Der Kampf geht weiter

Revolution in Belarus III Während in Belarus die Demonstrationen nach vier Wochen nicht aufhören, versucht Lukashenko, mit Enthüllungen über Navalnys Vergiftung die Gunst des Kreml zu gewinnen.

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"Westliche Gefahr"

Ein dritter Artikel über die Ereignisse in Belarus. Diesmal mit Ausführungen über den Mordanschlag auf Navalny, da Lukashenko behauptet, an den Kreml Enthüllungen geschickt zu haben.

1.1. Menschenjäger
1.2. Entführung von Maria Kolesnikova?
1.3. Willkürliche Verhaftungen und Verurteilungen
1.4. Rede schneller, Genosse!
1,5. Chronologie eines Tages
1.6. Frauenpower - ist der Wandel weiblich?
1.7. Allein machen sie dich ein
1.8. Alles verändert sich
2.1. Liebesgrüße aus Moskau
2.2. Wirtschaftlicher Ausverkauf zum Machterhalt
2.3. Scheinwahlen und Feindbilder
3.1. Arsen und Spitzenhäubchen
3.2. Altbekannte Spiele
3.3. Altbekannte Reflexe
3.4. Starke Kartoffeln
4. Die Stellungnahmen der Linken zu den Demonstrationen
5. Danksagung

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1.1. Menschenjäger

Es sieht aus wie ein Spott. Die Behörden haben aufgehört, das Gesetz zu beachten “
Valiantsin Stefanovich, Wiasna-Menschenrechtszentrum in Belarus

Lukashenko ist noch immer Präsident von Belarus. Der KGB, die OMON, die Justiz, und die Leiter der staatlichen Unternehmen halten ihn an der Macht. Stündlich liest man von willkürlichen Verhaftungen und Verurteilungen im Schnellverfahren. Die Demonstrationen halten sie aber nicht auf. Frauen schauen den Sicherheitskräften in die Augen, eine Frau zeigt OMON-Angehörige mit Bildern von geschlagenen Verhafteten und fragt, ob sie ihre Arbeit erkennen. Die Bilder stammen vom 5. September aus Minsk, wo sich die Straßen wieder füllen (Quelle: tut.by).

41 Verhaftungen wegen Beteiligung an Demonstrationen am 4. September geben einen Eindruck davon. Die Polizei warnt davor, nicht "gegen die Gesetzgebung zu Massenereignissen" zu verstoßen und ging am vergangenen Wochenende mit Spezialeinheiten gegen Demonstranten vor, die sich sonst mit der Bekämpfung des organisierten Verbrechens beschäftigen.

In den ersten Tagen der Proteste nach den Wahlen hat die Polizei fast 7.000 Menschen festgenommen, Ein weiteres Video über den ersten Toten ist aufgetaucht, auf dem man klar erkennen kann, das Opfer war unbewaffnet und wurde quasi hingerichtet. Die Staatsmacht hält weiterhin an der Version fest, der Erschossene habe eine Flasche mit einer chemikalischen Substanz geworfen.

Es tauchten Videos wie das des Journalisten Denis Germanov aus einem Gefangenentransporter auf, welches zu dessen Überraschung von den Sicherheitskräften nicht gelöscht wurde. Sie vermitteln den Eindruck, die Staatsmacht veranstaltet eine Jagd auf Menschen und transportiert diese wie die Hundefänger in früheren Zeiten ab.

1.2. Entführung von Maria Kolesnikova?

Ich wollte zu ihr gehen, reden, ihr danken. Dann änderte ich meine Meinung,
da ich sah, dass die Person [Kolesnikova] bereits müde war. [...]
Nicht weit vom Museum entfernt sah ich einen geparkten dunklen
Kleinbus mit der Aufschrift "Kommunikation" auf der Seite und der
Marke "Sobol" auf der Rückseite. Ich ging weiter und hörte das Geräusch eines
Telefons, das auf den Asphalt fiel, eine Art Stampfen, drehte mich um und sah,
dass Leute in Zivil und in Masken Maria in diesen Kleinbus schoben, ihr Telefon flog
weg, einer dieser Leute nahm den Hörer ab, sprang in den Kleinbus und sie fuhren weg.
Anastasia, Zeugin der Verhaftung

Das Mitglied des Koordinationsrates Maria Kolesnikova wurde Montagmorgen am 7. September entführt. Die Polizei bestreitet bislang, Kolesnikova verhaftet zu haben und betont, sie habe keine Informationen über ihren Aufenthaltsort. Ein Video zeigt die Abfahrt des schwarzen Lieferwagens um 10:02 Uhr Ortszeit.

1.3. Willkürliche Verhaftungen und Verurteilungen

"KGB-Agenten haben die Fabrik überschwemmt, die aktivsten Arbeiter aufgespürt und
verschiedene Druckmittel eingesetzt. Die Behörden verfügen über leistungsstarke
wirtschaftliche Instrumente. Sie erpressen Arbeiter mit Massenentlassungen.“
Gleb Sandras, Sprecher des belarusischen Streikkomitees

Die Liste der Verhafteten und Verurteilten ist lang. Eine bei weitem nicht vollständige Liste der letzten Tage:

- Anatoly Bokun, Leiter des Streikkomitees in Belaruskali (Kalifabrik in Soligorsk, die ein Fünftel des weltweiten Kalidünger produziert)
- Denis Dudinskij und Dmitrij Kochno, Show-Moderatoren des Staatssenders Belarus 1 (2.9. verhaftet, Dudinskij wurde im Juli 2020 entlassen, weil er in sozialen Medien über die Sinnlosigkeit von Verhaftungen schrieb, beide organisierten am 12. August 2020 eine Demonstration gegen die Zensur
)
- Olga Kowalkowa und Sergej Dylewskij, Mitglieder des Koordinationsrates zur friedlichen Machtübergabe (Ende August verhaftet und zu 10 Tagen Arrest verurteilt)
- Tadeusz Kondrusiewicz, Oberhaupt der katholischen Kirche in Weißrussland (Einreiseverbot)
- Verhaftung von Studenten in der Staatlichen Sprachuniversität Minsk für das Singen der Marseillaise (4.9. Video, Artikel)
- Nadezhda Kalinina und Aleksey Gudnikov (tut.by), Nikita Duboleko, Maria Eleshevich und Sergei Shchegolev (Komsomolskaya Pravda), Andrei Shavlyugo (BelaPAN), Reporter (1.9., sie berichteten über eine Studentenprotestkundgebung in Minsk, sie wurden beschuldigt und verurteilt, diese organisiert zu haben)
- Yulia Shardiko, Dmitry Rabtsevich, Victor Kuvshinov, Vladislav Mikholap, leitende Angestellte des IT-Unternehmens PandaDoc (5.9., Der Besitzer des Unternehmens Mikita Mikado unterstützt offen die Opposition, #SavePandaDoc)
- Anton Bubolo, ehemaliger KZ-Häftling, Ehrenbewohner von Verkhnedvinskt, regionaler Historiker und Schriftsteller (12.8.)
- Pavel Rassolko und Sergei Kozeka, Fußballer des Zweitligisten Krumkachy (verhaftet, beim anschließenden Pokalspiel kam es zu Solidaritätskundgebungen beider Teams und 90 Minuten lang waren Gesänge gegen das Lukashenko-Regime zu hören)

Journalisten sind bevorzugtes Opfer von Verhaftungen und Schikanen. Die Liste der Verletzungen der Rechte von Journalisten im Zusammenhang mit ihrem Beruf allein für das Jahr 2020 ist lang. Rekordhalter ist der Journalist Lesha Sudnikov mit vier Verhaftungen seit Mai 2020. Auch gegen ausländische Nachrichtenagenturen. Der belarusische Journalistenverband teilte mit, dass 17 Belarusen, die für mehrere andere Medien arbeiten, darunter ARD, BBC, Reuters und AFP, die Akkreditierungsrechte entzogen wurden. Radio Free Europe/Radio Liberty meldete, 5 seiner Journalisten hätten die Akkreditierung verloren.

1.4. Rede schneller, Genosse!

"Reden wir schneller, sie kontrollieren mich alle fünf Minuten,
sie werden mich jederzeit wieder mitnehmen“
Alexander Lavrynovych

Eine Verhaftung hat für einen Angestellten eines staatlichen Unternehmens berufliche Konsequenzen. Der am 3. September aus der Haft entlassende Aleksandr Lavrynovych berichtete in einem Interview mit der Novaya Gazeta über die Schikanen. Seine Chefs sind gezwungen, Berichte zu schreiben. Er erzählt davon, alle fünf Minuten zu einem anderen Vorgesetzten zitert zu werden. Zum Zeitpunkt des Interviews war er bereits verpflichtet worden, sieben Erklärungen zu schreiben.

Lavrynovych berichtet, der stellvertretende Generaldirektor in seinem Unternehmen MZKT für Ideologie und Personal ist verantwortlich für Schichtplanung und Urlaubsfragen, was er für Schikanen gegen rebellische Angestellte nutzen kann. Traditionell ist er auch Mitglied der Wahlkommission, wie es in den meisten belarusischen Staatsunternehmen üblich ist.

Kurzzeitige Verurteilungen gehören zum Instrumentarium der Einschüchterung des Systems. Kritiker sollen mundtot gemacht werden. Wer wie Lavrynovych verhaftet wurde und weiter zu Demonstrationen geht, riskiert viel. Eine zweite Verhaftung ist nach belarusischem Recht bereits ein Straftat mit weitreichenden Folgen.

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1,5. Chronologie eines Tages

Um einen kleinen Eindruck von den Ereignissen vor Ort zu bekommen, hilft es, einige Ereignisse vom 6. September aufzuführen.

Das es sich um den Aufstand eines Volkes handelt, kann man sehr gut an einem Video erkennen, welches tut.by veröffentlichte. In einem Zeitraffer von 20 Sekunden sieht man den Demonstrationszug in Minsk, der sich 1,5 Stunden über den Pobediteley Boulevard bewegte. Ein einzelnes Bild läßt vermuten, es dürfte sich um mehrere hunderttausend Demonstranten gehandelt haben. Es zeigt auch, die Sperrung von sechs zentralen U-Bahn-Stationen in Minsk half nicht, die Proteste zu verhindern.

- Im Bezirk Minsk wurde aufgrund einer staatlichen Anordnung wieder die Bandbreite des mobilen Internets reduziert.
- Grodno; gegen Demonstranten wurde Gas (Video) eingesetzt.
- Minsk, Bezirk Nemiga; Titushki (bezahlte Provokateure) schlugen mehrere Menschen mit Schlagstöcken (Video) und zerstörten das Fenster eines Cafés. Journalisten identifizierten einen Beteiligten, den Chef der GUBOPiK, Oberst Nikolai Karpenkov. Einen Tag danach standen die Menschen Schlange vor dem Café, um die bösen Geister zu vertreiben.
- Minsk; Um der Verhaftung bei einer Razzia im Victory Park
zu entgehen, sprangen Demonstranten vom Damm aus in den Komsomol-See (Video). Sechs Mitarbeiter der Station der Wasserrettungsorganisation, die Menschen aus dem Wasser retteten, wurden anschließend verhaftet.
- Das Menschenrechtszentrum „Viasna“
führt auf seiner Internetseite Namen von 196 verhafteten Menschen auf, mindestens 20 wurden in der Nähe von Lukashenkos Wohnsitz festgenommen.
- Minsk; Journalisten wurde der Zutritt zu einem angemieteten Zimmer im Victoria Hotel verwehrt, von welchem sie am vergangenen Wochenende Aufnahmen machen konnten. Der Wachmann wies auf vier maskierte kräftige Männer und erklärte den Journalisten: "Ich werde meinen Job verlieren, wenn ich dich reinlasse."
-
Mogilev; Der BelaPAN-Journalist Ales Asiptsov, der wie im Photo vom gleichen Tag als Journalist klar zu erkennen ist, wurde in der Nähe des Hauptpostamtes verhaftet und in einen Bus geworfen. Die Sicherheitskräfte kopierten alle seine Dokumente und Unterlagen und entließen ihn wieder. Der Journalist Artyom Sizintsev von Radio Racyi, der ebenfalls verhaftet wurde, ist noch nicht frei.
- Brest; In der Masherov Avenue wurden Demonstranten mit roher Gewalt in die "Reisewagen" (so nennt man im Volksmund die Gefängnistransporter) verfrachtet. Passanten beschimpfen die Sicherheitskräfte mit den Worten "Faschisten", "Banditen", "für Geld verkauft"
- Der Protest geht phantasievoll weiter. Einige Frauen verteilten Kartoffelpuffer mit den Worten: "Liebe Bürger, Ihr Hunger ist nicht autorisiert".
- Ein 12jähriger Junge, der von Sicherheitskräften wegen der Teilnahme an einer Demonstration verhaftet wurde, wurde wieder freigelassen.

1.6. Frauenpower - ist der Wandel weiblich?

Auf Freitag schreibt der Journalist Michael Jäger von der "Revolution der Frauen", die Tagesschau titelte "Der Wandel ist weiblich" . Maria Kolesnikova, Svetlana Tichanovskaja und Veronika Zepkalo wurden während der Wahl zu Symbolfiguren, bei öffentlichen Demonstrationen sieht man zumeist Frauen. Dies als Zeichen der Emanzipation der Frauen in Belarus zu sehen, halte ich für gewagt, zumal alle Frauen immer wieder bekräftigten, als Platzhalter für verhaftete Männer zu kandidieren. Lukashenko nahm ihre Kandidatur während des Wahlkampfes nicht ernst. Dafür gibt es Gründe.

Für demonstrierende Männer ist die Gefahr groß, geschlagen und verhaftet zu werden. Frauen scheint die OMON bis heute nicht ernst zu nehmen. Über die Gründe kann man spekulieren. Sicherlich ist ein patriarchalisches Weltbild einer der Gründe. Vorstellbar ist auch, für ein Mitglied der OMON gibt es den Ehrenkodex, keine Frau in der Öffentlichkeit zu schlagen. Zudem wird die meckernde Frau bzw. Babushka allgemein in Osteuropa als nicht zu verhinderndes Naturereignis gesehen. Das dürfte einer der Gründe sein, weshalb die Demonstrationen nach der Wahl nicht wie 2010 schnell niedergeschlagen werden können. Der Widerstand der Menschen ist nicht organisiert und vielleicht deshalb auch langlebiger. Das System versucht, führende Köpfe zu finden und abzuurteilen, aber täglich wiederholt sich das Ritual der Proteste auf den Straßen in Belarus.

Interessant ist die Frage, ob diese Demonstrationen der Frauen langfristige Folgen für die Gesellschaft in Belarus haben wird. Sollte diese friedliche Revolution der Straße Erfolg haben, ist es nicht unwahrscheinlich, man sieht in der Zukunft mehr Frauen auf der politischen Bühne in Belarus.

1.7. Allein machen sie dich ein

"Sportler sind sehr wichtig für die Staatsideologie, aber auch für die freie Gesellschaft.
Deswegen stehen sie unter besonderer Kontrolle von Lukaschenka.
Er weiß, wie viel die Sportler für die Meinung der Öffentlichkeit bedeuten."
Aljaksandr Apeikin, Sportler rebellieren in Belarus, ND

Wie breit der Protest ist, kann man nicht nur auf den Straßen sehen. Bekannte Moderatoren wie Denis Dudinskij haben sich gegen Lukashenkos Regime aufgestellt und dürfen zum Teil nicht mehr in den Medien auftreten.

EU-Flaggen sieht man so gut wie überhaupt nicht. Der wahrscheinliche Grund dafür ist die Angst vor einer Invasion des Kremls. Die LGBT-Regenbogenflagge (Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender) ist zumindest in Minsk häufiger als Zeichen des Protestes gegen das System zu sehen.

"Bin ich es wert, die Ehre des Landes zu verteidigen,
wenn ich meine eigene nicht verteidigen kann?"

Aljaksandra Herassimenja

Zahlreiche Sportler artikulierten ihren Protest zum Teil sehr drastisch. Der Generaldirektor des Rekordmeisters BATE Baryssau Michail Zalewsky kündigte und warf seine Militäruniform vor laufenden Kameras in den Mülleimer, der Nationalspieler Ilja Shurin, eines der größten Talente im belarusischen Fußball, trat aus der Nationalmannschaft für die Dauer der Amtszeit von Lukashenko zurück.

Über die Probleme, die Sportler im vom Staat finanzierten und dominierten Sport haben und welchen Repressalien sie ausgesetzt snd, schrieb Ingo Petz ausführlich in einem ND-Artikel.

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1.8. Alles verändert sich

"Ein Raum, in dem Menschen gefoltert und zu Tode verprügelt werden,
weil sie zu friedlichen Protesten gehen, in dem Kinder von Lehrkräften
unterrichtet werden, die eingeübte Meister in Wahlfälschungen sind,
ist kein Raum fürs Leben."
Iryna Herasimovich

Viele der Demonstranten sind jung. Viele versprachen sich von Lukashenkos Regime nie etwas, aber getrauten sich aus Angst vor dem Verlust des Studienplatzes oder der Arbeitsstelle nicht zu demonstrieren. Manche wiederum waren unpolitisch und kümmerten sich nicht darum, wie ihr Staat regiert wird. Diese Wahl und die anschließende Wahlfälschung, die offensichtlicher nicht sein konnte, bringt viele Menschen auf die Straße.

Seitdem die Universitäten am 1. September wieder geöffnet sind, wurden täglich Studenten verhaftet und mit absurden Begründungen, sie hätten gegen faire Wahlen mit Provokationen protestiert, verurteilt. Der Staat gibt nicht auf, Lukashenko will nicht zurücktreten, aber immer mehr Bürger erkennen, dieser Staat ist am Ende, er schlägt wild und unkoordiniert wie ein in die Ecke getriebenes Tier um sich.

Der Versuch, die weiß-rot-weiße Flagge des Protests als faschistisches Symbol zu diskreditieren, funktioniert nicht. Am 6. September wurden die Demonstranten über eine Lautsprecheranlage darüber "informiert", sie sei ein Symbol des Faschismus und für Hitler.

Die Alten danken den Jungen für den Protest und den Mut. Lukashenkos martialischer Auftritt mit einer Kalashnikov am 23. August verkommt dagegen zu einer hohlen Geste eines zusammengebrochenen Regimes.

2.1. Liebesgrüße aus Moskau

"Für Moskau ist es nicht so sehr wichtig, wer in Minsk verantwortlich sein wird,
sondern wie er werden wird. Ein Putsch, geheime Vereinbarungen - bitte.
Durch den Willen des Volkes - niemals."
Leonid Gozman, russ. Politiker, Präsident der Bewegung "Union of Right Forces"

Es zeichnet sich ab, Putin wünscht keinen Machtwechsel und stützt den wankenden Lukashenko. Ein Szenario wie 2018 beim schnellen Rücktritt des Präsidenten Sargasjan in Armenien wird es nicht geben. Belarus ist näher an Europa als Armenien. Da darf es im Drehbuch keinen Sieg des Volkes geben. Dieser könnte Auswirkungen auf das eigene Land haben und das System Putin ernstlich in Frage stellen. Vielleicht kündigte Putin auch deshalb am 27. August die Bildung einer Reserve von Strafverfolgungsbeamten an, um Lukashenko zu helfen. Bislang ist in den Straßen der belarusischen Städte trotz anderslautender Fakebilder noch keine "brüderliche Hilfe" sichtbar.

Der Zeitpunkt für das Drehbuch eines friedlichen Machtwechsels in Minsk könnte verpaßt worden sein. In dieser Hinsicht gibt es mit dem 30. November 2013 während des Maidans in der Ukraine eine Parallele, als sich Janukovych dazu entschlossen hatte, die Proteste auf dem Maidan mit brutaler Gewalt zu beenden und in den Tagen danach Hunderttausende auf den Straßen demonstrierten. Nach dessen Sturz antwortete der Kreml mit der Annexion der Krym und dem Krieg im Donbas gegen die Ukraine.

Die Option "Novorossiya" und "Krym nash" (Krym unser) funktioniert in Belarus nicht. Es gibt keine Basis in Belarus für einen angeblichen Volksaufstand im Sinne Putins und eine offene militärische Intervention Russlands wäre im eigenen Land schwer vermittelbar.

Genauer gesagt, sie [die Menschen] existieren als Objekt der Nächstenliebe,
als Quelle der Angst, als von Feinden manipulierte Masse.
Aber sie existieren nicht als freie Untertanen - wenn sie auf die Straße gehen,

dann nur, weil sie durch Betrug oder Bezahlung "herausgelockt" wurden.
Leonid Gozman

Es ist ein erstaunliches Phänomen, wie erfolgreich Putins Narrativ vom unmündigen Bürger ist. Auch im Westen finden sich Anhänger der These, eine Bevölkerung könne ohne Manipulation keinen Aufstand gegen die eigene Regierung wagen. In Belarus zeigt der Aufstand nahezu ohne politische Führung und nur getragen von der Wut vieler Bürger: Die Bevölkerung kann es.

2.2. Wirtschaftlicher Ausverkauf zum Machterhalt

"Die belarusischen Behörden lügen nicht.
Es ist ihnen einfach egal, ob sie die Wahrheit sagen oder nicht
und wie lächerlich es von außen aussieht."

Artem Shraibman

Vor der Präsidentschaftswahl gab es von Seiten Belarus in Gesprächen mit EU-Partnern fast nur ein Thema: die komplexen Pläne der Moskauer Intervention in Belarus. Nach den Demonstrationen gegen diese Wahl sucht Lukashenko zum Erhalt der Macht ein Bündnis mit Putin. Welche Gegenleistungen könnte Putin fordern, um sich von Lukashenko nicht auf irgendwelche Versprechungen bezüglich eines eurasischen Wirtschaftsraumes abspeisen zu lassen? Das Wort des Präsidenten von Belarus gilt nichts mehr. Auch Verträge dürften kaum etwas ändern. Für die Garantie des Machterhalt Lukashenkos dürfte Putin schnelle Ergebnisse fordern. Wie könnten diese aussehen?

Hier lohnt sich ein Blick auf die Ereignisse in Abchasien und Süd-Ossetien nach 2008 sowie nach der Annexion der Krym und der Besetzung von Teilen des Donbas 2014. Es fällt auf, wie viele Unternehmen danach den Besitzer wechseln. Namen wie Malofeev, Kurchenko oder Firmen wie Vneshtorgservis, aber auch Unternehmen wie Sheriff in Transnistrien oder gar in Tschetschenien das System Kadyrov wirken wie Relikte aus Zarenzeiten. Sie erhalten eine Region als Lehen vom Kreml, sorgen für Ruhe und streichen als Gegenleistung exorbitante Gewinne ein (der Bericht über Kurchenko in den "Volksrepubliken" wird kommen). Eine denkbare Variante ist es, staatliche Unternehmen in Belarus wechseln den Besitzer, reduzieren oder beenden die direkten Wirtschaftskontakte mit Litauen und Polen und der Handel wird von Russland kontrolliert. Die Kosten für den Machterhalt Lukashenkos könnten für Belarus das Absinken auf den Status eines Vasallenstaates mit enger wirtschaftlicher Abhängigkeit sein. Je länger dieser andauert, desto düsterer wird die Perspektive für die nachfolgende Generation eines Landes oder einer Region auf eine bessere Zukunft, wenn man versucht, sich aus dieser Abhängigkeit zu befreien.

Andreas Umland diagnostiziert Ähnlichkeiten der politischen Régime und Volkswirtschaften unter Lukaschenko in Belarus und Putin in Russland. Während die belarusischen Staatsbetriebe von Personen geleitet werden, die dem Präsidenten verpflichtet sind, besteht die Wirtschaft im heutigen Russland aus einer merkwürdigen Mischung zwischen Neoliberalität der Neuzeit und dem teilweise tatsächlich schon erblichen Lehnswesen des Mittelalters oder des zaristischen Russlands. In beiden Staaten sind die Siloviki genannten Privilegierten dafür zuständig, im Sinne des Präsidenten mit Zuckerbrot und Peitsche für Ruhe und Ordnung im Lande zu sorgen.

2.3. Scheinwahlen und Feindbilder

Der Deal zwischen Herrscher und Beherrschten - das väterliche Staatsprinzip - Raushalten aus der Politik gegen bescheidenen Wohlstand, zerbricht langsam. Die Eliten und Sicherheitsbeamten werden sich zerstreuen, wenn das Geld ausgeht. So ist die Hoffnung vieler.

Sollte sich Lukashenko dank der Unterstützung von Putin an der Macht halten, bedeutet dies mitnichten eine langfristige Bindung von Belarus an den eurasischen Raum. Lukashenko ist Präsident seit 1994, Putin seit 2000. Beide hatten lange Jahre durchaus die Zustimmung der Mehrheit der Bevölkerung. Seit etwa zehn Jahren erstarren beide Systeme, die sich immer mehr auf Wahlfälschung und auf die Unterdrückung durch die Exekutive und die Judikative stützen müssen.

Der Historiker Jan-Claas Behrens sieht in den Ereignissen in Belarus und im sibirischen Chabarovsk den "Übergang vom Imperium zum Nationalstaat" und erwähnt die Ereignisse in Polen 1981. Ein spannender Vergleich. Damals setzte sich die kommunistische Partei in Polen nur mit Hilfe eines Militärputsches und der drohenden militärischen Intervention aus Moskau durch. Ein Machterhalt auf Zeit, der nur wenige Jahre hielt. Eine offene Intervention Russlands zugunsten von Lukashenko könnte daher auch das nahende Ende des Eurasischen Wirtschaftsraumes bedeuten, da die Menschen darin keine Zukunft für sich finden werden. Mit Sicherheit wird das in Belarus der Fall sein. Vermutlich aber auch in Russland selbst, denn Putins System funktioniert nur mit Feindbildern. Eine interessante Parallele zu Bismarck.

Auch Lukashenko regiert mit Feindbildern, wenn diese sich je nach Windrichtung sehr schnell ändern können. Die Gegner auf der Straße sollen Faschisten sein, die nächsten Feinde sind Litauen und Polen. Besonders absurd ist der Vorwurf, Kanada wolle die belarusische Traktorindustrie schwächen.

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3.1. Arsen und Spitzenhäubchen

Das Treffen zwischen Lukashenko und dem russischen Premierminister Mishustin vor einigen Tagen macht es notwendig, sich eingehender mit dem Mordanschlag an Alexej Navalny zu beschäftigen. Navalny recherchierte über Vladimir Reznikov und stellte fest, Tomsk ist in der Hand der Mafia. Das Ergebnis der Recherchen wurde von seinen Mitarbeitern am 3. September veröffentlicht und könnte den Kreis der möglichen Täter durchaus auch auf Reznikov erweitern, der vom leitenden Direktor des Stromkonzerns Gorsets laut Handelsregister zum Inhaber des ehemaligen Staatsunternehmens wurde. Auch in anderen Bereichen wie zum Beispiel dem Wasserversorgungsunternehmen, welches die Preise für die Bürger innerhalb von 5 Jahren verdoppelt hat sowie in diversen anderen Sparten findet man Spuren zum Familienclan Reznikov, in dem Söhne und Enkel als Inhaber profitieren. Der Ursprung ist eine Initiative von Putin aus den frühen 2000er Jahren. Soviel zum Thema Putin als Kämpfer gegen Oligarchie in seinem Land.

Navalny wollte am 20. August morgens von Tomsk nach Moskau fliegen. Die Chronologie der Ereignisse an Bord (Ortszeit von Tomsk):

8:01 Start des Flugzeugs, nach Angaben der Passagiere fühlte sich Navalny zunächst unwohl und ging auf die Toilette, wo er 20 Minuten verblieb
8:50 Die Flugbegleiter erfuhren von den Beschwerden Navalnys
9:00 Anfrage über die Freisprecheinrichtung, ob sich ein Arzt an Bord befindet
Anschließend kümmerte sich eine Krankenschwester um Navalny, um ihn wach zu halten. Dieser lag mittlerweile auf dem Boden des Ganges und
schrie.
9:25 Anfrage des Piloten an den Tower für eine Notlandung in Omsk
9:30 Antwort des Towers, eine Notlandung sei aufgrund einer Bombendrohung und der Räumung des Flughafens nicht möglich (Gesprächsprotokoll, MBH-Medien Sibirien)
Landung in Omsk gegen 10 Uhr

Der Pilot entschied sich gegen die Anweisung des Towers aufgrund des Gesundheitszustandes für eine Landung auf dem gesperrten Flughafen. Das ein Flugzeug aufgrund eines erkrankten Patienten an Bord oder auch schon mal wegen randalierender Passagiere eine Zwischenlandung einlegen muß, ist kein ungewöhnlicher Vorgang. Ein Pilot trägt die Verantwortung für das Wohlergehen der Passagiere während der Reise. Erfahrenere Piloten der zivilen Luftfahrt lassen sich daher nicht einmal von an Bord befindlichen Staatsoberhäuptern irgendwelche Befehle geben. Dies ist eine alte Tradition, die auch schon zu Zeiten der Schifffahrt für den Kapitän galt. Dennoch droht die Fluggesellschaft dem Piloten mit Konsequenzen.

Nachdem der erste behandelnde Arzt im Krankenhaus von Omsk mutmaßlich dank der richtigen Maßnahme Navalny das Leben gerettet haben dürfte, begannen die Schikanen der Behörden. Seiner Ehefrau wurde der Besuch zunächst mit der Begründung verwehrt, der im Koma liegende Patient habe nicht seine Zustimmung erteilt. Anschließend verlangten sie ein amtliches Dokument der Eheschließung, welches sie als Ehefrau ausweist. Erst nachdem die Heiratsurkunde aus Moskau herbeigeschafft wurde, ließ man sie zu ihrem Ehemann.

3.2. Altbekannte Spiele

[...] dass der Angriff auf Dissidenten in Russland nur auf raffiniertere Weise
stattfindet und das Vorhandensein einer eingebauten Propagandamaschine
es ermöglicht, die öffentliche Meinung innerhalb des Landes unter Kontrolle
zu halten und außerhalb seiner Grenzen Verwirrung zu stiften.
David Kireev

Am 2. September verkündete Regierungssprecher Steffen Seibert, Navalny sei eindeutig mit einem chemischen Nervenkampfstoffes der Nowitschok-Gruppe (wie Skripal und 2015 vermutlich bulgarischen Waffenhändler Emilian Gebrew) vergiftet worden. Es folgten die üblichen Dementi des Kreml und eine geballte Ladung alternativer Theorien der staatlich finanzierten Propagandasender im TV sowie durch RT und Sputnik im Internet, wie es 2018 auch schon Falschmeldungen nach der Vergiftung von Skripak und seiner Tochter in Salisbury gab.

Einer der Aussagen betreffen eine Vergiftung durch Insulin, von der ein Experte sagt: "Die Aussage 'Akute Insulinspitze' ist lächerlich". Es handelte sich um Novichok, einem Giftstoff, welches nicht von einem gewöhnlichen Chemiker hergestellt werden kann, da dieser sich bei der Produktion vergiften würde. Die Anwendung eines solchen Giftstoffes ist nach den Regeln der internationalen Chemiewaffenkonvention von 1997 ein grober Verstoß. Dieses Abkommen hat auch die Russische Föderation unterschrieben und ratifiziert - pikanterweise war Boris Nemzov zu diesem Zeitpunkt Vizepremier. Die Ursachen für die Forderungen, das Projekt North Stream 2 zu stoppen, sind daher eher in der Verletzung der Chemiewaffenkonvention und weniger der Tatsache geschuldet, es gab ein Attentat auf einen prominenten russischen Politiker.

Novaya Gazeta sieht interessante Parallelen zwischen der Ermordung von Navalny und dem Mord an den saudischen Journalisten Dzhemal Khashoggi. Die Regierungen beider Staaten sind stark vom Rohstoffexport abhängig und "die Aussichten auf eine [...] transparente Untersuchung sind illusorisch". In den Ranglisten bezüglich der bürgerlichen Freiheit und der Pressefreiheit liegen beide Staaten auf hinteren Plätzen.

3.3. Altbekannte Reflexe

"Der Putin muss doch bescheuert sein, wenn er sowas macht.
Er weiß doch, dass das die Beziehungen zum Westen noch mehr verschlechtert.“
Gregor Gysi über den Anschlag auf Navalny

Eine spektakuläre Vergiftung des bekanntesten russischen Oppositionspolitkers sorgt für ein erwartbares Echo. Gregor Gysi versucht sich faktenarm als Verschwörungstheoretiker. Es mag sein, die USA kann das Gift Novichok herstellen, wie es in den sowjetischen Laboratorien der 1970er Jahre entwickelt wurde. Dieses Gift nach Sibirien zu transportieren, um dort den nationalistischen Oppositionellen Navalny zu vergiften, macht weder Sinn, noch ist das logistisch einfach zu bewerkstelligen. Zumal der beschuldigte Trump mitnichten Putins großer Gegenspieler ist. Da sind Gysis Mutmaßungen wohl eher auf antiamerikanische Reflexe zurückzuführen. Wenn man das überstrapazierte cui bono auf den Giftanschlag von Navalny anwenden will, liegt der Gedanke wesentlich näher, unter anderem mit einem Attentat die Schlagzeilen über Demonstrationen in Belarus und in Chabarovsk verdrängen zu wollen.

Vielleicht sollte Gysi, wenn er denn schon Verschwörungstheorien mittels des überstrapazierten cui bono verbreitet, die Drohung von Jevgeni Prigoshin beachten, er werde Navalny finanziell ruinieren, sollte er nicht sterben. Prigoshin soll der Inhaber von Evro Polis sein, die 2016 mit der syrischen Regierung einen Vertrag über den Erhalt eines 25% Anteils an Öl und Erdgas für die noch zu erobernden Gebiete der IS abgeschlossen hat (Quelle: russ. Nachrichtenseite Fontanka). Als Gegenleistung bot Prigoshin die Söldnertruppe Vagner an, die Assad militärisch unterstützt.

"Viele Menschen, die für die Regierung arbeiten und Putin unterstützen,
glauben nicht an eine Vergiftung Nawalnys mit dem Nervengift Nowitschok durch den Kreml"
Tatjana Stanowaja

Die persönliche Feindschaft zwischen Prigoshin und Navalny hat einen anderen Hintergrund. Prigoshins Firma Moskovski shkolnik beliefert unter anderem Moskauer Schulen und Kindergärten mit Lebensmitteln. Ende 2018 kam es zu massenhaften Durchfallerkrankungen. Navalnyj hatte damals zusammen mit seiner Mitarbeiterin Ljubov Sobol von verdorbenen und minderwertigen Lebensmittellieferungen berichtet. Sobols Ehemann Sergej Mochov wurde 2016 überfallen und es wurde ihm Gift injiziert. Der Journalist hatte zuvor Artikel über kriminelle Strukturen berichtet.

3.4. Starke Kartoffeln

Eine merkwürdige Posse ereignete sich während des Treffens zwischen Lukashenko und dem russischen Premierminister Mishustin. Lukashenko präsentierte Aufzeichnungen des belarusischen KGB über angebliche Verhandlungen zwischen Warschau und Berlin. Es war offensichtlich, Lukasheko vermochte Mishustin mit den Enthüllungen nicht zu überzeugen. In der Gesprächsaufzeichnung ging es im Wesentlichen um Pläne von Polen und Deutschland über eine Vergiftung Navalnys und über die Proteste in Belarus. Eine der Passagen bezeichnet Lukashenko als "harte Nuss zum Knacken", da ihm Militär und Beamte besonders treu ergeben seien. Während des Gesprächs erklärt der "Vertreter Berlins", dass alle Materialien zum Fall Navalny fertig sind und an Bundeskanzlerin Angela Merkel übergeben werden. Man müsse lediglich noch ihre Stellungnahme abwarten. Danach fügt er hinzu, dass "es einen Krieg gibt und während eines Krieges alle Mittel gut sind".

Lukashenko hoffte wohl, mit ähnlichen Räuberpistolen wie in der russischen Propaganda auf diplomatischer Ebene in Russland punkten zu können. Vielleicht hatte er das angebliche Satellitenphoto einer ukrainischen Suchoi-25 im Kopf, welches in russischen Medien als angeblicher Beweis präsentiert wurde, die Ukraine habe am 17. August 2014 mit einer Militärmaschine das malaysische Passagierflugzeug MH17 abgeschossen. Auch die ukrainische Sozialistin Natalya Vitrenko versuchte sich an der Manipulation mit Bildern, als sie eine Demonstration von Rentnern in der Ukraine organisierte und ebenso jugendliche Schläger engagierte, die eben diese Rentner überfielen. Die Bilder sollten suggerieren, die Ukraine werde seit dem Maidan von faschistischen Schlägertrupps regiert. Dieses Narrativ verfängt im Westen, auch wenn sich Geschichten wie die von Bandera-Anhängern gekreuzigten Jungen in Slavjansk als schlechtes Drehbuch erwiesen und sich die tränenreiche Anklage der Frau als Engagement einer Schauspielerin erwies.

Nach der Zusammenkunft zwischen Lukashenko und Mishustin präsentierte der staatliche TV-Kanal National Television ONT und der anonyme Telegramkanal Pool Pervoy den angeblichen Beweis dafür, Deutschland habe die Ergebnisse der medizinischen Analyse der Vergiftung Navalnys gefälscht. Der Vertreter Deutschlands erwähnte, zum Fall Navalny sei alles vorbereitet und das Material müsse lediglich noch der Bundeskanzlerin Angela Merkel übergeben werden, damit sie die Aktion absegnen könne.

Während der russische Pressesprecher Dmitri Peskov noch abwiegelt und kommentierte, die Echtheit der Aufnahmen könnten nur von Experten beurteilt werden, ist es offensichtlich, auf diplomatischer Ebene funktionieren solch Räuberpistolen nicht. So wirkte Mishustin angesichts Lukashenkos Enthüllungen und der kaum plausiblen Naivität des Wortlauts in der Aufnahme wenig überzeugt.

Die Novaya Gazeta urteilt hart: "Lukaschenka scheiterte beim Casting für die Rolle des nützlichen Idioten". "Die in Minsk organisierte mittelmäßige Show wird zu einer Belastung für die politische Elite Russlands, und dies bedeutet, dass die Produktion bald ihren Regisseur wechseln könnte"

Die Pressesprecherin von Navalny Kira Yarmysh bezeichnete die im belarusischen Fernsehen veröffentlichte Aufnahme als witzig und in Osteuropa lacht man unter dem Stichwort Крепкий картошек (Starke Kartoffeln) über das abgehörte Telefongespräch zwischen Nika aus Berlin und Mike aus Warscha. Den Pfadfindern" von Novaya Gazeta gelang das Abhören zweier Männerstimmen. Auch das in Belarus bekannte Kabarett Sauka dy Gryshka von Lavon Volski nahm die realsatirische Vorlage Lukashenkos auf. Sauka dy Gryshka parodierten 2011 den Eurovision-Song I Love Belarus. Damals als Reaktion auf den niedergeschlagenen Aufstand bekommt das Video im Jahre 2010 eine neue Aktualität.

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Keinerlei Freiheit den Feinden der Freiheit - das ist meine Politik.

4. Die Stellungnahmen der Linken zu den Demonstrationen

"Die für die Repression Zuständigen müssen zur Verantwortung
gezogen werden, auch mit individuellen Sanktionen, die sich aber
nur direkt gegen sie richten sollen und nicht gegen die ganze Bevölkerung."

Resolution der Linken zu Belarus

Ich gehöre nun wirklich nicht zu den Sympathisanten eines Andrej Hunko. Seine Gedanken zu den möglichen Szenarien in Belarus halte ich aber teilweise für nachvollziehbar. Mit Einschränkungen. Hunko scheint beim Thema Ukraine etwas vergeßlich zu sein. Er behauptet, nach dem Maidan habe es keine Wahlen in der Ukraine gegeben. Da mag er die Präsidentschaftswahl im Mai 2014 und die Wahl der Verchovna Rada im Oktober 2014 vergessen haben. Vielleicht haben ihm die Ergebnisse der als frei und fair anerkannten Wahlen nicht gefallen. Zudem gab es 2013/14 in der Ukraine kein "Patt". Janukovych hatte noch weniger Unterstützung in der Ukraine als es Lukashenko heute in Belarus hat.

Dennoch erstaunt der Sinneswandel. Betrachtet man die Sanktionen, die gegen Russland nach der Annexion der Krym und aufgrund des Krieges gegen die Ukraine im Donbas verhängt worden sind, so fällt auf, diese sind zumeist direkt gegen die gerichtet, die für die Repression zuständig waren. Gegen Einzelpersonen. Die Gegenreaktionen von Russland waren indirekt gegen das eigene Volk gerichtet und werden dort vom Volksmund seit 2011 "Bomben auf Voronesh" genannt. Man könnte daher sagen, die EU hat die Art der geforderten Sanktionsforderungen der Linken aus dem Jahre 2020 bereits im Jahr 2014 umgesetzt, während Hunko noch im Oktober 2015 in Belarus keine Wahlfälschung zu erkennen vermochte. Reaktionen aus Belarus sprachen auch damals schon eine andere Sprache, auch wenn im Jahr 2015 eine Mehrheit für Lukashenko gewählt haben dürfte

Amüsante Pointe - direkte Sanktionen der EU gegen Lukashenko haben Deutschland, Frankreich und Italien bislang verhindert.

5. Danksagung

Ein besonderer Dank geht an Mariya Klimovich. Die Photos wurden von ihr am 6. September 2020 in Minsk aufgenommen.

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