Dass weiter kein Bettler ... auf den Straßen oder vor den Thüren der Allmosen halber geduldet werden soll, oder da einer dennoch die Allmosen dergestalt zu bitten betroffen würde, so soll derselbe ohne einige Nachsicht weggenommen, die Ursache seines Bettelns untersuchet, und ... der Bettler als ein Ungehorsamer sofort nach gehaltenem Verhör bey Befindung seines Muthwilligen Bettelns zur Festung oder Spinn-Haus-Arbeit angehalten, und dergestalt andern zum Exempel in Ordnung gebracht werden.«
Das preußische Edikt von 1748 steht für eine Fülle ähnlicher staatlicher Anordnungen, die eine Verbringung von öffentlichen »Faulenzern« und Bettlern in Arbeitshäuser vorsahen. Bevor der Markt und das eherne Gehäuse der Fabrik den Zwang zu regelmäßiger und zuverlässiger Arbeit ausübten, so analysierten Karl Marx und Friedrich Engels den historischen Zusammenhang, bedurfte es der außerökonomischen, der staatlichen Gewalt, um die Menschen aus den Verhältnissen der Leibeigenschaft und der agrarischen Produktionsweise herauszureißen und an die Bedürfnisse der sich herausbildenden kapitalistischen Produktionsweise zu gewöhnen. In diesem Zusammenhang, der mit dem Begriff der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals in die Theoriegeschichte einging, fällt bei Marx wiederholt die Formulierung, es sei der »historische Beruf« des Kapitalismus, daß er die Menschheit zur »Produktion um der Produktion« willen erziehe und dadurch die Voraussetzungen für jenes »Reich der Freiheit« schaffe, in dem der produktive Überfluß zur alltäglichen Bedingung für eine herrschaftsfreie Gesellschaft werden könne.
Der allgemeine Zwang zum Schulbesuch der Kinder datiert in Preußen von 1763. Da heißt es unter anderem: »§4. Weil an vielen Orten die Eltern ihre Kinder des Sommers nicht in die Schule schicken unter dem Vorwand, daß sie das Vieh hüten müssen, so haben deshalb Unsere Beamten ... dahin zu sehen, daß, soweit es möglich, ein eigener Viehhirte hierzu möge bestellt werden.«
Aus der freundlichen, fast sozialstaatlich anmutenden Geste wird bald die handgreifliche Drohung mit der Polizei. Und wieder, beileibe kein Zufall, strukturiert den Diskurs, wie im Falle der die Neuzeit durchziehenden Polemik gegen die »Faulenzerei«, das Bild vom dummen Bauern, der absolut die neue Zeit nicht verstehen will und dem nichts Besseres einfällt, als gegen die Schule die Belange seiner untergehenden Produktionsweise ins Feld zu führen.
M. ist vier Tage nicht zur Schule gekommen, wieder einmal nicht. Die Mitschüler wissen, wo er jobbt und wo er sonst zu finden wäre. Die Klassenlehrerin weiß schon, was die Mutter am Telefon sagen wird: Was, er ist doch morgens losgegangen ... Was soll ich machen, der Junge hört nicht mehr auf mich. - Die Schülerakte erzählt in der trockenen Sprache der Bürokratie die Geschichte fortgesetzter Versuche, den Jungen in die Schule zu holen. Nun wäre Schulversäumnisanzeige zu stellen, wonach er in letzter Konsequenz von der Polizei vorgeführt werden könnte. Bevor diese Möglichkeit zum Zuge kommt, erscheint M. wieder in der Schule. Selbstverständlich findet ein Gespräch mit ihm statt. Er gelobt wiederum Besserung. Nein, seinen Abschluß will er ja. In der nächsten Zeit wird M. einzelne Stunden »abhängen« oder erst zur dritten Stunde in der Schule erscheinen. Kontrolle der Anwesenheit, Rücksprache mit Kollegen, wieder Anrufe bei der Mutter. Der Musiklehrer berichtet im Lehrerzimmer, M. erscheine regelmäßig zu den Proben in der Schulband, sei dort eine Stütze, er würde ihn ungern verlieren. Was tun?
Die Grundkonstruktion der Schule ist dieselbe geblieben wie vor zweihundert Jahren: Lernen und Entwicklung findet statt unter dem unausgesprochenen Generalverdacht, daß der junge Mensch nicht lernen will und daß die älteren Menschen immer noch dieselben »Bauerntrottel« sind, die ihre Kinder viel lieber das Vieh hüten als ein Buch in die Hand nehmen sehen. Inzwischen sind mehr als zweihundert Jahre vergangen. Die europäischen Gesellschaften sind durch drei industrielle Revolutionen hindurchgegangen, deren letzte immer mehr Sonntagsredner dazu beflügelt, vom Übergang zu einer Wissensgesellschaft zu sprechen.
Jeder Mensch weiß, wenn er auch sonst nichts weiß, daß sie oder er kaum die gewünschten Lebenschancen wahrnehmen kann, wenn nicht wenigstens das durchschnittliche Bildungsniveau erreicht wurde, ja - daß heute schon die in der Schule erworbene Grundbildung im Verlaufe des eigenen Lebens mehrfach überholt und erneuert werden muß, um dem immer rascheren Wandel der Berufe gerecht werden zu können.
Sollte uns nicht wenigstens ab und zu die Frage beschleichen, ob die staatliche Schulpflicht in der hergebrachten Form noch zeitgemäß ist? Womöglich hat ja die bürgerliche Gesellschaft in ihrer 400jährigen Geschichte ihren »historischen Beruf« zumindest auf diesem Gebiet erfüllt. Ist es nicht vielleicht so, daß allein die Bedingungen des Arbeitsmarktes, das System der Ausbildungs- und Berufszugänge einen dauernden, unausweichlichen und daher wirksamen Druck ausüben sich zu bilden; daß das erreichte allgemeine Niveau der Kultur mit seinen alltäglichen Anforderungen an Weltverständnis und Kommunikation einen wirksamen sozialen Druck ausübt auf die Menschen, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten auf den Stand zu bringen und auf dem Stand zu halten; daß demnach Lernen und Sozialisation längst, wenn auch nicht für den Einzelnen, so doch für die ihn umgebende und prägende Gesellschaft längst zu Selbstverständlichkeiten geworden sind, die den staatlichen Zwang unter der Hand überflüssig gemacht haben? Ja, könnte es sogar sein, daß die Gesellschaft den Zeitpunkt versäumt, zu dem dieser Zwang kontraproduktiv wird und die Entwicklung der Bildung zum Eigenwert und zur bloßen Gewohnheit behindert?
Spätestens an diesem Punkt der Argumentation werden selbst die wohlgesonnenen Freunde unruhig, werfen, tuschelnd untereinander, die Frage auf, ob mich nicht endgültig alle guten Geister verlassen hätten. Wie kann jemand diese Frage ausgerechnet zu einem Zeitpunkt aufwerfen, da nur noch die Computerpreise schneller sinken als das Prestige der staatlichen Schule? Ich sehe Rechte wie Linke gleichermaßen den Kopf schütteln.
Die Litanei der Rechten: Die Autorität der Erziehung gehe gegenwärtig unter im Sumpf des moralischen Verfalls, organisierter Verantwortungslosigkeit und multikultureller Libertinage und allgemeiner Disziplinlosigkeit. Die Litanei der Linken: ob ich denn ganz vergessen hätte, daß sich die staatliche Schulpflicht gegen das Bildungsprivileg des Adels, später des Bürgertums richtete und insofern etwas mit der Durchsetzung von Chancengleichheit für die breiten Massen zu tun habe? Ich wolle doch nicht im Ernst behaupten, daß sich das Problem der ungleichen Bildungschancen historisch erledigt habe! Schließlich hätten 15 Jahre neoliberaler Politik dazu geführt, daß sich die soziale Schere zwischen privilegierten und unterprivilegierten Kindern wieder weiter auftue - wer anderes als der Staat solle da gegensteuern?
Überhaupt, der polemische Verweis auf die Bauern wende sich gegen mich selbst. Nehmen wir das Beispiel der Ausländer (hier spitzen die Rechten ihre Ohren ...). Ist es vielleicht nicht wahr, daß immer mehr Kinder im elterlichen Geschäft mithelfen müssen, wodurch ihnen Zeit und Energie fürs Lernen fehlen? Versetzen uns nicht die Globalisierung und die unvermeidlich zunehmende Migration in gewisser Weise in die frühe Neuzeit zurück, insofern in einer immer stärker segmentierten und stratifizierten Gesellschaft wiederum nur der Staat für eine Angleichung der Lebensbedingungen und -chancen sorgen kann? Erfährt womöglich der »historische Beruf« des bürgerlichen Staates, die Menschen zu ihrem Glück zu zwingen, in diesem Sinne eine Aktualisierung, statt daß sich, wie ich unterstelle, diese Aufgabe erledigt hat?
Liebe Freunde der Rechten, ich will es gar nicht bei der Feststellung belassen, daß es mit Euch immer das alte Lied ist: Ihr traut den Menschen keine Veränderung zu, es sei denn durch äußeren Zwang oder durch die Macht des Geldes. Aber lassen wir das. Ihr könnt jedenfalls nicht erklären, warum Ihr im Falle der Kirchen und der Wirtschaft ohne Mucken zulaßt oder fördert, daß der Staat sich immer mehr zurückzieht und die Kräfte des Marktes das Regime übernehmen, aber für Bildung und Erziehung etwas Anderes gelten soll. Gute Rechner wollt Ihr sein. Machen wir eine Rechnung auf: Ich behaupte, daß die Nachteile der Schulpflicht nunmehr gegenüber ihren Vorteilen überwiegen. Man muß sich nur den Schulalltag genau ansehen. Schüler und Lehrer spielen längst Räuber und Gendarm. In-die-Schule-gehen-Müssen, sich entziehen, sich zitieren lassen, Eltern in dieser Frage gegen Lehrer ausspielen, Lehrer gegen Eltern ausspielen, - diese Dialektik von Zwang und Widerstand setzt jene endlose Reihe von vergeblichen Aktionen im Dreieck zwischen Lehrern, Schülern und Eltern in Gang, die unter der Hand eine Eigendynamik erhalten. Die Durchsetzung der Schulpflicht hat dergestalt bald nur noch sich selbst zum Gegenstand, während das ursprüngliche Thema, Bildung und Erziehung, in Vergessenheit zu geraten droht. In dem alltäglichen Kleinkrieg um die Durchsetzung der Schulpflicht wird eine historisch einmal berechtigte Funktion in eine bürokratische Wucherung transponiert.
Noch mehr, der Zwang zur Schule bleibt ja keine dem Unterricht äußere Bedingung, sondern durchdringt die pädagogischen Prozesse in allen ihren Phasen. Jede Lehrerin, jeder Lehrer weiß, daß der Zwang zum Lernen untrennbarer Bestandteil des berühmten Motivationsproblems ist und damit Ausgangs- und Zielpunkt, also das Prinzip der herrschenden Didaktik berührt. Denn deren Grundfrage lautet: Wie bringe ich den Menschen zu einer Einsicht, von der sie/er erst im Nachhinein wissen kann, daß sie/er schon immer zu ihr gelangen wollte? Jedem Ansatz, der sich durch die Selbstentwicklung von Interessen, Fragen und Lösungsrichtungen leiten läßt, muß der Zwangscharakter schulischen Lernens früher oder später zum Hindernis werden.
Bekommen wir nicht von allen Seiten zu hören, daß die laufenden Revolutionen der Arbeitswelt das Selbstlernen, die eigenständige Zielfindung, die Selbständigkeit und die freiwillige Entwicklung der Kooperation zur absoluten Notwendigkeit erheben? Muß daher, weiter gefolgert, die Klammer staatlichen Zwangs, wie sie bisher das schulische Lernen zusammenhält, nicht früher oder später zum gesamtgesellschaftlichen Entwicklungshemmnis werden?
Liebe linke Freunde, zwei Jahrzehnte rauher Wind neokonservativer Politik haben Euch in vergangene Zeiten zurückgeweht. Gewiß, es sieht ganz so aus, als kehrten die alten Probleme der sozialen Chancenungleichheit zurück in Zeiten der strukturellen Massenarbeitslosigkeit und der Demontage des Sozialstaats und zumal des demonstrativen öffentlichen Desinteresses an Fragen der Bildung. Es sind aber zugleich nicht mehr die alten Probleme und daher verlangen sie auch nach neuen Lösungen. Ihr seht die jobbenden Schüler in der Perspektive des Bauern, der dem Staat seine Kinder nicht herausrücken will, die also dumm bleiben. Das ist nur ein Teil der Wahrheit, denn man kann sie auch in einer ganz anderen Perspektive sehen.
Bildung als Lebensphase, der Staat als Zwangsverwalter dieser Lebensphase, - das paßt zu Verhältnissen, in denen Bildung in der behüteten Jugend abgeschlossen wird, dieser Abschluß zu einem Beruf und in die unbehütete Selbständigkeit führt. Damit ist es vorbei. Daß ein Abschluß bestimmte Berufskarrieren mit ziemlicher Sicherheit garantiere, glaubt ernsthaft niemand mehr. Der Monopolanspruch der staatlichen Schule auf die Gatekeeperfunktion zu Ausbildung und Beruf wird zunehmend anachronistisch. Ein zeitlich und funktional multiples Bildungssystem hat sich herausgebildet. Immer mehr Aufgaben, die früher von der Schule wahrgenommen wurden, bilden ein lukratives Geschäft auf dem florierenden zweiten Bildungsmarkt. Der jobbende Schüler M. gibt, neben den veränderten Familienverhältnissen und hypertrophen Lebensstilen, zu verstehen: Ich weiß, daß dies nur ein Weg zum Abitur neben anderen ist, daß das Abitur nur ein Weg zu meinen Berufszielen neben anderen ist, daß es nicht nur ein Leben nach der Schule, sondern auch ein Leben neben der Schule gibt. Liegt er so falsch?
Die staatliche Schulpflicht bezieht ihren Sinn aus einer Lage, in der die Schule die einzige große, mächtige Wächterin an dem Tor zur Zukunft der 16- bis 20jährigen war. Diese Lage verflüchtigt sich und mit ihr jener Sinn. Doch halt, am Rande meiner Gedankenallee sehe ich im Schatten einer Gerichtslinde eine weitere stirnrunzelnde Gestalt stehen, den Paragraphenhüter. Ist nicht die Schulpflicht im Grundgesetz verankert, das die staatliche Aufsicht über das Schulwesen bestimmt? Jedoch, schließt Aufsicht über etwas den Zwang dazu ein? Wäre es juristisch, politisch wie pädagogisch so schwer vorstellbar, daß der Staat sich als Aufseher über ein großes, konzeptionell und finanziell wohl abgesichertes Angebot versteht, das von mehr oder weniger allen Menschen wahrgenommen wird, jedoch aus freien Stücken?
Wie könnte Schule toll sein ohne den staatlichen Zwang! Wer wüßte heute schon zu sagen, welche pädagogischen Früchte unter den Bedingungen der Freiwilligkeit zur Selbstbildung heranreifen würden, kennen wir doch nur Beispiele utopischer Inseln, die als Modellversuche oder Versuchsschulen ein immer exotisches Dasein führen. Jedenfalls würde auch die Vorstellungskraft befreit werden, um sich, jenseits staatlichen Zwangs auf die Eigenheiten des Lernens zu besinnen. Dann erst mag manchem im Rückblick der Gedanke kommen, wie unmoralisch das Ansinnen ist, Lernen unter staatlichen Zwang zu stellen. Bedeutet doch Lernen im Grunde nichts anderes als Selbstveränderung. Umdenken, Einsicht gewinnen, Haltungen überprüfen kann so wenig erzwungen werden wie, sagen wir, die Liebe.
Im Begriff der Philosophie, der Liebe zum Denken, ist diese Überzeugung aufgehoben. Ob sie nun, an der Schwelle zum nächsten Jahrtausend, aus der Verbannung zurückkehren kann, in welche sie paradoxerweise das humanistische Zeitalter schickte?
Wieland Elfferding ist Sozialwissenschaftler, Autor und Lehrer in Berlin
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