Erinnerungskultur nur für große Nationen

Tag der Befreiung Die Geschichte auf eine allumfassende und ewig gültige Formel bringen zu wollen, endet in eine Ideologie oder eine reduzierte Sichtweise. Große Staaten neigen dazu.

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1. Änderung des Geschichtsbewußtseins in Westeuropa seit den 1980ern

Richard von Weizsäcker hielt am 8. Mai 1985 vor dem Deutschen Bundestag in Bonn eine Rede und prägte den Begriff von dem Tag der Befreiung. Was den Westen Deutschlands betrifft, so kann man diese These sicherlich bestätigen. Ein historischer Wandel dauert lange, so verwundert es nicht, diese Erkenntnis wurde vom Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland zu einem Zeitpunkt ausgesprochen, als die deutschen Soldaten, die den Wahnsinn überlebt hatten, in Rente gingen. Zwei neuere Generationen waren nötig, die in einem Deutschland ohne Drill und Rassenwahn aufwuchs, damit diese These von der breiten Mehrheit der Bevölkerung getragen werden konnte.

Aber in dieser Rede tauchten weitere Aspekte auf. Gleich zu Beginn sprach der Bundespräsident von unterschiedlichen Erfahrungen der Völker. Eine Erkenntnis, die bei vielen Deutschen bis heute noch nicht angekommen ist. Historische Differenzierungen und der Respekt sowie die Kenntnis vor unterschiedlichen und zum Teil komplexen Erlebnissen bei kleineren Staaten wie Polen, Estland, Lettland, Litauen, Belarus oder die Ukraine erlebt man nur sehr selten. Das Narrativ von Deutschland, Russland oder die USA dominiert.

"Viele Völker gedenken heute des Tages, an dem der
Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende ging. Seinem
Schicksal gemäß hat jedes Volk dabei seine eigenen
Gefühle. Sieg oder Niederlage, Befreiung von
Unrecht und Fremdherrschaft oder Übergang zu
neuer Abhängigkeit, Teilung, neue Bündnisse, gewaltige
Machtverschiebungen -
der 8. Mai 1945 ist ein Datum
von entscheidender historischer Bedeutung in Europa."
Richard von Weizsäcker
Rede vor dem Deutschen Bundestag zum 40. Jahrestag

1.1. Untergang der Staatslügen in Frankreich

Selbsttäuschungen über die Rolle der eigenen Nation während der Besatzungszeit durch das Deutsche Reich sind häufiger zu finden. Erst 1995 hatte der damalige französische Präsident Jacques Chirac zum Jahrestag der Judenrazzia von Vél’ d’Hiv’ die von der französischen Polizei am 16. und 17. Juli 1942 durchgeführte massenhafte Verhaftung von Juden in einer Rede offiziell benannt und die französische Schuld an der Deportation durch die Juden bekannt. Bis dahin galt der Konsens mit Hilfe des Widerstandes der Résistance, der sowohl Vichy als auch die Kollaboration in Frankreich in den nicht sichtbaren Fokus der Geschichte verdrängte. In den 90ern begann in Frankreich der Untergang der Staatslügen.

Gerade an der Besatzungszeit Frankreichs durch das Deutsche Reich kann man die Widersprüchlichkeit der Geschichte gut erkennen. Dem höchsten Prozentsatz der überlebenden Juden, die Staatsbürger eines besetzten Landes waren, hatte Frankreich zu bieten. Aber nirgendwo fanden die Nazis willigere Helfer in der Polizei als in Frankreich. Ein schlagender Beweis dafür: Mit einer einfachen These ist Geschichte halt nicht zu begreifen, wenn man die historischen Quellen wahrnehmen will.

2. Belarus und die Ukraine im 2. Weltkrieg

Eine Besonderheit in der Erinnerung an den 2. Weltkrieg stellen die heutigen Staaten zwischen Russland und Deutschland dar. Während viele Menschen in den beiden großen Nationen so tun, als ob die kleineren Staaten gefälligst eine der beiden Narrative übernehmen sollen, hört man, wenn überhaupt, in Deutschland höchstens rudimentär der polnischen Erinnerungskultur zu. Das Unwissen der Deutschen über die Ereignisse des 2. Weltkrieges in Belarus und in der Ukraine ist grenzenlos und oft auch von Ignoranz geprägt.

Prozentual beklagen Belarus und die Ukraine die höchste Anzahl der Opfer im 2. Weltkrieg. In Belarus war die Hälfte der Bevölkerung 1944 tot oder deportiert. In beiden Staaten überlebten alleine zwischen 1941 und 1944 ein Viertel der Bevölkerung den Krieg nicht. Die Zahlen für Belarus sind erschreckend:

Zerstörung:
85% der Industriebetriebe
95% der Industriekapazität
45% der Saatfläche
80% des Viehbestandes
209 Städte und 9200 Dörfer völlig zerstört
(Wolfgang Gieler, Das politische System von Belarus: Geschichte, Grundlagen und Entwicklungsperspektiven)

Der Aderlass in Belarus war groß. Im sowjetischen Teil von Belarus gab es wie im Rest der Sowjetunion Hungersnöte und die stalinistischen Massaker, nach dem Molotov-Ribbentrop-Pakt wurden ab Ende September 1939 im ehemals polnischen Teil vom heutigen Belarus Deportationen und Massenerschießungen nachgeholt. Der Krieg und die Raserei der deutschen Nationalsozialisten führten zu ungeheuren Verlusten. Dazu noch die Bevorzugung des Russischen in der Sowjetunion - das führte fast zur Auslöschung der belarussischen Kultur und Sprache, die heute von manchen jungen Menschen in Belarus neu entdeckt und erlernt wird. Wer mehr über dieses den meisten Westeuropäern fremd gebliebene Land Belarus wissen will - Ingo Petz hat einen längeren Artikel darüber geschrieben.

Auf dem Gebiet beider Staaten finden sich zudem Massengräber aus der Zeit zwischen 1918 und 1941 und es wurden nicht die Toten eingerechnet, die der Krieg und die anschließenden Erschießungen seit September 1939 durch den Molotov-Ribbentrop-Pakt forderte. Ab 1941 kam noch der Partisanenkrieg in beiden Ländern hinzu, der speziell in Belarus dazu führte, die Bevölkerung wurde unter Generalverdacht gestellt, mit einem der beiden Kriegsparteien zu paktieren. Verdächtig war jeder, der noch lebte, nachdem eine der beiden Kriegsparteien ein Dorf erobert hatte.

2.1. Eindimensionale deutsche Sichtweisen kollidieren mit Erfahrungen kleinerer Staaten

"Das ukrainische Volk musste einen sehr hohen Blutzoll im Zweiten Weltkrieg
entrichten. Wir haben mindestens acht
Millionen Kriegsopfer zu beklagen,
darunter über fünf Millionen Zivilisten, Frauen und Kinder, die im
deutschen
Vernichtungskrieg von der SS oder Wehrmacht ermordet wurden. Diese schrecklichen
Zahlen schließen auch 1,6 Millionen ukrainische Juden ein, die im beinahe
vergessenen Holocaust durch Kugeln von den Nazis umgebracht wurden."
Andrij Melnyk
Botschafter der Ukraine in Deutschland im Interview

Indirekt spricht Melnyk die falsche Erinnerungskultur in Deutschland an, die sich auf die Arbeitslager Auschwitz, Dachau, Buchenwald etc. bezieht und von den massenhaften Erschießungen, die hauptsächlich auf dem Gebiet der heutigen Ukraine und in Belarus stattfanden, wenig oder fast überhaupt nicht Notiz genommen hat. Die Täter selbst dokumentierten ihre Massaker. Wie zum Beispiel Johannes Hele, Fotograf der 637. Propaganda-Kompanie der 6. Wehrmachtsarmee. Auch in der Literatur wurden massenhafte Erschießungen thematisiert. Die Todesfuge von Paul Celan ist bekannt und wird in Deutschland als symbolisches Gedicht von Auschwitz gesehen. Wer das Gedicht genau liest, sollte eher an Babyn Yar oder Kamjanez-Podilskyj denken.

er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne
er pfeift seine Rüden herbei
er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde
er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz
Paul Celan, Ausschnitt aus "Die Todesfuge", 1944/45

Viele deutsche Politiker agieren zumindest unglücklich, wenn es um historische Gedenktage geht. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller lud die Botschafter von Russland, Belarus und der Ukraine vor einigen Wochen ein, am 2. Mai am ehemaligen Kommandostab der sowjetischen 8. Gardearmee einen Kranz niederzulegen, um die Soldaten der Roten Armee zu würdigen. Die Absage des ukrainischen Botschafters Melnyk war erwartbar. Er begründete die Absage in einem Interview wie folgt: „Nicht einmal im schlimmsten Albtraum könnte ich mir vorstellen, Kränze niederzulegen an der Seite eines Vertreters des Landes, das seit über sechs Jahren zynisch einen blutigen Krieg in der Ostukraine führt. Bis heute wurden über 14.000 Ukrainer im Laufe der immer noch andauernden russischen Aggression umgebracht. Jeden Tag und jede Nacht werden meine Landsleute verwundet und getötet.“ Der Senatskanzlei scheint entgangen zu sein, seit 2014 gibt es einen Krieg in der Ukraine.

Viele Gedenkorte wie zum Beispiel der Treptower Park sind Erinnerungsorte an die sowjetischen Befreier. Für viele Nationen zwischen Deutschland und Russland ist der 8. bzw. 9. Mai zwar eine Befreiung vom Nationalsozialismus gewesen, dieses Datum steht aber ebenso für den Beginn der stalinistischen und später sowjetischen Fremdherrschaft. Jedes Volk hat seine eigene Geschichte über die Stalinisierung zu erzählen. Lediglich den Polen wurde ein Gedenkort in Berlin in Aussicht gestellt. Sinnvoller wäre ein Gedenkort, der für alle Völker geeignet ist, der unter den deutschen Angriffskrieg zu leiden hatte. Der Wille dafür ist in Deutschland nicht einmal in Ansätzen zu erkennen.

2.2. Zwangsarbeiter

Eine Begleiterscheinung des Kriegs ist das Thema Zwangsarbeiter, die man in der Sowjetunion "Ostarbeitery" nannte. Deren Verfolgung endete nicht am 8. Mai 1945. Sie blieben mindestens bis 1989 unter Generalverdacht. Stalin waren diese Ostarbeiter ebenso verdächtig wie die Kriegsgefangenen. Sie sahen, das Leben beim Klassenfeind war deutlich angenehmer. Auch wenn ihnen nur die Rolle der "Untermenschen" blieb und sie vielfach bis zum Tod schuften mußten und bei Bauern manchmal erniedrigt wurden, wenn ihnen das Essen im Schweinetrog serviert wurde. Nicht immer war Rassenwahn der Grund der Unterdrückung. Es gab auch Fälle von Sadismus oder Wahn der Macht - auch noch in den letzten Kriegstagen.

Während zu Beginn des Krieges arbeitsfähige Menschen zwischen 16 und 60 Jahren zunächst freiwillig, sehr schnell jedoch unter Zwang zum Arbeitsdienst im Deutschen Reich eingezogen wurde, wurden im Laufe des Krieges immer mehr Kinder als Zwangsarbeiter eingesetzt und die nicht Arbeitsfähigen als nutzlose Esser angesehen.

3. Erinnerungskultur

In Belarus und in der Ukraine wird der Tag der Befreiung von den Nazis bis heute in jedem Ort mit einem Volksfest gefeiert. Im ukrainischen Poltava ist es zum Beispiel der 23. September.

In Belarus ist die Erinnerungskultur eher sowjetisch geprägt, dennoch wird die Gedenkstätte Chatyn bei jedem Besucher einen tiefen Eindruck hinterlassen. Wer die Festung in Brest besichtigt, wird eher nicht erfahren, es wurde zweimal sehr heftig an diesem Ort gefochten und die Wehrmacht verlor zunächst 1939 gegen die Polen, 1941 gegen die Rote Armee viele Soldaten. Vom 21. bis zum 23. Juni 1941 betrug der Anteil der gefallenen deutschen Soldaten im Kampf um diese Festung 90% der Gesamtverluste von der gesamten Front. Bis Ende Juli konnte die Rote Armee Teile der Festung halten. Die Frage, wem gehört der große Sieg, wird in Belarus unter Lukashenko bis heute noch mit der Betonung auf Sieg über den Faschismus beantwortet. Die Erinnerung an die Leiden, die dieser Sieg mit sich brachte, ist in Belarus aber präsenter als im benachbarten Russland.

In der Ukraine ist die Erinnerungskultur komplizierter. Mehr als 97 Prozent der während des 2. Weltkrieges als Soldaten kämpfenden Ukrainer dienten in der Roten Armee. 6 Millionen Soldaten, von denen jeder Zweite das Ende des Krieges nicht erlebte. Krieg und Besatzung begann auf dem Gebiet der heutigen Ukraine noch früher als anderswo. Im November 1938 erhielt die Karpatenukraine eine kurzlebige Selbständigkeit bis März 1939, fiel 1944 wieder zurück an die Tschechoslowakei, um 1946 in den ukrainischen Teil der Sowjetunion eingegliedert zu werden. Schon 1939 wurde der bis dahin polnische Teil von Belarus und der Ukraine zum Schlachtfeld im 2. Weltkrieg, als zunächst die deutsche Wehrmacht, ab dem 17. September auch die Rote Armee Polen überfiel. Die Stadt Lviv hat die merkwürdige Episode zu bieten, 10 Tage lang von der Roten Armee und von der Wehrmacht gleichzeitig belagert worden zu sein. Danach wurde in Berlin und in Moskau gleichermaßen die im Molotov-Ribbentrop-Pakt vereinbarte Teilung Osteuropas gefeiert. Mit durchaus ähnlichen Worten. Molotovs Rede hätte auch von Goebbels oder Rosenberg gehalten werden können.

"Die herrschenden Kreise Polens brüsteten sich nicht wenig mit der
‚Stabilität‘ ihres Staates und der ‚Macht‘ ihrer Armee. Es genügte jedoch
ein kurzer Schlag gegen Polen, geführt zunächst von der deutschen
Armee und danach von der Roten Armee, damit von diesem
missgestalteten Geschöpf des Versailler Vertrages, das von der Unterjochung
der nichtpolnischen Nationalitäten lebte, nichts übrig blieb.“

Vjacheslav Molotov
Rede vor dem Obersten Sowjet am 31. Oktober 1939

In den sowjetischen Bibliotheken verschwand von September 1939 bis Juni 1941 die antifaschistische Literatur. Wolfgang Leonhard berichtete darüber, man konnte stattdessen fast zwei Jahre lang den von Julius Streicher herausgegebenen "Stürmer" studieren. Eine heute nahezu vergessene Posse der Geschichte.

3.1. Massaker von Korjukivka

Wer durch die Ukraine reist und die verschiedenen historischen Schauplätze besucht, wird immer wieder daran erinnert, eine simple Unterteilung in Gut und Böse mag in einem Western funktionieren, aber nicht im richtigen Leben. Das die SS oder auch die Wehrmacht als Racheakt ganze Dörfer ausradierten, weiß man, wenn man etwas von Oradour-sur-Glane oder Lidice gehört hat. In Belarus oder in der Ukraine muß man, egal wo man sich befindet, nicht weit fahren, um einen Ort zu finden. Die Auslöschung eines gesamten Dorfes fand in der Ukraine 1377x statt. Über das größte Massaker an einem ganzen Dorf weiß man bis heute so gut wie nichts. Korjukivka eignete sich nicht als Heldenort oder als Mahnmal. Als Rache für einen Angriff der Partisanen verübten 500 ungarische Soldaten auf Befehl eines SS-Mannes an zwei Tagen ein Massaker an die 7000 Einwohner. 5000 sowjetische Partisanen schauten vom nahegelegenen Wald aus zu. Eine zehnfache Übermacht. Man half auch nicht, obwohl die Ungarn zwischendurch abzogen und später wieder auftauchten, um ihr Werk zu vollenden. Niemals vergessen: Die Schreibtischtäter waren die Deutschen. Verstörend ist es dennoch, wie weit die Sowjetmacht ging, um der ukrainischen Bevölkerung zu zeigen, von den deutschen Besatzern hätten sie nur Tod und Verderben zu erwarten.

Das Massaker in Korjukivka zeigt einiges. Während sich in Belarus hauptsächlich Deutsche und Rotarmisten gegenüberstanden, waren in der Ukraine Ungarn und Rumänen den Deutschen untergeordnete Besatzungsmacht, die ebenfalls an vielen Verbrechen beteiligt waren. Dem Massaker von Odessa von Odesa fielen zwischen dem 22. bis 24. Oktober rund 30000 Menschen zum Opfer. Anlaß des Massakers war ein Bombenanschlag auf das rumänische Hauptquartier in Odesa und der rumänische Diktator Ion Antonescu ordnete die Vergeltung an. Die Erlaubnis der Deutschen kann vorausgesetzt werden.

Auch heute lehrt das Massaker von Korjukivka einiges. Die Stadt sucht bis heute aktiv eine deutsche Partnerstadt. Vergeblich. Die Geschichte der Stadt paßt nicht in das simplifizierende Erinnerungsbild der Deutschen. Große Nationen sehen nur die Geschichte anderer großer Nationen.

4. Tag des Sieges oder Tag der Befreiung und Versöhnung

In der Ukraine setzt sich immer mehr der 8. Mai als Tag der Befreiung und Versöhnung durch. In Russland konnte wegen COVID-19 die geplante pompöse Einweihung im Freizeitpark der russischen Armee nicht am 9. Mai durchgeführt werden. Der russische Verteidigungsminister Sergej Shojgu hatte 2018 die Idee für die Christi-Auferstehungs-Kirche, der für die künstlerische Leitung verantwortliche Priester Leonid Kalinin fabulierte: "Dass Gott in allen Siegen Russlands anwesend ist, seit es Russland gibt." Von Moskau 1941 über Stalingrad 1942 bis zur Krym 2014 werden dort Siege gefeiert. Die Orthodoxe Kirche Moskauer Patriarchat feiert Siege der atheistischen Sowjetunion, die unter Stalin viele Priester ermordete. Stalin auf dem überdimensionalen Mosaik in der Kathedrale gefiel nicht jedem Geistlichen, der die Geschichte kennt. Auch Putin und Shoigu fanden nicht den ungeteilten Beifall in der russischen Bevölkerung.

"Irgendwann werden dankbare Nachfahren unsere Verdienste
anerkennen,
aber jetzt ist es dafür noch zu früh"
Vladimir Putin
über die Kritik an seinem Portrait auf einem Mosaik in der Kathedrale

Die Kathedrale wurde im Gegensatz zu früheren Sakralbauten nicht den Opfern gewidmet, den Kriege mit sich bringen. Er dient einzig und alleine der Heroisierung eines Siegesrausches, der in den ersten zwanzig Jahren der Sowjetunion so nie möglich gewesen wäre, als die Erinnerung an das Leid und die Toten in der Bevölkerung noch frisch und präsent waren. Die Fokussierung auf den Großen Vaterländischen Krieg, wie der 2. Weltkrieg in der Sowjetunion genannt wurde und auch heute in Russland bekannt ist, begann für das Geschichtsnarrativ 1941 und nicht 1939, als die Sowjetunion gemeinsam mit den Nazis Polen überfiel. Die mindestens 200000 Toten, die der Winterkrieg gegen Finnland forderte, sind längst vergessen und finden keine Erwähnung. Der Siegesrausch ist auf die Gegenwart gerichtet und interessiert sich nicht für die Grautöne der Vergangenheit. Daher steht die Christi-Auferstehungs-Kirche - einer der größten orthodoxen Kirchen der Welt - auch in einer Art Disney-Park außerhalb der Stadt Moskau. Das Fundament erinnert an die Säulen des russischen Zarenreiches im 19. Jahrhundert. Russland-Zar-Kirche.

4.1. Irritationen in Prag

Wie aggressiv Russland seit einigen Jahren seine Sicht der Geschichte und der Gegenwart auch in anderen Staaten durchsetzen will, erlebt man seit einigen Monaten in Tschechien.

Vor einigen Wochen ließ der Bürgermeister des 6. Prager Bezirks Ondrej Kolar nach monatelanger Diskussion die Statue von Ivan Konev entfernen, die immer wieder von tschechischen Bürgern beschmiert wurde. Der russische Außenminister Lavrov soll laut dem tschechischen Magazin Respekt gedroht haben: "Das Vorgehen dieses Prager Amts kann man schwerlich als etwas anderes als zynisch und empörend bezeichnen. Wir hoffen, dass sich die tschechische Seite des Risikos einer weiteren Verschärfung dieser Situation bewusst ist" Mit Drohungen aus dem Kreml begann auch das Ende des Prager Frühlings. Kolar wird seit Monaten bedroht, als "Nazi-Gauleiter“ beschimpft und mußte untertauchen. Selbst seine Familie kennt nicht seinen Aufenthaltsort. Auch der Prager Bürgermeister Zdeněk Hřib mußte aufgrund von Drohungen unter permanentem Polizeischutz gestellt werden.

Der von Russland als Befreier von Prag gefeierte Ivan Konev zog am 9. Mai 1945 in die Stadt ein. Die Prager Bürger hatten sich selbst befreit. Hilfe gegen die schwere Artillerie der deutschen Armee erhielten sie unverhofft durch die auf deutscher Seite kämpfende Armee des Kollaborateurs Andrej Vlassov, die in Prag die Seiten gewechselt hatten und die Prager unterstützten.

Als Konev mit seiner Armee Prag erreichte, war die Wehrmacht seit einem Tag abgezogen und der Krieg war beendet. Es reichte aber, mit Hilfe der Bajonette die Geschichte zu verfälschen und die Selbstbefreiung der Prager zu verschweigen. Danach war Konev an der Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes beteiligt und man wirft ihm ebenfalls vor, bei der Unterdrückung des Prager Frühlings am 21. August 1968 planerisch beteiligt gewesen zu sein. Die Tschechen kennen ihre Geschichte. Massiver Druck des Kreml weckt alte Erinnerungen und hilft nicht, einen Weg der Versöhnung zu beschreiten.

4.2. Vulgarisierung und Instrumentalisierung des Sieges

In der Novaya Gazeta war in einem Artikel Waschmaschine über dem Reichstag vor einigen Tagen von einer Vulgarisierung des Sieges und des Großen Vaterländischen Krieges die Rede. Als Beispiel dafür brachte der Autor Vladimir Brain einige Plakat der russischen Fans nach einer haushohen Niederlage im Eishockey-WM-Finale 2015 gegen Kanada. "Wir können es wiederholen!" - damit war der 2. Weltkrieg gemeint. 2017 spazierten viele Fans der Sbornaja in Köln mit dem T-Shirt "Nach Berlin" herum. Der Sieg in der Verlängerung wurde frenetisch von einigen Fans als Wiederholung von 1945 gefeiert. Den Spielern selbst war es peinlich, gegen den Eishockeyzwerg mit sehr viel Glück die Verlängerung erreicht zu haben und dort den Siegtreffer zu erzielen.

"Die Anzahl der verteilten St. Georg-Bänder wirkt sich nicht
auf die Qualität des Verständnisses der Geschichte aus."
Vladimir Brain
Novaya Gazeta

Die Vulgarisierung des Sieges von einigen Fans selbst ist nicht das Problem. Sie sind Spiegelbild der russischen Politik unter Putin, die seit knapp 20 Jahren und seit 2013 immer aggressiver die innen- wie außenpolitische Deutungshoheit über den 2. Weltkrieg zu erhalten. Ob Anfang dieses Jahres in Yad Vashem oder bei anderen Gelegenheiten - Putin tritt auch im Ausland immer öfter als Chefhistoriker auf, der die Deutungshoheit einfordert. Putin hat die Konfrontation zwar nicht begonnen, seit 2013, wenn nicht schon seit 2008 sind immer mehr Versuche zu sehen, anderen Staaten den simplen Siegmythos in einem symbolischen Streit aufzuoktroyieren. Im Innern läuft es über eine Art Siegmythos, der bereits in den Grundschulen beginnt. Interessanterweise läßt der Schulplan in Russland es zu, auch differenzierte Literatur zum Thema Großer Vaterländischer Krieg zu lehren, aber Einrichtungen wie der Freizeitpark Patriot, Im Volksmund auch Disneyland für Patrioten genannt, fördert eher den plumpen Hurra-Patriotismus im Land.

"Die neue Garnisonkirche illustriert die Stützen der autoritären Identität:
Das Verlangen nach historischer Größe, die Indienstnahme der Religion,
die sakrale Natur politischer Führer, die Glorifizierung des Krieges,
die Vermengung von Historie und Gegenwart sowie die Sinnstiftung
durch erfundene Geschichte. Dabei ist eine Radikalisierung
russischer Geschichtspolitik zu beobachten."
Jan Claas Behrends
Historiker und Mitherausgeber des
Sammelbandes 100 Jahre Roter Oktober

Eine mögliche Deutung für die Instrumentalisierung des Sieges ist es, der Große Vaterländische Krieg ist seit 1945 bis heute konstant in der Bevölkerung präsent. Wenn der Präsident des Landes sich an die Spitze dieser Bewegung setzt, kann er sich der Unterstützung breiter Teile des Landes sicher sein. Da der Anteil der Russen bis heute recht hoch ist, die den Verlust der außenpolitischen Machtstellung nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bedauern, kann das Taktieren auf außenpolitischer Ebene, das russische Narrativ des Sieges über den Faschismus durchzusetzen, auf eine breite Unterstützung im eigenen Land bauen. Man hat es den anderen gezeigt. Wer widerspricht, ist eh Faschist und russophob. So die simple und schlichte Logik, die auch in Deutschland seine Wirkung nicht verfehlt.

4.3. Stalin und Putin als Symbol des Sieges

Für viele Russen verkörpert Stalin den Sieg über den Faschismus. Putin versucht seit Jahren, seine Rolle als siegreicher russischer Präsident in den Geschichtsbüchern zu finden. Brisant ist dann die Frage, ob der Stalinismus mit dem Nationalsozialismus vergleichbar ist. In einigen Punkten schon. Das Fazit des russischen Historikers Dimitri Volkogonov über den Stalinkult ist absolut identisch mit dem Führerkult um Hitler in Deutschland.

"Es entstand folgendes Klischee von Stalin. Er ist das Genie, der
Menschenführer, der alles weiß und nie Fehler macht. [...]
Stalin ist zum Gott auf Erden geworden, und diese Verwandlung
zum irdischen Gott hat alle nicht zu denkenden Wesen,
sondern zu einer grauen, amorphen Masse gemacht, in der die
Persönlichkeit sich aufgelöst hat. Wo es im Grunde genommen keine
Persönlichkeiten mehr gab. Es gab den Führer und die Menschenmassen.
Es war ein schrecklicher Zustand. Die Menschen folgten Stalin,
weil sie ihm fanatisch glaubten, nicht aus Gründen der Wahrheit
oder Vernunft, sondern wegen des blinden fanatischen Glaubens.
Ich würde sogar sagen, Stalinismus ist wie eine weltliche Religion.
Seit jener Zeit sind Jahrzehnte vergangen, doch die Wirkung
dieser Art Religion hält bis heute an."

Dimitri Volkogonov
Russischer Historiker

Die meisten historischen Vergleiche hinken, aber die Sehnsucht nach dem allwissenden Lenker eines Staates scheint in vielen Ländern zu steigen. Von der Wirkung dieser Art Religion sprach der Historiker Volkogonov. Die verheerende Dynamik einer Einpersonenherrschaft, in der zum Beispiel Stalin in einer Nacht 3000 Todesurteile unterzeichnete, während Hitler seine großen und kleinen Schlächter durch Europa schickte, ist zumindest im Moment in Europa nicht mehr denkbar. So lange in der russischen Novaya Gazeta Artikel erscheinen, die den Untertitel haben: "Am 9. Mai ehrt Europa diejenigen, die einen neuen Krieg finanziell unmöglich gemacht haben" und damit den Vorschlag des französischen Außenministers Robert Schumann am 9. Mai 1950 meinen, der "die wichtigsten Ressourcen der zu diesem Zeitpunkt gegeneinander kämpfenden europäischen Länder zusammenzuführen und gemeinsame Institutionen für deren Verwaltung zu schaffen.Dies würde den Krieg seiner Meinung nach nicht nur undenkbar, sondern auch materiell unmöglich machen.", sollte man Russland nicht nur auf Putin und seine staatliche Geschichtsnarretei reduzieren.

4.4. Überraschende Begegnungen

Was Verstehen von unterschiedlichen historischen Erfahrungen bedeutet, lernte ich in der Ukraine kennen. Zwei Veteranen unterhalten sich während der Feierlichkeiten zum 9. Mai. Einer der Veteranen trug die Uniform der Roten Armee mit einigen Orden, der andere eine Uniform der UPA. Man merkte sofort, die beiden verstanden sich prima, was meinen Erwartungen überhaupt nicht entsprach. Wer lernen und verstehen will, fragt nach, wenn er etwas nicht versteht und irritiert ist. Die beiden Veteranen haben ähnliche Kriegserinnerungen und hatten ähnliche Erlebnisse, auch wenn sie auf verschiedenen Seiten gekämpft haben. Die meisten Soldaten reden ungerne mit Zivilisten über ihre Erfahrungen, untereinander verstehen sie sich mit wenigen Worten. Ungewöhnlich ist es nicht. Veteranen verstehen sich oftmals, auch wenn sie während des Krieges auf verschiedenen Seiten gekämpft haben. Je länger der Krieg zeitlich entfernt ist, desto unwichtiger wird für die Soldaten der Grund des Krieges.

5. Resümee

Eine Erinnerung ohne Grautöne mit eindeutigen ideologischen Narrativen wird der Geschichte nicht gerecht. Die Quellen widersprechen jedem simplen Geschichtsbild. Dessen muß man sich stellen. Die Angst vor einer Relativierung deutscher Verbrechen ist unbegründet. Wer sich ernsthaft mit der Geschichte des Nationalsozialismus beschäftigt, kann weder Auschwitz noch Babyn Yar relativieren.

Als Deutscher sollte man sich glücklich schätzen, heute als Tourist in die Ukraine, nach Belarus oder nach Russland reisen zu können. Und nicht als Herrenmensch, der die geplante Breitspurbahn nach Poltava genutzt hätte, um über die geplanten Millionen verscharrten Leichen nach Theoderichhafen zu fahren. Das Reiseziel heißt bis heute Sevastopol. Und das ist gut so.

Was Russland betrifft, sollte man sich daran erinnern, dieses Land hat Dimitri Volkogonov, Andrey Makarevich, die Novaya Gazeta hervorgebracht. Wenn ich mit Russen egal welchen Alters früher über den 2. Weltkrieg sprach, kam zumindest bis 2013 nie irgendeine Anklage oder ein Vorwurf. Ganz im Gegenteil. Die meisten freuten sich über das Interesse und das Wissen eines Deutschen über die Geschichte, die allen osteuropäischen Familien große Verluste und viele Tote brachten. Der 8. oder der 9. Mai sollte ein Tag der Begegnung und des Austausches von Geschichten und Erfahrungen in einer Familie, unter Freunden oder auch unter Fremden werden. Mit dem nötigen Respekt für unterschiedliche Geschichten in unterschiedlichen Ländern.

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