Neuerungen werden in einem die Verwaltungen prinzipiell überfordernden, forcierten Zeitrhythmus eingeführt, so dass die Fehleranfälligkeit der Reformschritte immer beim Maximum liegt.
Man wird sagen: Nur wer nichts tut, macht keine Fehler. Doch darum geht es nicht. Es dreht sich nicht um die "normalen" Fehler, die bei keiner größeren Veränderung prinzipiell vermieden werden können. Auch ist die vielfach schlechte Reformstimmung nicht einfach darauf zu schieben, dass bei jeder Veränderung konservative, beharrende Interessen berührt werden und daher Reformdruck Gegendruck erzeugt. Schließlich ließen sich derartige Widerstände im alltäglichen politischen Gerangel von Für und Wider abarbeiten und das Gute würde schließlich siegen. Nein, die Reformen sind auf eine nie da gewesene Weise von vornherein so angelegt, dass ein Haufen von Misslichkeiten den Blick auf das Wesentliche versperrt. Man schaue nur auf die Reform des Gesundheitswesens. Die Politik doktert seit Jahren an dem Problem herum, dass die Kosten des Gesundheitssystems von der zu geringen Zahl an Einzahlern in die Krankenkassen nicht aufgebracht werden können und daher aus dem Staatshaushalt zugeschossen werden muss. Die Ideen der verschiedenen Parteien und Richtungen, wie das Problem gelöst werden kann, laufen darauf hinaus, abwechselnd verschiedene Schuldige zu finden und denen einen jeweils größeren Teil der Kosten aufzubrummen.
Diese Taktik - von Strategie möchte man schon gar nicht sprechen - wird mittlerweile von allen Parteien mit der Ideologie von angeblich mehr Wettbewerb als Allheilmittel verbrämt. Dass es sich um eine Ideologie handelt, sieht man am besten daran, dass die Gesundheitspolitiker in etwa das versuchen, was der sozialistische Wettbewerb auch versuchte, nämlich die Wirkung des Marktes unter einer Flut von Regulierungen zu entfesseln. Man wartet auf das Hohngelächter, das, mit welchem Recht auch immer, dieselben Politiker für die staatssozialistischen Länder übrig hatten, als diese in den siebziger Jahren versuchten, durch eine "neue ökonomische Politik" Plan und Markt miteinander zu verbinden. Was tun die Gesundheitspolitiker anderes? Sie schreiben den Ärzten vor, wie viele Patienten sie behandeln dürfen, wie viel Medizin sie verschreiben dürfen, und reden von Wettbewerb. Sie versprechen den Patienten, die immer mehr Leistungen "versicherungsfrei" zusätzlich bezahlen müssen, ihre Beiträge würden sinken. Jeder merkt am eigenen Geldbeutel, dass dieser Versuch einer politischen Marktsteuerung gründlich misslingt.
Die gesamte Gesundheitsreform ist bisher ein gigantisches Manöver der staatsmonopolistischen Regulierung unter falschem Namen, ohne den Kern der Sache auch nur zu berühren. Der Kern der Sache besteht, wie lange bekannt ist, darin, dass den Volkskrankheiten, also der Masse der "Fälle", mit der teuren Apparate- und Pillenmedizin nicht beizukommen ist, und dass diese Frage nach der Art der vorherrschenden Medizin bei all den Reformschritten und -modellen nicht gestellt wird. Diese Frage wird nicht gestellt, weil sie an mächtige Interessen rührt, nicht nur an die Interessen der Medizin- und Pharmaindustrie, sondern auch an die Interessen einer und eines jeden, an der obwaltenden Lebensweise möglichst wenig zu ändern. All diese Zusammenhänge sind hinreichend bekannt. Der Gesellschaft genügt es aber, wenn die Probleme auf die boomenden Wellness-, Fitness und Sonstness-Bereiche abgeschoben werden, wenn sie nur keine Berührung mit der Hauptverantwortlichen haben: mit der Gesundheitspolitik.
Das Publikum wird mit allen möglichen vorläufigen und Teilschritten beschäftigt
Dabei gibt es kaum einen Bereich, in dem die Politik sich für denkbare Erfolge von so vielen Menschen feiern lassen könnte, ist doch jede und jeder von Fragen der Krankheit und Gesundheit berührt. Stattdessen versinkt die Reform auch auf diesem Feld im Klein-Klein hässlicher Klientelstreitigkeiten - Ärzte gegen Krankenkassen, Gesundheitspolitik gegen Ärzte usw. -, noch bevor irgendein großer Wurf die Chance erhielt zu zeigen, was Reformpolitik sein könnte. Gerade an diesem Beispiel zeigt sich, dass nicht konfliktscheue Politikerinnen und Politiker die Sache vermasseln, dass nicht die unumgängliche Tatsache, dass es Interessengegensätze gibt und die Politik mit diesen umzugehen verstehen muss, den absehbaren Misserfolg bestimmen. Nein, die vom ersten Augenblick an selbstwidersprechende, sich selbst dementierende Anlage der Reformen programmiert ihren desaströsen Effekt.
Der selbstzerstörerische Effekt der Reformen ergibt sich auch durch die "induktive" Form ihrer Einführung. Hartz I, II, III, IV - welches war der große Wurf und wo sind die Umrisse einer neuen Arbeitsmarktpolitik erkennbar? In der Gesundheitspolitik dasselbe: zuerst wird das Publikum mit allen möglichen vorläufigen und Teilschritten beschäftigt, die "eigentliche" Reform steht noch aus. Gegenwärtig wird über die "Rente ab 67" diskutiert. Doch wo ist die prinzipielle Lösung des Problems der Alterssicherung? Noch bevor das Konzept eines veränderten Sozialstaats zur Abstimmung gestellt werden würde, ist sein Bild in tausend Einzelreförmchen zersplittert. Die Frage nach Systemalternativen kann auf Nebenschauplätzen nicht entschieden werden. Zudem führt die Taktik, immer zuerst einen Versuchstrupp nach dem Motto "Avanti Dilettanti" vorzuschicken, dessen Totalverschleiß abzuwarten - wer wagt noch den Namen "Hartz" zu nennen? - und die Hoffnung auf die "wahren Experten" auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben, totsicher zur Desavouierung der Reform auf dem Wege ihrer Etablierung.
An ihren Taten sollt ihr sie erkennen, - wo gälte das mehr als eben in der Politik. Der politische Effekt der gegenwärtigen Reformen besteht vornehmlich in der langfristigen Entpolitisierung der zu reformierenden gesellschaftlichen Bereiche. Hier erwartet niemand mehr etwas, hier verspricht sich niemand mehr eine tiefgreifende Problemlösung, hier mag niemand mehr Energie und Aufmerksamkeit investieren, weil bereits die Erfahrung vorliegt, dass alles zu nichts führt. Auch erzielte Teilerfolge können unter solchen Vorzeichen nicht mehr als solche wahrgenommen werden. Die Politik kann tragischerweise selbst die kleinen Erfolge nicht mehr für sich verbuchen, was sich nicht zuletzt in der Verunsicherung der Wählerinnen und Wähler aller politischen Lager bemerkbar macht.
Es bleibt die Frage, wem solche sich selbst zerstörenden Reformen nützen, wo sie doch niemand wollen kann. Im Sinne eines intentionalen Ziels ist die Frage nicht zu beantworten. Nur die langfristigen Wirkungen lassen sich als eine Art anonyme Strategie beschreiben. Denn Politiker wie Verwalter der Reformen brauchen den Erfolg, da sie auswechselbares Personal der Demokratie darstellen. Die Bürgerinnen und Bürger brauchen den Erfolg erst recht, schließlich geht es um ihr Leben. Stellte man sich allerdings ein politisches System vor, das unter einem "Überschuss" an politischer Kommunikation litte, die es unter "Stress" setzt, was die Offenheit und Tiefe von Entscheidungen anbetrifft, so mag sich dieses System selbst schützen, indem es allmählich auf allen wichtigen Feldern die Ressource Desinteresse ins Spiel bringt und dadurch den Druck demokratischer Rationalität auf die Politik reduziert. Ein solches System allerdings könnte ein objektives Interesse an jener merkwürdigen Form von retrograden Reformen haben. Es hätte spätestens dann ein Problem, wenn es bei nächster Gelegenheit die konträre Ressource politischen Engagements mobilisieren wollte.
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