Das Imperium schlägt zurück

Revolution in Belarus II Der Versuch einer Zwischenanalyse mit Erklärungen, warum die Proteste mitnichten gegen Russland gerichtet und nicht das Ergebnis eines Think-Tank des Westens sind

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Die einzige Quelle der Staatsmacht und Träger der Souveränität in der Republik Belarus ist das Volk.
Verfassung der Republik Belarus, Art.3 Abs. 1

1.1. Einleitung
1.2. Aus Untertanen werden Bürger
1.3. Die "Opposition" formiert sich
1.4. Menschenjäger
2.1. Mythos und Wirklichkeit
2.2. Keine Oligarchenschicht?
2.3. Die Mär vom nationalistischen Aufstand
2.4. Traktorenland Belarus
3.1. Maria Kolesnikova, einer der Gesichter der Revolution
3.2. Siloviki und Garashniki
3.3. Heliumkrieg - Satire und Realsatire
3.4. Ein kirchlicher Aspekt
4. Reaktionen des Auslands
5. Tolldrastische Geschichten aus dem Präsidentenamt

1.1. Einleitung

Westeuropa rätselt, was ist das für ein Volk, welches den Mut besitzt, den Knüppeln der Staatsmacht zu widerstehen? Was ist Belarus und haben sie eine Geschichte? Aleksandr Pomidorau rappt eine fünfminütige historische Übersicht. Der Text und die Musik stammen von Ljavon Volsk. Für uns Westler gibt es englische Untertitel, für die eigene Bevölkerung in Belarus dürfte der Song ebenso interessant sein

Der Volksaufstand geht weiter. Die ersten Ereignisse hatte ich hier in einem Artikel zusammengefaßt. Seitdem ist viel passiert. Zu einer Entscheidung kam es noch nicht. Lukashenko ist noch Präsident, viele Menschen im Lande zweifeln öffentlich die Legitimation und die Rechtmäßigkeit der Wahl an und demonstrieren dies öffentlich.

1.2. Aus Untertanen werden Bürger

Die Menschen kämpfen für die Einhaltung der Gesetze, das Prinzip freier Wahlen
und die
grundsätzliche Möglichkeit eines Machtwechsels. Es geht darum, dass
Belarus nicht nur dem Namen nach eine Republik ist, sondern eine res publica
in der Tradition der Französischen Revolution wird. Es ist eine
demokratische Revolution, bei der aus Untertanen Bürger werden.
Ol’ga Šparaga

Immer mehr Details kommen ans Tageslicht. Vom ersten Toten Aleksandr Taraikovsky hieß die offizielle Version, er habe sich selbst beim Versuch, eine Art Molotov-Cocktail auf Sicherheitskräfte zu werfen, tödlich verletzt. Mittlerweile sind Photos und ein Video aufgetaucht, welches diese Version widerlegt. Taraikovsky wurde eindeutig erschossen, vermutlich von der Spezialeinheiten der SPBT Almaz. Es fehlten Spuren von chemischen Substanzen an seinen Händen und die Todesursache wurde mit Blutverlust durch einen Schuß in die Brust angegeben.

Gennadij Schutov (43) erlag an den Folgen eines Kopfschusses und wird als dritter Toter bezeichnet. Was er nicht ist, wenn man sich noch an den 25jährige Alyaksandra Vikhora erinnert, der an unterlassener Hilfeleistung starb. Es gab mehr Tote. Tagelang wurde der Direktor des militärhistorischen Museums Vawkavysk Konstantin Shishmakov vermißt, der als Wahlleiter nicht bereit war, das manipulierte Protokoll der Wahl in seinem Bezirk zu unterschreiben. Mittlerweile wurde seine Leiche gefunden.

1.3. Die "Opposition" formiert sich

In den vergangenen Tagen wurde ein Nationaler Koordinierungsrat gebildet, der den Versuch eines Dialoges mit der Staatsmacht bilden soll. Die Personen des Koordinierungsrates sind:

Sviatlana Aleksievich
Pavel Latushka
Sergej Dylevskij
Maria Kolesnikava
Olha Kovalkova
Maxim Znak
Lilia Ulasava

Das Gesprächsangebot wurde von Lukashenkos Regime angenommen. Dilevskij und Kovalkova wurden bereits verhaftet und verurteilt. Beide für jeweils 10 Tage. Wobei man sicher sein kann, es wird zu einem weiteren Prozess kommen, sollte sich Lukashenko tatsächlich durchsetzen. Dylevskij ist Mitglied des Streikkomitees der Minsker Automobilwerke MAZ und wurde in Abwesenheit seiner Anwältin verurteilt. Eine anwaltliche Vertretung war beim Prozess nicht erwünscht.

Am vergangenen Wochenende gab es wieder große Demonstrationen in Minsk. Über die Teilnehmerzahl wird gestritten. Interessanter ist aber das Ritual. Die Staatsmacht fährt wie zum Beispiel auf der Demonstration der Lehrer in Minsk Wasserwerfer, schwere Räumfahrzeuge und gepanzerte Panzer-Personentransporter ein. Die Menschen bleiben jedoch absolut friedlich und beachten selbst rote Ampeln.

Auch im Bereich der Medien wächst der Unmut. Ehemalige Mitarbeiter des TV-Staatssenders, die gekündigt haben oder die rausgeworfen wurden, wollen einen eigenen TV-Sender gründen.

1.4. Menschenjäger (Ton Steine Scherben, 1972)

„Die ideologische Vorbereitung war wie folgt: Wenn die derzeitige Regierung verliert, wird jeder von uns an den Ästen der Straße aufgehängt. Daher ist es notwendig, diese Macht mit allen Mitteln zu schützen.“

Eine bedrohte Staatsmacht wehrt sich mit allen Mitteln. Wir erleben in Belarus gerade einen ideologiefreien Machtkampf zwischen der Staatsmacht und der Bevölkerung. Es geht eben nicht um die Frage EU, NATO, Putin oder irgendetwas. Es geht um elementarere Dinge. Wer in den letzten Tagen verhaftet wurde, wer in der Aula eines Polizeipräsidiums liegend übereinander gestapelt wurde, hat mit der Absurdität des Lukashenko-Regimes zu leben. Der Aufenthalt in einem Gefängnis in Belarus wird dem Gefangenen mit 14,5 belarusischen Rubel pro Tag berechnet. Der despotische Staat, sofern er sich durchsetzen wird, profitiert monetär an den Verhafteten. Die Berichte von Häftlingen in den letzten Tagen zeigen, eine Versorgung der Gefangenen fand nicht statt. Das Lukashenko-System verdient an willkürlich Verhafteten und die Oppositionellen sind gezwungen, Spenden einzusammeln, um den Aufenthalt von Häftlingen zu finanzieren und eine anwaltliche Vertretung zu organisieren.

Es gab vereinzelt Proteste und Rücktritte bei den Sicherheitskräften. Oberstleutnant Alyaksandr Akhremchik und Milizmajor Yuri Makhnach sind zwei bekannte ehemalige Mitglieder.

Makhnach war schon nicht mehr im Dienst, als die Proteste nach der Wahl begannen. Makhnach erhielt im Juni von Denis Avramenkov, stellvertretender Leiter des Lida ROVD den Befehl, eine friedliche Mahnwache in Lida zu zerstreuen. Er verweigerte den Befehl seines Vorgesetzten, friedliche Menschen - Rentner, Männer, Frauen, mit Kindern und Kinderwagen mit Gewalt zu zerstreuen. "In Lida passierten schreckliche Dinge: Schläge auf Menschen auf dem Territorium des ROVD, Schläge und Folter in Reisewagen bei der Autowaschanlage des ROVD."berichtete Makhnach. Am 18. August wurde Makhnach zum endgültigen Rücktritt genötigt. Zuvor wurden in Lida 300 Menschen willkürlich verhaftet und zum Teil willkürlich schwer geschlagen.

Bilder von Protesten zeigen noch größere Vorwürfe wie die Vergewaltigung einer Gefangenen mit dem Schlagstock. Die offene Brutalität auf den Straßen wird nicht mehr ausgeübt, die willkürlichen Verhaftungen sind geblieben. Was hinter den Gefängnismauern passiert, darüber gibt es zahlreiche Berichte.

Noch ein kurzer Auszug der letzten Tage: Streikende Arbeiter in Salihorsk sollen verschwunden sein, Aktivisten des Streikkomitees bei Belaruskali wurden verhaftet, Der Vorsitzende des Streikkomitees des Minsker Automobilwerkes (MAZ) Evgenij Bochvalov wurde am 20. August festgenommen.

Einen interessanten Einblick über Belarus gibt auch das lange Interview des österreichischen Senders Falter-Radio mit dem Politologen Sven Gerst und dem Journalisten Ingo Petz.

Falls jemand wissen möchte, wo die OMON unter anderem ihr Handwerk gelernt hat, dem fällt auf, sie durften beim Castor-Transport als Beobachter teilnehmen. Ähnliches erfuhr man über die Berkut einige Jahre zuvor, die für Janukovych in der Ukraine tätig waren. Paßt nicht so recht zum Klischee des gerne bemühten NATO-Aggressors...

2.1. Mythos und Wirklichkeit

Einige der vielbeschworenen und gerne wiederholten Thesen lauten wie folgt:

A) Unter Lukashenko gibt es keine Oligarchenschicht, weshalb es der Bevölkerung besser geht als in der Ukraine.
B) Die Opposition besteht aus Nationalisten, Faschisten und/oder EU/NATO-Befürwortern.
C) Die Landbevölkerung unterstützt weiterhin Lukashenko. Diese bildet die Mehrheit im Land.

2.2. A - Keine Oligarchenschicht?

Es stimmt, in Belarus gab es seit 1994 nicht den Kampf der Oligarchen um den Reichtum des Landes, den es in der Ukraine und in Russland gab. Das führt jedoch nicht automatisch zu größerem Wohlstand im Land. Schon in den letzten Jahren gab es in ländlichen Regionen Streiks gegen die Staatsmacht. Die Hauptvorwürfe waren steigende Korruption, sinkender Lebensstandard und auch eine schlechter werdende Gesundheitsversorgung. Das man in deutschen Krankenhäusern vermehrt auf Ärzte trifft, die aus Belarus, Russland oder der Ukraine stammen, liegt auch daran, das Gesundheitssystem in allen drei Ländern liegt am Boden. Während in Deutschland Investitionen vom Staat beschlossen und finanziert werden, wird in den drei Ländern wenig in die Krankenhäuser investiert. Zudem verdienen Ärzte in der Provinz in einem Krankenhaus oder in einer Poliklinik sowohl in Russland als auch in der Ukraine 150 Euro und teilweise noch weniger. Da ahnt man, wo Investitionen landen und warum Korruption zum Teil auch notwendig ist, um einen eigenen bescheidenen Wohlstand zu erlangen.

2.3. B - Die Mär vom nationalistischen Aufstand

Faschisten findet man in Belarus kaum. Die Opposition besteht zum Teil wirklich aus Nationalisten auf der einen Seite, aus Liberalen und EU-Befürwortern auf der anderen Seite. Diese Opposition ist allerdings kaum an den derzeitigen Demonstrationen beteiligt. Der Widerstand, den man jetzt in Belarus sieht, ist sehr heterogen. Er besteht aus den klassischen Arbeiterstreiks, umfaßt auch weite Teile der Jugend und die Schicht der Intellektuellen. Besonders ins Auge sticht, wie viele Frauen zu sehen sind. Dafür gibt es mehrere Ursachen. Zum einen ist die Gefahr für einen männlichen Demonstranten deutlich höher, von Sicherheitskräften wie der OMON niedergeknüppelt und verhaftet zu werden, zum anderen ist Belarus unter Lukashenko eine patriarchalische Gesellschaft, in der man Frauen (zumindest öffentlich) nicht schlägt. Eine zukünftige soziologische Untersuchung wird interessant werden, ob es langfristig Veränderungen in der belarusischen Gesellschaft geben wird.

Im Interview spricht Ingo Petz an, Lukashenko habe vor einigen Jahren erkannt, es fehle der belarusischen Gesellschaft an moderner Technologie. Seit dieser Zeit wurde der IT-Bereich stark und durchaus auch mit Erfolg gefördert. Als es nach der Wahl und den anschließenden Demonstrationen zeitweise zur Abschaltung des Internets kam, flüchteten Unternehmen mit den Programmierern aus dem Land. Ingo Petz nannte die Ukraine, wo sich in Kyiv und in Lviv eine ansehnliche IT-Industrie gebildet hat. Sollte Lukashenko es schaffen, sich an der Macht zu klammern, ist eine Rückkehr dieser Unternehmen nicht zu erwarten. Ein Programmierer braucht keine großen Produktionsräume und ist daher bei der Wahl des Standortes sehr flexibel. Die Szene in Minsk gehörte bis dato zu den Interessantesten in Europa. Auch das steht auf dem Spiel. Kehren diese Menschen nicht zurück, bereichern sie die Wirtschaft der Ukraine langfristig ungemein, für Belarus wäre es ein großer Verlust für die Zukunft. Büros von Uber und Yandex wurden am 13. August von Sicherheitskräften überfallen, zwei Mitarbeiter von Viber wurden festgenommen, weshalb Viber sich dazu entschlossen hat, das Minsker Büro zumindest vorübergehend zu schließen. 6 % des BIP entfielen 2018 auf die IT-Brance. Zusammen mit der wirtschaftlichen Krise durch Corona und der ohnehin stagnierenden Wirtschaft von Belarus keine rosigen Aussichten, wenn sich nichts ändert. Da wirkt der in den letzten Tagen immer wieder verlinkte Offene Brief durch namentlich nicht genannte "Oppositionelle aus dem Ruhrgebiet" wie blanker Hohn. Im reichen Deutschland sitzend den Menschen in Belarus Ratschläge geben. Mehr kolonialer Humor geht kaum. Der satte Wurmfortsatz einer sich Arbeiterklasse nennenden Möchtegern-Opposition, die Streiks in Belarus vermutlich als Konterrevolution deutet und sich vermutlich Wahlen als reine Akklamation einer Bürokratenschicht wünscht. So endete leider bislang jedes sozialistische Projekt, welches sich lange genug halten konnte.

2.4. C- Traktorenland Belarus

Belarus hatte 2017 9,5 Mio. Einwohner. Davon entfallen auf Minsk knapp 2 Mio, Homel hat 530000, Mahlijou und Vitebsk ungefähr 380000. In den 10 größten Städten leben etwa 4,7 Mio. Einwohner. Also die Hälfte der Bevölkerung. Etwa 5,3 Mio. leben in Städten mit mehr als 100000 Einwohnern.

Die Landflucht setzte schon zu Beginn der Sowjetunion ein, als viele ihre Bauerndörfer verließen und ihre Zukunft in den großen Städten sah. Diese Entwicklung setzte sich auch nach dem Zusammenbruch in den neuen Staaten fort. Aus Belarus einen Bauernstaat machen zu wollen geht daher weit an der Realität vorbei. Aus nahezu allen größeren Städten von Belarus werden Demonstrationen und Streiks gegen Lukashenko vermeldet.

Um auf die Gesundheitsversorgung zurückzukommen. Auch auf dem Land empfiehlt es sich, dem Arzt, der Krankenschwester oder der Verwaltung Geschenke zu machen und die Medikamente für die Behandlung selbst mitzubringen. Ich kann nur jedem empfehlen, der die medizinische Versorgung in Deutschland beklagt, wahlweise sich in Belarus, in Russland oder in der Ukraine in die Obhut eines Krankenhauses zu begeben und auf Heilung zu hoffen. Die Fähigkeiten der Ärzte in allen drei Staaten ist erstaunlich. Aber ich kenne Berichte aus allen drei Staaten, das Krankenhäusern für die Verpflegung der Patienten 20 Cent pro Tag zur Verfügung steht. Wer da auf eine gesunde und ausgewogene Ernährung hofft, kann zumindest von Illusionen geheilt werden. Zum Beispiel von der Illusion, die Staatsmacht in den drei Staaten sorge fürsorglich für ihre Bevölkerung. Egal ob sie sich in einem sozialistischen, mit einem neoliberalen oder einem zentralistisch-patriarchalischem Gewand daherkommt.

Während Janukovych Präsident war, erkrankte ich in Poltava. Über mangelnde medizinische Versorgung mußte ich mir keinerlei Gedanken machen. Dem Arzt wurde mitgeteilt, ein Deutscher sei erkrankt. Der herbeigerufene Arzt ließ alles stehen und liegen. Er eilte sofort zum erkrankten Deutschen. Der Lohn war 10 Euro. Alle ersparten sich das Ausfüllen von Formularen. Der Arzt erhielt in 30 Minuten so viel Geld, wie ein Arzt damals an drei kompletten Arbeitstagen verdient. Das ist die Realität. Ein deutscher Hartz-4-Empfänger kann sich in allen drei Staaten eine Vorzugsbehandlung leisten. Wer geostrategisch argumentiert, möge seine eigene Privilegien überprüfen, bevor er ein Urteil darüber fällt, warum Menschen in anderen Staaten auf die Straße gehen, die eben nicht privilegiert sind. Wer ernsthaft glaubt, in Lukashenkos Land so etwas wie eine Diktatur mit menschlichem Antlitz zu erkennen, sollte überprüfen, ob er nicht einer Chimäre aufgesessen ist.

Der Leser möge mir die deutlichen und leidenschaftlichen Worte verzeihen. Die Ignoranz und Borniertheit, die mir in Deutschland gegenüber den Staaten östlich von Polen begegnet, ist teilweise nur schwer zu ertragen. Wer glaubt, etwas über diese Staaten sagen zu müssen, sollte sich daher mit dem Leben der Menschen beschäftigen. Und sich keine organisierte Reise andrehen lassen, in der der Reiseleiter dem Besucher seine ideologische Sicht der Dinge erzählt.

3.1. Maria Kolesnikova, einer der Gesichter der Revolution

Sie wollen wirklich, dass wir Angst haben, aber wir haben nichts zu befürchten,
weil wir nicht gegen das Gesetz verstoßen und streng in seinem Rahmen handeln.
Ich verstehe, dass es in der gegenwärtigen Situation lächerlich klingt,
aber wir werden ihnen keine Freude bereiten zu sehen,
wie wir uns unter dem Sofa zusammengekauert haben und nichts tun.
Maria Kolesnikova, Interview mit Novaya Gazeta

Die Menschen in Belarus haben erkannt, mit Gegengewalt gegen die Gewalt der Staatsmacht droht ihnen eine Niederlage und vielleicht sogar ein System wie dereinst in Rumänien unter Nicolae Ceaușescu, als DDR-Bürger in den 1980ern für wenige Kilogramm Zucker eine Woche Urlaub in Rumänien finanzieren konnten und der Westen noch immer das System hofierte und selbst Ceaușescus Frau Elena als "Gelehrte von Weltruhm“ wissenschaftliche Ehrungen in Großbritannien und in beiden deutschen Staaten erhielt. Ceaușescu galt als Bewunderer von Kim Il Sung, Lukashenko unterhält ebenso beste Beziehungen zu dessen Enkel Kim Jong-Un. Kim Il Sung und Ceaușescu hinterließen ein Land in bitterer Armut.

Die Ukrainer wissen, dass man einen Präsidenten und dann einen anderen wählen kann, und die
Menschen haben ein völlig anderes Gefühl, welches sich in unserem Land gerade erst zu bilden beginnt.
Maria Kolesnikova, Interview mit Novaya Gazeta

Das ist eines der großen Unterschiede zwischen der Ukraine auf der einen Seite und Belarus und Russland auf der anderen Seite. In der Ukraine kann sich kaum einer vorstellen, den Präsidenten immer wieder zu wählen. Kuchma gewann gegen Kravchuk und vermochte als einziger Präsident der Ukraine, wiedergewählt zu werden. Als der designierte Nachfolger Janukovych gewählt werden sollte und das gefälschte Ergebnis entstand, folgte die Orangene Revolution. Die Ukrainer goutierten nicht den für sie bestimmten Nachfolger.

Jushchenko erfüllte nicht die zu hohen Erwartungen und hatte keinerlei Chance auf eine Wiederwahl. Janukovychs Beliebtheitswerte sanken, je mehr Geld er für sich auf die Seite schaffte Als seine Raffgier so groß wurde und nur noch Russland einen Kredit vergeben wollte, dafür Forderungen stellte, die die Souveränität des Landes ernstlich in Frage stellte, gab es nach der Revolution auf Granit und der Orangenen Revolution den dritten Aufstand. Der Präsident Poroshenko, der vermutlich nur dank des im Osten der Ukraine beginnenden Krieges im ersten Wahldurchgang gewinnen konnte, hat zwar tatsächlich mehr als jeder Präsident vor ihm für das Land getan (dennoch wenig genug), aber die Forderungen des Maidans im Kampf gegen die Korruption, gegen das System der Oligrchen und für mehr Rechtssicherheit des Bürgers wurden nur unzureichend erfüllt. Das Ergebnis war ein historisch schlechtes Ergebnis in der Stichwahl. Mehr als 73 Prozent für den Gegenkandidaten Volodymyr Zelenskyj. Der sich alles andere als sicher sein kann, nach fünf Jahren wiedergewählt zu werden. Für die Menschen in Russland und in Belarus klingt dies wie ein Märchen aus einer weit entfernten Welt. Staatsführer erhalten die Quittung für eine verfehlte Politik und für den Machterhalt der herrschenden Beamtenschaft.

(...) hier wird nichts mehr übrig sein, und deshalb können Sie alle Menschen auf dem Platz treffen
- von Millionären bis zu Bergleuten. Jeder versteht das sehr gut und die Menschen
in kleinen Städten verstehen, dass ihre Kinder gehen werden, wenn sich nichts ändert.
Deshalb beschlossen alle, nicht aufzugeben und bis zum Ende zu gehen.

Maria Kolesnikova, Interview mit Novaya Gazeta

Diese Aussage betrifft alle drei Länder. In Russland gibt es aufgrund von Rohstoffen wie Erdöl und Erdgas noch etwas zu verteilen. Belarus und die Ukraine haben das Glück, nur über wenig Rohstoffe zu verfügen. Beide Staaten müssen andere Wege suchen, um Einnahmen zu generieren. Was bedeutet, man bedarf der Wertschöpfung durch die Bevölkerung.

Lukashenko setzt seit 1994 auf ein staatliches System der Versorgung, welches immer weniger funktioniert. Die Ukraine setzt mal auf neoliberale Elemente, subventioniert aber auf Gaspreise für die Bevölkerung. Wer weiß, wie zum Beispiel der Oligarch Pinchuk oder der Verteaute Serhyj Kurchenko zu ihren Reichtümern kam, der ahnt, subventionierte Preise für Gas gibt es bei guten Kontakten nicht nur für die Bevölkerung, sondern auch zur Mehrung des Reichtums für systemimanente Oligarchen. Subventionierte Preise sind oft auch eine korruptionsfördernde Maßnahme, die die Wirtschaft belasten und nicht nur Bedürftige in den Genuß subventionierter Preise bringt. Kurchenkos Karriere in der Ukraine endete mit dem Maidan. Eine zweite Karriere bei Vneshtorgservis begann. Zum Nachteil der Menschen im besetzen Teil des Donbas. Mehr über Kurchenko wird von mir in den nächsten Wochen zu lesen sein.

3.2. Siloviki und Garashniki

Ob ein neoliberaler Ansatz wie zur Zeit in der Ukraine, ob der pseudosozialistische Ansatz in Belarus oder der des Eisernen Kanzlers Putin - wer bedürftig ist und zum Beispiel in einem Krankenhaus der Hilfe bedarf, kann sich nur auf die Fürsorge von Freunden und Verwandten verlassen. Das eint alle drei Staaten. In den Zeiten von Corona wurde dies in Belarus noch einmal besonders deutlich.

Und so musste man sich selbst helfen, mit den Hygieneregeln, mit Masken,
mit medizinischer Hilfe. Da ist diese Selbstorganisation entstanden und die
Solidarität, die nun auch in den Protesten sichtbar sind. Das Regime hat über die
Jahre viel dafür getan, dass die Leute sich isoliert fühlen und keine Einheit
zustande bekommen. Das hat sich nun geändert. Aber wir müssen vorsichtig sein.
Das ist noch lange nicht der Sieg.
Ljavon Volski, Interview mit Ingo Petz im ND

Wie funktioniert eigentlich ein Staat, der sich selbst als Fortsetzung des sowjetischen Ansatzes versteht, den Reichtum gerechter zu verteilen und in dem fast 80% der Unternehmen dem Staat gehören? In Osteuropa lautet die Antwort kurz und knapp: Durch Siloviki. Der Begriff entstand zwar erst in den 90ern, aber man kann ihn getrost auch auf die Zeit der Sowjetunion übertragen. In der Ukraine kann man damit die Macht des Innenministers Avakov erklären. In Russland und in Belarus ist die Bedeutung des Siloviki noch einfacher zu verdeutlichen. Schon zur Zarenzeit waren Amtsträger in der Provinz nur dem Kreml verpflichtet. Richtig viel hat sich nicht an diesem System der Macht geändert, was man an den seit Wochen andauernden Unruhen in Chabarovsk erkennt.

In Belarus ist das aufgebaute System der Siloviki eher sowjetisch geprägt. Der Leiter eines staatlichen Unternehmens ist der Staatsmacht verpflichtet. Das bedeutet für den Angestellten, er riskiert seinen Arbeitsplatz, wenn er eine abweichende Position zum Präsidenten öffentlich äußert. In einem Staat, in dem der Großteil der Unternehmen in staatlichem Besitz sind, bedeutet der Verlust des Arbeitsplatzes auch, so schnell findet er keine neue Arbeit. Als Querulant gebrandmarkt steht der Grund der Entlassung in seinem Arbeitsbuch, welches er dem nächsten Arbeitgeber vorlegen muß. Ein perfektes System zur Unterdrückung, welches es schon in der Sowjetunion gab.

Seit den 1960er Jahren entwickelte sich eine Art Subkultur, die man Garashniki nennt und sich der Staatsmacht komplett entzieht. Mit völlig eigenen Regeln, vollständig abgekoppelt von der staatlichen Macht und Fürsorge. Der Staat kann keinerlei Angaben darüber machen, wie diese Menschen ihre Rente sichern, wie sie ihre Krankenversorgung regeln. Der Staat weiß nichts über die Subkultur. Steuern zahlt auch niemand. Die Macht der Polizei reicht nicht bis zur Welt der Garashniki. Die regeln ihre Ordnung selbständig.

Als ich vor über 10 Jahren den Zug von Kyiv in Richtung Poltava bestieg, wunderte ich mich über den Anblick von vielleicht 1000 Garagen auf der linken Seite der Zugstrecke. Am Stadtrand von Kyiv abseits jeglicher normalen Infrastruktur machten diese Garagen für mich keinerlei Sinn. Wer dort sein Auto abstellt, hatte bis zum nächsten Haus einen langen Fußmarsch vor sich. Parkplatzprobleme hatte ich am Stadtrand von Kyiv ohnehin nie feststellen können. Diese Garagen mußten einen anderem Zweck dienen. Es dauerte eine Weile, bis ich die so traditionsreiche Antwort fand. Für manche war die Garage ein Hobbyraum, dort wurden Schallplatten für Käufer angeboten - es ist eine Schattenwelt, die kaum einen Bezug zur staatlichen und offiziellen Welt darstellt.

Mit Kenntnis dieser Welt der Garashniki wird es deutlicher, weshalb 2017 Lukashenko auf die Idee kam, Arbeitslose mit einer Steuer zu belegen, was zu Protesten führte. Ein Versuch, welches vom Kreml mit Interesse verfolgt wurde, wenn man es nicht sogar als Projekt des Kreml selbst bezeichnen will. In Russland ist der Anteil der Garashniki hoch und er wird angesichts von Corona steigen. Russland läßt seine restriktiven Maßnahmen quasi von der Mittelschicht finanzieren. Den Unternehmern ist es nicht erlaubt, Angestellte zu entlassen. Die wiederum wissen nicht, wie sie die Gehälter für die Angestellten stemmen sollen. Staatliche Förderungen sind angesichts leerer Kassen durch teure außenpolitische Abenteuer eher nicht zu erwarten, weshalb viele vermutlich ins Ausland fliehen oder ihr Glück in der Parallelwelt der Garashniki suchen werden.

Diese Parallelwelt kann man durchaus als den neoliberalen Gegenentwurf in Russland und im kleineren Umfang auch in Belarus bezeichnen. Strategiediskussionen über einen möglichen Ausweg werden in Russland durchaus geführt. Diese neoliberale Schattenwelt sorgte aber nach dem Kollaps der Sowjetunion zur Überraschung des Westens dafür, es kam nicht zu der befürchteten dramatischen Hungersnot in Russland, Belarus oder der Ukraine. Das Symbol dieser Zeit war der "Polenkoffer", der in der Ukraine nach dem ersten Präsidenten "Kravchuvka" genannt wurde. Aus dieser Zeit gibt es viele interessante Bilder. Zum Beispiel von Flugzeugen voller Passagiere, die aus der Türkei zurückkehrten und der Gang bis zu einem Meter mit allen möglichen Taschen gefüllt war. Dieser kleine private Handel sorgte schon zur Zarenzeit dafür, Hungersnöte abzumildern und diese "Privatinitiative" verhinderte im Gegensatz zu westlichen Hilfen (die für Putin den Grundstock seines privaten Reichtums bildeten) tatsächlich noch schlimmere Not. Wer je einen Markt der vielen kleinen Händler in einer osteuropäischen Provinzstadt sah, bekommt eine leise Ahnung davon, worüber ich schreibe. Bevölkert von lauter Menschen, die ihr Heil im Kleinhandel suchen, weil sie von der staatlichen Fürsorge vergessen wurden. Wer über Hartz 4 schimpft und Osteuropa preist, sollte sich lieber mal informieren, wie lange der Staat für Arbeitslose in den jeweiligen Ländern sorgt. Funktioniert ein Staat mit einer derartig großen Schattenwirtschaft wirklich? Oder ist es nicht doch ein abblätternder Lack, der nur neu übertüncht werden soll?

3.3. Heliumkrieg - Satire und Realsatire

Nach den Wahlen kommt der Leiter der zentralen Wahlkommission von Belarus,
Lidia Yarmoshyna zu Lukaschenko und sagt:
- Ich habe zwei Neuigkeiten, Alexander Grigorievich. Eine ist gut, die andere ist schlecht.
Mit welcher soll ich anfangen?
- Mit der Guten.
- Sie sind der gewählte Präsident von Belarus.
- Und die Schlechte?
- Niemand hat für Sie gestimmt.

Wenn ein Diktator ins Wanken gerät, wehrt sich das Volk mit Witzen und bekommt zudem noch Realsatire frei Haus geliefert. So auch in Belarus. Vor der Wahl witzelte man, wer für Lukashenko stimmt, werfe seinen Wahlzettel im Wahllokal ab, wer für einen anderen Kandidaten stimmt, kann seine Stimme direkt beim KGB abgeben.

Aber auch über reale Ereignisse wird gelacht. Dank des heldenhaften Einsatzes von Mi-24-Hubschraubern der Luftverteidigungskräfte wurde eine Provokation mittels acht Luftballons mit Anti-Staatssymbolen gegen Belarus vereitelt. Bilder der Provokateure findet man auf Twitter. Was in der Nachricht fehlt: Der belarusische Botschafter wurde von Litauen einbestellt. Die Hubschrauber sollen bei dieser Aktion, die schon spöttisch "Heliumkrieg" genannt wird, den Luftraum der Staatsgrenze der Republik Litauen überquert haben.

Nichts Neues in Belarus. Vor der Wahl konnte vom belarusischen Militär die illegale Einreise von schwedischen Teddybären erfolgreich verhindert werden. Die von schwedischen Aktivisten gestartete Aktion führte zur Ausweisung des schwedischen Botschafters Stefan Eriksson. Offizielle Begründung: Kontakte zur Opposition. Der belarusische Photograph Anton Suryapin, der am Boden liegende Teddybären photographierte, wurde umgehend verhaftet und war eine Zeitlang inhaftiert.

3.4. Ein kirchlicher Aspekt

Einige Tage konnte man das Glückwunschtelegramm von Kyrill I. lesen. Danach wurde dem Metropoliten des Moskauer Patriarchates wohl zu peinlich. "Ich hoffe auf die Fortsetzung einer solchen Zusammenarbeit, die zur Konsolidierung der Menschen, zur Umsetzung sozial bedeutender Projekte und Initiativen, zur Aufklärung und patriotischen Erziehung der jungen Generation und zur Schaffung der dauerhaften Ideale von Barmherzigkeit, Frieden, Freundlichkeit und Gerechtigkeit in der Gesellschaft beitragen soll." Barmherzigkeit und wahllose Knüppelorgien. Es dämmerte selbst Kyrill I., so kann weder Gerechtigkeit, noch Freundlichkeit und Frieden entstehen.

Es gibt aber noch eine weitere Komponente. Der Geistliche Hilarion ist einer der Favoriten für das Amt des nächsten Exarchen von Belarus. Ein Szenario ähnlich wie mit der ukrainisch-orthodoxen Kirche Kyiver Patriarchat ist denkbar. Das hat weniger etwas mit Nationalismus zu tun, viel mehr aber mit dem Auftreten des Moskauer Patriarchates in den letzten 20 Jahren.

Die Reaktion des orthodoxen "Establishments" auf das Geschehen in Belarus ist das
traurige Ergebnis der "geistigen Wiederbelebung Russlands", die scheinbar von
christlicher Rhetorik begleitet wird, aber auf falschen Gründen beruht. Nicht wegen der
Treue zum Evangelium der Wahrheit und der Leistung der neuen Märtyrer Russlands,
sondern wegen der Illusion eines Bündnisses mit dem Staat, einer
"Symphonie der Mächte", Schimären irdischer Macht und der Größe der Kirche.
Über diese Versuchungen, die Jesus im Evangelium zurückwies. Denn was in Belarus passiert,
betrifft nicht mehr Politik, Rechtsprechung oder „historische Wahrheit“.
Die Schüsse von Gewalt gegen Zivilisten appellieren an die elementare Menschheit,
an das Gewissen, das jedem Menschen von Geburt an innewohnt.
Aleksander Soldatov, Novaya Gazeta

In den fetten 2000er Jahren begann das Moskauer Patriarchat mehr und mehr, ein Bündnis mit dem Kreml einzugehen. Ähnlich wie in der Geschichte der Zarenzeit, als man das Verhältnis zwischen Staat und der Orthodoxen Kirche unter der Maxime Autokratie, Orthodoxie und Volkstum zusammenfassen konnte. "Jene in diese kurze Formel gebrachte Auffassung von der uneingeschränkten Staatsgewalt unternahm letztlich nichts anderes, als eine Legitimation des russischen Imperialismus und eines starken Patriotismus (welcher nun als nationales Bewusstsein für eine
„russische Nation“ zu konstruieren versucht wurde) zu untermauern." (Russisches Staatskirchentum im letzten Jahrhundert seines Bestehens (1801-1917), S.53-54).

Von Putin ist bekannt, er hegt Bewunderung für die Regentschaft des Zaren Nikolai I., dessen Amtszeit von wenig Reformen, aber großer Polizeirepression geprägt war. Das erklärt auch die Reaktion innerhalb der Orthodoxen Welt. Nur wenige Metropoliten gehören zu den unbedingten Bündnispartnern des Moskauer Patriarchats.

Einige Gemeinsamkeiten bestehen zwischen Belarus und der Ukraine. In beiden Staaten bildet die Orthodoxe Kirche zwar die Mehrheit im Land, ist aber weit entfernt davon, eine Staatskirche bilden zu können. In Belarus ist die katholische Kirche als kleinerer Machtfaktor auch vorhanden. Diese hatte zwar zunächst auch Lokashenko gratuliert, aber zugleich Gespräche angemahnt. Als diese nicht erfolgten und Lukashenko die Konfrontation suchte, stellten sich viele katholische Gemeinden gegen Lukashenko, der immer wieder betont, Atheist zu sein (wie etwas über 40% der Bevölkerung).

Ich neige dazu, die Rolle der Kirche in Belarus nicht zu überschätzen. Ein Faktor kann sie schon sein. Die kirchliche Zuflucht und der Schutz der Kirche für die Gläubigen in Notzeiten war auch auf dem Maidan am 9. Dezember 2013 durch den deutschen Pastor Ralf Haska präsent, als der sich zwischen die Berkut und den Demonstranten stellte. Und dabei nicht den ungeteilten Beifall der EKD fand...

4. Reaktionen des Auslands

"Es dauerte dreißig Jahre, bis die Weißrussen zu diesem Moment kamen,
um die Gelegenheit zu spüren, diese Angst zu überwinden, die aus Stalins Zeiten stammt"
Emanuelis Zingeris, litauischer Abgeordneter und Mitglied der PACE-Delegation Litauens

Litauer, Polen, Russen und Ukrainer hegen aufgrund einer gemeinsamen Vergangenheit freundschaftliche Gefühle zu den Menschen in Belarus, die in ihrer Geschichte keinerlei imperialistische Gelüste gegenüber Nachbarn hatten. Eine merkwürdige Laune der Geschichte. Die Proteste in Belarus fallen zeitgleich zu den Feierlichkeiten zur Menschenkette im Baltikum vor 30 Jahren, die in Litauen "Sayudis“ genannt wird. Viele Menschen und auch viele Politiker sind aufgrund ihrer historischen Erfahrung eher zuversichtlich, ein demokratischer Wandel kann auch in Russland stattfinden, während sich in vielen westeuropäischen (und speziell auch in deutschen) Köpfen die etwas absurde These im Kopf festsetzt, Russen könnten nur durch einen starken Zaren regiert werden. Eine durchaus völkisch anmutende These.

Die meist diskutierte Variante ist ein mögliches Eingreifen Russlands. Darüber habe ich im ersten Artikel über Belarus bereits einiges geschrieben. Ein direktes militärisches Eingreifen halte ich auch heute noch für eher unwahrscheinlich, da die Staatsmacht in Belarus militärisch betrachtet die Lage unter Kontrolle hat. Ebenso sicher wird man im Kreml über mögliche Optionen diskutieren. Nicht vergessen sollte man, das Szenarios des Manövers Zapad im Jahre 2017 war es, den Versuch einer westlichen Macht abzuwehren, die belarusische Regierung zu stürzen. Sie hatte sicherlich auch den Zweck, Lukashenko daran zu erinnern, Russland sei Garant der Stabilität in Belarus. Lavrov sprach auch schon von "Einmischung des Westens", mindestens eine Drohung, wenn nicht gar Auftakt für eine offene oder zumindest verdeckte militärische Operation.

Aber Russland stehen auch andere Einflußmöglichkeiten offen. Einige meinen, selbst die Vergiftung Navalnys könne man als Teil eines Planes ansehen, die Weltöffentlichkeit vom Thema Belarus abzulenken. Da bin ich eher skeptisch. Ich halte es für die wahrschleinlichste Option, der Kreml setzt auf das Szenario der Samtenem Revolution in Armenien 2018 sowie anschließend die Demonstrationen im Mai 2019. Gegen ein solches Szenario spricht, Armenien befindet sich de facto wegen der Region Berg-Karabach in einem ständigen Krieg mit Azerbaidzhan und Russland wird von weiten Teilen der Bevölkerung tatsächlich als Schutzmacht (auch gegen die Türkei) angesehen. Ein solches Feindbild gibt es nicht in Belarus. Der Präsident Lukashenko arbeitet zwar je nach Windrichtung mit einer drohenden Gefahr für das Land. Vor der Wahl sah er die Gefahr aus Russland kommend, nach der Wahl drehte sich der Wind und nun soll die NATO der Feind sein.

Ein in den Medien kaum wahrgenommenes Projekt, welches von der deutschen Regierung unterstützt, von den USA dagegen bekämpft wird, sollte auch noch in den Fokus gestellt werden. North Sream 2 kann nicht im Interesse jeder denkbaren Regierung in Belarus sein, umgeht diese Pipeline doch nicht nur die Ukraine und Polen, sondern auch Belarus. Wichtige Einnahmen für den Staatshaushalt könnten wegbrechen.

Die deutsche Reaktion? Leiser Protest, der nach Möglichkeit die Geschäfte nicht beeinträchtigen möge. Immerhin hörbar. Aber das Gschmäckle bleibt, monetäre Werte bilden die wahren Werte des Handelns.

5. Tolldrastische Geschichten aus dem Präsidentenamt

Balzacs Geschichten waren erotisch und humorvoll. Sie berichteten vom Machthunger der frivolen Obrigkeit. Lukashenkos Auftritte lassen eher den Machthunger einer sich prüde gebenden herrschenden Klasse erahnen.

Lukashenko räumt nicht freiwillig sein Präsidentenamt und bleibt sich treu. Väterlich bringt er ein wenig Verständnis für die Demonstranten auf, bezeichnet sie zugleich als kleine Minderheit. Im Umkehrschluß bedeutet dies: Wollen Lukashenkos Gegner Neuwahlen erreichen, werden sie einen langen Atem benötigen. Das wurde spätestens mit der Veranstaltung am 16. August in Minsk klar, als Lukashenko sich seinen Anhängern präsentierte. Der genaue Wortlaut wurde auf tut.by veröffentlicht.

Lukashenko verkündete, 50000 Menschen seien auf dem Platz der Unabhängigkeit erschienen. Eine offizielle Vertreterin des Innenministeriums nannte noch höhere Zahlen. Zu Beginn und am Ende der Veranstaltung seien es sogar 65000 Menschen gewesen. Nimmt man diese offiziell verkündeten Zahlen ernst, dann legten 15000 keinen Wert darauf, der Rede des Präsidenten zu folgen. Viele der Teilnehmer kamen mit Sonderzügen zu der Veranstaltung. So wird von langen Zügen aus Vitebsk und Brest berichtet. Möglicherweise fanden einige eine Sightseeingtour durch Minsk interessanter. Diejenigen, die geblieben sind, nahmen an einem Frage-und-Antwort-Spiel teil, welches Jubel und Unterstützung für das System symbolisieren soll. Derlei rhetorische Machtdemonstrationen gab es ja auch schon in anderen Diktaturen.

- Anstatt auf dem Trainingsgelände im Westen zu sein, um unsere Stärke zu demonstrieren, halten wir unsere Jungs auf den Straßen und Plätzen, um sie zu beruhigen! Ist das in Ordnung, Soldaten?
Uns wurde eine Kette angeboten, eine Kette, sie wurde angeboten - von Vilnius nach Kiew. Wir werden mehr als 300.000 unserer Leute dorthin bringen. Diese Kette ist ein Cordon Sanitaire (Seuchen-, Isolationsgebiet), den wir Mitte der 90er Jahre zerstört haben! Und für das sie uns im Westen so sehr hassen. Wir dürfen keine Sanitärzone zwischen Ost und West werden! Wir sollten keine Latrine für Europa werden,
- Ja! (Die Menge singt.)
- Uns wird eine neue Regierung angeboten. Es wurde bereits im Ausland erstellt, bis zu zwei! Sie können nicht herausfinden, wer kommen wird, um uns zu führen. Aber wir erinnern uns an die Geschichte, es gab viele dieser Regierungen. Und jetzt sitzt einer von ihnen in Amerika. Drei davon dort! Wir brauchen keine Regierungen in Übersee, wir brauchen unsere! Ihre Führung.
- Für Papa! Für das Väterchen! Für das Väterchen! (За Батьку!)
- Uns wird eine neue Kraft angeboten. Uns werden NATO-Soldaten angeboten. Schwarze, gelbmundig und blond! Sie wollen uns Sandalen anziehen und uns herumpeitschen! Kannst du es nicht sehen?
- Nein!

Es lohnt sich, Lukashenkos Rede zu analysieren. Unter besonderer Berücksichtung dieses Zitats aus seiner Ansprache:

"Wir verstehen diese Minderheit, aber sie müssen auch die Meinung der überwältigenden Mehrheit berücksichtigen."

Lukashenko verspricht den Menschen, er sei der Garant dafür, Belarusen enden nicht als Latrine für Europa. Seit 26 Jahren regiert er das Land. Fast 4/5 der Betriebe sind verstaatlicht, produktiv ist eher der nicht vom Staat kontrollierte Bereich der Wirtschaft. Spricht man mit Belarusen über die hergestellten Produkte des Landes, hört man schon mal den Satz „bunt lackierter Schrott“. Lukashenko profitierte in der Vergangenheit von stark subventionierten Gas- und Ölpreisen aus Russland sowie von den Sanktionen, die Russland gegenüber der EU verhängt hat. Allerlei Lebesmittelexporte der EU werden in Belarus umgelabelt und nach Russland exportiert. So wird Belarus zu einer großen Fischereination und zu einem Land, in dem Südfrüchte wie Papaya angebaut werden. Profitabel und konkurrenzfähig produziert Belarus nicht.

Das Schreckensbild, welches sowohl Putin, als auch Lukashenko an die Wand malen, sind die wilden 1990er.

Man bedenke, in den vergangenen Tagen wurden die Sicherheitskräfte auf den Straßen des Landes gesichtet, wie sie wahllos Menschen verprügelt und verhaftet haben. Davon berichteten einige verhaftete russische Journalisten, denen man kaum vorwerfen kann, einer NGO der USA anzugehören. Mag sein, Lukashenko gefallen Uniformen im Straßenbild. Sicherheitskräfte und Soldaten mit Kraftüberschuß gehören aber auf ein abgeschlossenes Manövergelände und nicht auf die Straße.

Lukashenko spricht von einem angeblichen Angebot von NATO-Soldaten. Woher soll das Angebot kommen? Wer hat das gefordert? Die Opposition verlangt lediglich Neuwahlen. Die NATO-Soldaten existieren lediglich in der Phantasie und in der Propaganda. Und sie existiert in den Köpfen derjenigen, die ihre Pfründe bedroht sehen und die man in Osteuropa Siloviki nennt.

Das vermittelte Bild ist seltsam. Wer protestiert, hat keinen eigenen Willen. Er wird vom Ausland gesteuert. Das Narrativ verfängt auch bei Teilen der Linken, die in Lateinamerika jeden Aufstand begrüßen, in Osteuropa jeden Aufstand als Machwerk aus den USA betrachten.

Die Ähnlichkeit ist frappierend. In Lateinamerika werden Diktaturen durch Rebellionen ersetzt. Die Demokratien müssen mit den traditionellen Institutionen der Diktaturen fertig werden und sie scheitern regelmäßig. Sie werden dank der Massenbegeisterung für Populisten durch andere Diktatoren ersetzt.

Die belarusische Staatsverschuldung und die starke Verzahnung der belarusischen Wirtschaft läßt selbst bei einem Sieg der Opposition einem möglichen neuen Präsidenten keine Wahl. Die Außenhandelsbilanz der Ukraine bot mehr Flexibilität, denn schon während der Präsidentschaft von Janukovych waren die EU-Länder der wichtigste Handelspartner. Das wird auch nach einem möglichen Machtwechsel in Minsk nicht so sein. Die Aufgabe eines potentiellen neuen Präsidenten in Belarus wird es sein, das Land zu modernisieren und nicht in eine einseitige Abhängigkeit zu bringen.

Betrachtet man den Weg der Ukraine nach dem Maidan genauer, so erkennt man regional Veränderungen. Ausländische Betriebe, die sich zum Beispiel in Lviv ansiedeln, sind bei der Bevölkerung beliebter, weil sie besser und pünktlicher zahlen. Substantiell hat sich in der Regierung in Kyiv einiges geändert, vieles läuft aber noch nach alten Mustern ab. Nach dem Sturz von Janukovych wurde die Verchovna Rada institutionell gestärkt. Dank des Wahlergebnisses im Oktober 2014 pochte der damalige Ministerpräsident im Zuge der Gewaltenteilung darauf, einige der Befugnisse des Präsidenten in den Machtbereich des Innenministers zu verlegen. Der heißt von Februar 2014 bis heute Avakov.

Die Rede ist verklungen. Am Sonntag, den 23. August kam es erneut zu einer Posse. Während der Demonstrationszug in Richtung Präsidentenamt zog und friedlich an das Gebäude vorbeiging, zeigte sich Lukashenko mit Sohn und Kalashnikov. Ob das veröffentlichte Video tatsächlich die Ankunft während der Demo zeigt, wie von regierungstreuen Medien behauptet, oder ob Lukashenko wie dereinst Ceaucescu im Dezember 1989 per Hubschrauber die Flucht antrat - wer weiß das schon? Die Interpretation von Bildern und Videos liegen im Auge des Betrachters. Den Präsident mit Kalashnikov könnte man zynisch als Gesprächsangebot an Andersdenkende interpretieren.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden