Die Musik ist ein notorischer Gegenstand von Thomas Bernhards Texten. Ob in Holzfällen von dem besoffenen Komponisten Auersberger, in der Webern-Nachfolge, wie gesagt wird, die Rede ist, ob in Alte Meister über mehrere Seiten von Bruckner und Mahler gehandelt wird oder ob im Falle des Untergehers die Musik das gesamte Buch bestimmt von der ersten bis zur letzten Seite, egal wohin wir greifen in Thomas Bernhards Werken, wir begegnen der Musik unweigerlich auf Schritt und Tritt. Und doch zeigt sich beim zweiten Hinschauen, dass es mit der Bernhardschen Musikbeschäftigung so weit auch wieder nicht her ist. Erfährt man doch von Auersberger in Holzfällen, was seine Musikerexistenz anbetrifft, nicht viel mehr als dass Wien ihn zur Webern-Nachfolge verkümmern lässt. Kein Wort weiter, das uns über seine Musik substanziell informieren würde. Selbst im Untergeher, dem doch zweifellos einschlägigsten Musikbuch Bernhards, rücken die Sätze der Musik nicht wirklich zu Leibe. Bernhard umspielt das Reden über Musik, die Musik bleibt der nurmehr indirekte Gegenstand.
Thomas Bernhard und die Musik - schon andere haben bemerkt, dass dieses Thema nicht auf der Ebene des Gegenstands, also der Musik selbst, spielt, sondern auf der Ebene der für Bernhard kennzeichnenden Sprache. Häufig jedoch wurde das Musikalische bei Bernhard entweder zu wörtlich genommen im Sinne einer platten Analogie zwischen Sprache und Musik oder die Musik sollte wiederum nur eine metaphorische Rolle spielen als Spenderin einer verlorenen Harmonie mit der Welt. Doch gibt Bernhard für das Verständnis seiner Werke selbst den Hinweis: "Ja, was ich schreibe, kann man nur verstehen, wenn man sich klarmacht, dass zuallererst die musikalische Komponente zählt und dass erst an zweiter Stelle das kommt, was ich erzähle." Was hat es damit auf sich?
"Auch Glenn Gould, unser Freund und der wichtigste Klaviervirtuose des Jahrhunderts, ist nur einundfünfzig geworden, dachte ich beim Eintreten in das Gasthaus." Mit diesem Satz beginnt Thomas Bernhards Untergeher, diese Verschlingung dreier Freunde in ihr unmögliches Künstlersein, deretwegen sich der eine soeben umgebracht hat. Knapp zwanzig Seiten weiter: "Wir probieren alles Mögliche aus und brechen es immer wieder ab, werfen Jahrzehnte urplötzlich auf den Abfallhaufen. Wertheimer war immer langsamer, nie so entschieden in den Entscheidungen wie ich, er hat sein Klaviervirtuosentum erst Jahre nach mir auf den Abfallhaufen geworfen und zum Unterschied von mir, es nicht und niemals überwunden, immer wieder hörte ich ihn jammern, er hätte das Klavierspiel nicht aufgeben sollen, es weitermachen sollen, ich sei zu einem gewissen Grad der Schuldige, immer sein Vorbild in wichtigen Fragen gewesen, In Existenzentscheidungen, so er einmal, dachte ich, als ich ins Gasthaus eintrat."
Der erste Satz enthält bereits die drei Dimensionen Bernhardscher Texte: die Aktualität, welche im Eintreten in das Gasthaus spielt; der innere Monolog als vorherrschendes Textmoment und die Markierung des Monologs durch das dachte ich. Diese indirekte Rede kann tief gestaffelt werden. So sind im zweiten Satz bereits zwei indirekte Reden ineinander geschachtelt, die des Wertheimer (so er einmal) und die des Erzählers (dachte ich). Die aktuelle Realität, als ich ins Gasthaus eintrat, fungiert in beiden Sätzen als äußerste Klammer, geschrumpft allerdings zu einer Restkategorie, die von dem Strom der inneren Monologe überwuchert wird. Der Erzähler tritt nämlich über gut zweihundert Seiten in das Gasthaus ein, woran diese immer wiederholte Formel erinnert, welche uns aus dem Nachverfolg der endlos abgespulten Gedanken immer wieder gleichsam auf den dünnen Boden der Tatsachen zurückholt.
So zeigt sich der zweite Satz formal als erweiterte Version des ersten. In Bernhards Variationstechnik spielt die Wiederholung, wie immer wieder bemerkt worden ist, eine Schlüsselrolle. Das Abbrechen wiederholt und steigert sich im Auf-den-Abfallhaufen-Werfen. Dieses wird sogleich wiederholt darin, dass Wertheimer sein Klaviervirtuosentum auf denselben geworfen habe. Nicht und niemals, immer wieder, positiv oder negativ spricht sich die Wiederholung aus, welche der Satz selbst im Vergleich zum vorherigen und zu etlichen vorangehenden darstellt. Hier Thomas Bernhards Wiederholungsmusik in der Auslöschung: "In der Kindervilla suchte ich nach der Kindheit, aber ich fand sie natürlich nicht. In alle Räume trat ich, auf der Suche nach der Kindheit, ein, aber ich fand sie natürlich nicht." Der zweite Satz stellt auch hier lediglich die explizierte Entfaltung und Variation des ersten dar. "Zu welchem Zweck eigentlich, dachte ich, richte ich die Kindervilla her? Wo gar niemand mehr da ist, der die Kindervilla genießen, sie ausnützen kann, dachte ich und darauf, daß es doch sinnlos wäre, die Kindervilla, so wie ich es bis zu diesem Augenblick vorgehabt habe, herzurichten, aus ihr wieder die Kindervilla zu machen, die sie einmal gewesen ist uns Kindern, dachte ich, das ist aber absurd, nur daran zu denken, denn die Kindheit läßt sich nicht mehr herrichten, indem ich die Kindervilla herrichte, dachte ich, ich hatte geglaubt, indem ich die Kindervilla von Grund auf herrichten, renovieren lasse, wie meine Schwestern sagen, richte ich die Kindheit wieder her, renoviere sie sozusagen von Grund auf."
Die folgenden drei Seiten bestehen in einer obsessiven seriellen Variation dieser Sätze. Die Worte, man gehe auf der Suche nach der Kindheit nur in eine gähnende Leere, wiederholen sich mehr als fünfzehnmal. Auf diesem Weg, bis schließlich die Steigerungssequenz in dem lakonischen Satz zusammenbricht: "Ich ließ die Kindervilla hinter mir und ging ins Büro.", wird der sich ständig wiederholte Gedanke dadurch variiert, dass weitere und stärkere Metaphern eingeknüpft werden: die Verschleuderung der Kindheit, das Hineingehen in den Wald der Kindheit, überhaupt das Umdrehen zur Vergangenheit, die Erschöpfung der Kindheit, ihre Ausraubung - alles derselbe Alptraum. Durch die geschachtelte Wiederholung beginnen die nur scheinbar gleichen Worte sich gegenseitig zu beeinflussen, zu kommentieren. "...die Kindheit ... herrichten, ...die Kindervilla herrichte, ...die Kindervilla von Grund auf herrichten, renovieren lasse, ..., richte ich die Kindheit wieder her, renoviere sie sozusagen von Grund auf." Die Wiederholung erzeugt nicht nur eine Verstärkung, sondern produziert einen Sinneffekt auf einer anderen Ebene, die außerhalb, vielleicht oberhalb der unmittelbaren Bedeutung liegt. Ja, die Übersteigerung lässt die Bedeutung der Sätze in einer gewissen Leere und Ratlosigkeit zusammenbrechen. Wir beginnen uns als Leser/innen zu fragen, was das soll, welches Subjekt überhaupt spricht, ob die zum x-tenmal wiederholten Phrasen noch so gemeint sein können, wie wir sie eben noch zu verstehen glaubten.
Wir lesen nicht mehr die gesteigerte Bedeutung, dass jede Kindheitsnostalgie, gar jegliche Erinnerung vergeblich sei; die permanente Wiederholung zwingt uns vielmehr den Gedanken auf, dass es, bei aller unwahrscheinlichen Wiederholung, gar nicht mehr um diesen Sinn gehen kann, sondern längst um einen anderen. Die Sprache dreht sich aus der Horizontale des fortgesponnenen narrativen Sinns in die Vertikale und wird sich selbst zum Gegenstand. Dies ist der Einsatz des Musikalischen bei Thomas Bernhard. Ist doch die Musiksprache nichts anderes als eine Klangrede, deren Material sich im Verlaufe von Jahrtausenden von den Bedeutungen weiter abgelöst hat als die Sprache. Wo immer die Sprache sich, wie hier durch die Besonderheit des literarischen Diskurses, ihrerseits von der realen Welt entfernt, nähert sie sich der Musik an.
Doch das ist erst ein sehr allgemeiner Sinn der Musik in Thomas Bernhards Sprache. Durch die Technik der variierenden Wiederholung besteht ein engerer Zusammenhang zur Musik, und zwar zur modernen. Dreimal darf man wiederholen, so Beethoven, darüber hinaus ist es vom Übel. Dieser Grundsatz gilt in einer musikalischen Welt, wo die semantischen Zellen einem übergeordneten musikalisch-dramatischen Geschehen dienstbar sind: die Entwicklung zweier antipodischer Themengestalten. Hier wird, wie in der Literatur, immer eine Geschichte erzählt. Schon bei Schubert emanzipiert sich das musikalische Material von der Vorherrschaft des Dramas. In den seriellen Techniken, die, präfiguriert beim späten Beethoven sowie bei Bruckner und Skrjabin, sich erst im 20. Jahrhundert durchsetzen, lösen sich die selbstbezüglichen Bewegungen der Tonsequenzen vollends von der Notwendigkeit, eine Geschichte zu erzählen. Die Signifikanten beginnen ein Spiel untereinander und drehen den Signifikaten, die der alten metaphysischen Welt von Held und Gegenheld verhaftet sind, eine Nase. Die Musik landet auf diesem Weg nicht, wie man meinen könnte, zwangsläufig im l'art pour l'art, ihr Bezug auf die übrige Wirklichkeit nimmt nur den Umweg über eine demonstrative Verselbständigung ihrer Sprache von einer Welt, die deren Bedeutungen schon immer zu wissen glaubte.
Genau in diesem Punkt einer Fiktionalisierung des sprachlichen Geschehens durch Wiederholung trifft sich Thomas Bernhards Prosa mit Tendenzen der zeitgenössischen Musik. Durch die Techniken der Wiederholung und der geschachtelten indirekten Rede wird die Erzählung selbstreferenziell, sie erzählt nicht mehr von etwas, sondern vom Erzählen selbst und von dessen Grenzen. Die Saite wird durch das Streichen des Bogens langsam zerstört. Der Inhalt der Bernhardschen Prosa ist nur die immer gleiche Verkündung der Vergeblichkeit. Von der deutschen Sprache heißt es in der Auslöschung, sie sei ohne jede Musikalität, ja sie sei vollkommen antimusikalisch. Wie der Bogen der Zerstörung der Saite den Klang abgewinnt, so sucht Thomas Bernhard, dem zerstörten Verhältnis der deutschen Sprache zur erzählbaren Welt ein Schnippchen zu schlagen.
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