Kampf gegen das Väterchen

Revolution in Belarus Lukashenko erhielt bei der Präsidentschaftswahl laut offiziellem Wahlergebnis 80,08% der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 84,17%. Es folgt ein Volksaufstand. Warum?

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Es ist nicht leicht, einen langen Artikel über ein Ereignis zu schreiben, bei dem sich stündlich die Meldungen überschlagen. Ich will es dennoch versuchen, auch wenn sich während des Schreibens bereits der Sieg des Volkes über die Staatsmacht andeutet. Daher bitte ich eventuelle logische Brüche zu entschuldigen. Den Artikel begann ich gestern, als die heute sich abzeichnende Erosion der Staatsmacht zwar zu ahnen, aber noch nicht sichtbar war. Da ich noch einem Beruf nachgehe, bitte ich vorab, eventuelle Ungenauigkeiten zu entschuldigen. Der Artikel entstand, während ich nebenbei die Ereignisse zu verfolgen versuchte.

Der Artikel ist denen gewidmet, die es mit ihrem Widerstand schaffen, die knüppelnden Sicherheitskräfte im ganzen Land zu zermürben und sich nicht brechen zu lassen.


1. Präsidentschaftswahl und Abstimmung auf der Straße
1.1. Unsichtbar Im Nebel von Europa
1.2. Großer Vaterländischer Krieg, Chernobyl und Kurapaty
2.1 Bilder eines Volksaufstandes
2.2. Was bezweckt das unkontrollierte Wüten der Sicherheitskräfte?
3. Geopolitische Einflüsse
3.1. Die Vagner-Posse
3.2. Russisch-Belarusische Union
3.3. Warnschuß auch für das System Putin
4.1 Ein autobiographischer Ausflug in die eigene Vergangenheit
4.2. Väterlicher Staat bei Immanuel Kant
4.3. Väterchen Lukashenko
4.4. Ein Virus als Nebukadnezar
4.5. Eine Hausfrau tritt an
4.6. Ukrainisches Szenario in und für Belarus?
4.7. Militärisches Eingreifen oder Volksrepubliken
5. Reaktionen in Deutschland und die Zukunft in Belarus



1. Präsidentschaftswahl und Abstimmung auf der Straße

Es sah alles nach Normalität aus. Tagelang ging das Volk bis zum 9. August zur Wahl, es wurde eine Wahlbeteiligung von 84,17% verkündet und der Amtsinhaber Alexander Lukashenko erhielt 80,08% der Stimmen. Wie immer wurde die Wahl als unfrei eingestuft und diplomatisch ging alles seinen gewohnten Gang. Putin gratulierte, Kim Jong Un und am Montag erreichten Lukashenko Glückwünsche von Xi Jinping. Europa war besorgt und überlegte, ob man vielleicht nicht doch wirkungslose Sanktionen beschließen könnte, während die OMON Munition aus Tschechien auf Menschen verschoß. Für einen Strategen wie Lukashenko kein Problem. Zwei oder drei Monate würden Sanktionen dauern, bis die EU ihn doch wieder braucht.

Dann sprach das Volk.

Die Frage, ob Lukashenko Präsident bleiben kann oder nicht, wurde weder im Kreml, noch im Weißen Haus getroffen. Weder der CIA, noch der FSB hatte die Finger drin. Der Aufstand kam zu spontan, er entwickelte sich innerhalb des Landes derartig rasant - kein Drehbuch dieser Welt hätte es besser schreiben können als die Menschen in Belarus. Denen es kaum einer zugetraut hatte.

Der berühmte Grafiker Vladimir Tsesler veröffentlichte auf seiner Facebookseite unter der Überschrift "Neustart" eine neue Grafik: Loading 97%. Die von Lukashenko eingeführte Flagge von Belarus ist kaum noch zu sehen, die traditionellen weiß-rot-weißen Farben von Belarus sind nahezu komplett hochgeladen. Tseslers am 13. August um 1 Uhr hochgeladene Grafik verdeutlicht die aktuelle Situation.



1.1. Unsichtbar Im Nebel von Europa

Belarus ist für viele Deutsche lediglich als letzte Diktatur Europas oder wird als strategisch notwendiger Vorhof Russlands definiert. Kaum einer weiß etwas von dem Land und den Menschen. Daher empfehle ich den Artikel "Im Nebel" von Ingo Petz, der am 22. Juli 2020 im Eurozine erschien und der ausführlich die Stimmung im Land Belarus beschreibt sowie die Gründe für die lange Präsidentschaft von Lukashenko erläutert.

Offensichtlich ist etwas faul in Lukashenkas „Staat für das Volk“. Nicht wie
bisher vor allem Minsk, sondern auch die Provinz, die gemeinhin als Hochburg
Lukaschenkas gilt, hat sich gegen den Landesfürsten gewendet.
Ingo Petz, Im Nebel

Ich werde angesichts der sich überschlagenden Ereignisse in Belarus darauf verzichten, den historischen Aspekt ausführlicher zu erläutern und verweise auf den verlinkten Artikel, dessen Hauptaspekte ich ohnehin nur wiederholen könnte. Daher beschränke ich mich nur auf wesentliche Aspekte, die mir wichtig erscheinen



1.2. Großer Vaterländischer Krieg, Chernobyl und Kurapaty

Drei Ereignisse des letzten Jahrhunderts prägen Belarus bis heute. Während des 2. Weltkrieges kam ein Viertel der Bevölkerung auf dem heutigen Gebiet Belarus gewaltsam ums Leben. Stellvertretend dafür steht der in der Sowjetunion mythologisierte Kampf um die Brester Festung, um die bereits 1939 gekämpft wurde. Die Erinnerung an diese Schlacht, die etwas über einen Monat andauerte, lebt bis heute und ist ein zentraler Teil der Erinnerung für weite Teile der belarusischen Gesellschaft.

Der Reaktorunfall von Chernobyl 1986 verseuchte hauptsächlich das Gebiet des heutigen Belarus. Im 10km von Homel entfernten Vetka beginnt am Ortsende die Sperrzone des verseuchten Gebietes. Der Versuch, mittels Liquidatoren die Schäden des Reaktorunfalls zu bekämpfen und der Versuch, den Unfall geheimzuhalten, zerstörte das Vertrauen vieler Menschen in Belarus in das Sowjetsystem.

1988 fanden Ausgrabungen im Wald von Kurapaty am Stadtrand von Minsk statt. Die Untersuchungskommission kam Anfang 1989 zum Schluß, auf einer Fläche von etwa 30 Hektar befänden sich 510 vermutete Grabstätten und schätzte die Zahl der Opfer auf mindestens 30000 Personen. Der belarusische Historiker Zianon Pazniak nannte in einem Interview im Sommer 1989 mit 250000 eine weitaus höhere Zahl. Nach Ausgrabungen kam die Generalstaatsanwaltschaft 1998 auf eine Zahl von etwa 7000. Diese Untersuchung fand aber schon zur Amtszeit von Lukashenko statt und dürfte politisch motiviert sein. Seit 1994 setzte Lukashenko auf sowjetische Symbole und hatte wenig Interesse an den Morden des NKWD zwischen 1937 und 1941.

1988 kam man zum Ergebnis, alle Opfer waren Zivilisten, die sich auf eine lange Reise vorbereitet hatten und ihre Häuser nicht lange vor ihrem Tod verlassen haben können. Das läßt den Rückschluß zu, die Opfer wurden ohne Gerichtsverfahren und nicht nach einer längeren Lagerhaft erschossen. Der Zeitraum von vier Jahren läßt die Deutung zu, ein Teil der Menschen fiel dem Großen Terror 1937/38 zum Opfer, der andere Teil wird nach dem Molotov-Ribbentrop-Pakt ermordet worden sein, nachdem Teile des östlichen Polens in die Belarussische SSR eingegliedert wurden. Erst 1990 erkannten die sowjetischen Behörden die Verantwortung für diese Hinrichtungen an und bis heute gibt es Stimmen, die behaupten, die Ermordeten seien Opfer der Nationalsozialisten gewesen.

Im September 2001 gab es in Minsk Proteste gegen den geplanten Ausbau der Minsker Umgehungsstraße direkt durch den Wald von Kurapaty. Viele Protestierende wurden verhaftet und verurteilt. Kurapaty paßte nicht in das Geschichtsbild des Systems Lukashenko.



2.1. Bilder eines Volksaufstandes

Nun also gehen die Belarussen wieder auf die Straße, nicht nur für die
Barbariko, Zepkalo oder Mikola Statkevitsch, die bereits vor ihrer
Registrierung inhaftiert wurden, sondern gegen das Missmanagement
im Land, gegen die fehlende Perspektive für die kommende Generation,
gegen die Aushebelung von Recht und Verfassung, gegen Repressionen
und staatliche Willkür, für faire Chancen von privaten Unternehmern,
für wirtschaftliche und politische Reformen, für das Recht auf eine faire Wahl.
Viele sagen ganz offen, dass sie Lukschenka leid sind.
Es hat sich einiges an Frust und Kritik angesammelt.
Ingo Petz, Im Nebel

Die Ereignisse in Belarus lassen einen erschauern und der Mut der Menschen nötigt Bewunderung ab. Nachdem im Land das Internet nahezu vollständig abgeschaltet werden konnte und nur auf Telegram noch Nachrichten und Bilder übermittelt werden konnten, entschloß sich die Staatsmacht am Morgen des 12. August, Teile des Internets wieder freizuschalten.

Videos und Berichte zeigen die ungeheure Brutalität, mit der hauptsächlich die Einheit OMON (Mobile Einheit besonderer Bestimmung, dem Innenministerium unterstellt) die Straßen zu beherrschen versucht. Die Meldungen des TV-Kanals Belsat sind voll von Willkür und Schikane. Wahllos wird versucht, Passanten zu verprügeln, Autos anzuhalten und auf flüchtende Fahrer zu schießen. Das Knüppeln auf Menschen, die sich nicht wehren, gehört genauso zum Repertoire wie unterlassene medizinische Hilfeleistung. Als der 25jährige Alyaksandra Vikhora nach seiner Verhaftung über Herzprobleme klagte, wurde er in die Psychatrie eingeliefert. Er starb. Viele Bilder dokumentieren die Folgen der Gewalt durch Ordnungskräfte, aus Brest wird der Einsatz von Schußwaffen gemeldet. In Hrodna wurde ein 5jähriges Mädchen verletzt, Autofahrer werden angehalten und willkürlich verprügelt. Einem Motorradfahrer wird die Pistole an den Kopf gelegt und er wird brutal zusammengeschlagen, während die Autofahrer hupend protestieren. Verletzten zu helfen birgt die Gefahr, selbst geschlagen zu werden. Demonstrationen werden gewaltsam aufgelöst, wobei Schüsse und Hupkonzerte zu hören sind. Das Filmen der Gewaltaktionen ist gefährlich. Bei einem Schuß in eine Wohnung wurde auf ein Kinderzimmer gezielt und Splitter prallten 10cm neben dem Kleinkind in das Kissen.

Das Straßenbild prägen Gefangenentransporter, laut Berichten gehen in Minsk Bereitschaftspolizisten mit Maschinengewehren in Stellung.

Keiner von uns hätte sich vorstellen können, wie sich die Bereitschaftspolizei
verhalten hat. [...] Die Häftlinge sitzen in Turnhallen ohne Essen und Wasser.
Und vor allem - die Menschen sind absolut friedlich.
Svetlana Alexievich, Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin

Die Bilder aus Belarus zeigen ebenso, die Menschen lassen sich nicht einschüchtern. Ob Kerzen aufgestellt werden (es lebe Belarus), ob Autos Hupkonzerte veranstalten, sich Menschen einfach zu einer Kette aneinanderreihen, ob in Brest ein Mann protestierenden Mädchen weiße Rosen als Zeichen der Solidarität überreicht. Eine Menschenkette zu bilden kann zur Verhaftung (in Vitebsk) führen. In fast allen Städten wie auch in Loshitsa bilden sich Menschenketten und Autofahrer hupen, um ihre Solidarität zu bekunden. In Minsk wurde auf der Pushkinskaya ein Mann erschossen. Immer wieder legen Menschen Blumen und Kränze nieder, die immer wieder geräumt werden. Es gibt Streiks in einigen Betrieben, ein Mann legte mit seinem Protest zeitweise die Metro lahm.

Mancher Protest ist rührend und wunderschön. Auf dem Siegesplatz in Minsk formierten sich barfüßige Frauen und singen ein Wiegenlied.

Die Liste der Verhafteten ist lang. Der Politologe Vital Tsyhankou und seine Frau Volha Tsyhankou wurden festgenommen und schwer geschlagen. Der Barbetreiber Lyavon Khalatryan aus Minsk, der Bandleader und Journalist Alyaksandr Dzyanisau, Der Schriftsteller Wladimir Kaminer fordert seit Tagen die Freilassung seines Freundes Vitali Shkliarov, die Linksjugend kämpft für ihren Genossen Pavel. in Belarus fordert Artur Klinau die Freilassung seiner Tochter. Ihr Vergehen: Sie war Mitglied einer Wahlkommission und hat wohl nicht die gewünschten Zahlen geliefert. Viele weitere Beispiele finden sich auf der deutschsprachigen Facebook-Seite Stimmen aus Belarus. Die bekannte Gruppe N.R.M. (Unabhängige Republik der Träume), die seit dem Amtsantritt Lukashenkos eine Stimme der Opposition ist, hat ihr bekanntestes Lied Try Charapachi am 12. August in einer aktualisierten Version ins Netz gestellt.

"Unschuldige Menschen schlagen, Unbewaffnete demütigen,
Frauen verspotten und die Sicherheit von Kindern riskieren -
ist es Liebe für die Heimat und die Menschen?
Wie schläfst du nachts? Hörst du dein wahres Gewissen?
Wenn diese blutige Grausamkeit nicht aufhört,
werden wir uns und einander für immer verlieren."
Ksenia Sitnik, Sängerin

Besonders Journalisten werden in ihrer Arbeit behindert. Manche wie Stanislav Korshunov wurden in der Zwischenzeit mit seltsamen Begründungen freigelassen, neue Verhaftete kommen hinzu, wie die ukrainischen Menschenrechtsaktivisten Kanstantsin Ravutski und Yauhen Vasilyev. Täglich versammeln sich die Angehörige von Inhaftierten vor Gefängnissen, wo die Insassen unter Schlafmangel und fehlendem Essen leiden.

Der russische Znak-Journalist Nikita Telishenko wurde am 10. August willkürlich festgenommen und berichtete von unglaublichen Zuständen. Blutende und verletzte Häftlinge mußten sich zum Teil in einer zweiten Schicht übereinander legen. Es mehren sich die Aussagen von Freigelassenen, die von Folter und von Mißhandlungen berichten.

Die neuen Häftlinge wurden gezwungen, sich als zweite Schicht auf die anderen zu legen.
Nach einer Weile müssen sie jedoch kapiert haben, dass das eine schlechte Idee ist,
und jemand befahl, Bänke zu bringen. Ich gehörte zu denen, die darauf sitzen durften.
Aber man durfte nur mit gesenktem Kopf sitzen, die Hände hinter dem Kopf verschränkt.
Und erst dann sah ich, wo wir waren – es war die Aula der Polizeiwache im
Moskowski Bezirk. Ich konnte einen Blick erhaschen und sah, dass an der Wand
gegenüber Fotos von Polizisten mit besonderen Verdiensten hingen.
Für mich war das böse Ironie:
Werden die Schläge von heute wohl auch als besondere Verdienste gewertet?
Nikita Telishenko, Rundherum lagen Menschen in Blutlachen



2.2. Was bezweckt das unkontrollierte Wüten der Sicherheitskräfte?

Die Bilder, Videos und Berichte zeigen ein Land, in dem der Präsident 80,08% der Stimmen erhalten haben will. Bei einer Wahlbeteiligung von 84,17%. Es sei zur Erinnerung noch einmal erwähnt.

Über die Motive des Krieges gegen die eigene Bevölkerung läßt sich nur spekulieren. Die Willkür soll die Menschen einschüchtern, was bis zum jetzigen Zeitpunkt kaum gelingt. Es gibt einen flächendeckenden Aufstand, den es in dieser Form selbst 2014 in der Ukraine nicht gab. Immer neue Formen des friedlichen Protestes werden in kürzester Zeit entwickelt.

Denkbar ist es, die Staatsmacht will mit erzwungenen Statements Rädelsführer zu präsentieren. Seit Jahren wird in Belarus versucht, Demonstranten als Rechtsextreme und Faschisten zu verunglimpfen. Eine Taktik, die seitens Russland gegenüber der Ukraine gut zu funktionieren scheint und vom belarusischen KGB immer wieder angewendet wird. Diese Waffe scheint angesichts des Aufstandes stumpf geworden zu sein.

Dennoch finden sich noch immer genügend OMON-Kräfte, die wahllos auf die eigene Bevölkerung schlagen und die ohnehin überfüllten Gefängnisse im Land weiter füllt, während jung und alt "Schande" ruft. Wie man ein Land mit nackter Gewalt und Repressalien sowie Propaganda regiert, zeigt Nordkorea. Ein Land, zu dem Lukashenko gute Beziehungen pflegt und in dem ein solcher Volksaufstand wie in Belarus ausgeschlossen ist.

Gelingt es Lukashenko, wenigstens die Sicherheitsorgane zusammenzuhalten? Auch da lohnt sich ein Vergleich mit dem Maidan in der Ukraine 2013/14. Dort hatten die Einheiten sofort Teile des Landes nicht mehr unter Kontrolle. Städte wie Lviv oder Rivne wurden faktisch aufgegeben und der Machtkampf konzentrierte sich auf Kyiv. Auch in vielen Städten im Osten oder im Süden des Landes wurden von Demonstranten öffentliche Gebäude besetzt.

Das ist in Belarus anders. Der Protest äußert sich jederzeit in allen Regionen des Landes, aber die Sicherheitsorgane funktionieren ebenso in allen Landesteilen. Während sich in der Ukraine der Protest größtenteils friedlich organisieren konnte, schlägt in Belarus die Staatsmacht überall zu. Es gibt Berichte, wo OMON-Soldaten in einem Krankenwagen zu verletzten Demonstranten fuhren und diese schlugen und verhafteten.



3. Geopolitische Einflüsse

Dem Maidan wurde unterstellt, sie sei ohne Einflüsse von außen nicht möglich gewesen. Es werden ausländische Einflüsse unterstellt. Gibt es diese Einflüsse auch in Belarus und wo werden sie sichtbar?

Wenn man sieht, wie die Opposition gegen Lukashenko aufgestellt ist und wie sie sich präsentiert, bleibt am Ende keinerlei Einfluß von außen übrig, der erklären könnte, warum nach der Wahl in so vielen Städten gleichzeitig der Protest sichtbar wird. In der Opposition finden sich prorussische Bürger gemeinsam mit belarusischen Nationalisten und vielen anderen Strömungen. Die populärste Gegenkandidatin Svetlana Tikhanovskaya trat daher auch lediglich mit der Forderung nach fairen und freien Wahlen an, an der auch die inhaftierten Politiker teilnehmen können, denen die Kandidatur verwehrt wurde. Ihrem Ehemann Sergey Tikhsnovski zum Beispiel, der bis heute im Gefängnis einsitzt



3.1. Die Vagner-Posse

Am 29. Juli begann eine bühnenreife Posse, die sich kein Satiriker besser ausdenken kann. Der belarussische Geheimdienst KGB verhaftete in einem Sanatorium in der Nähe von Minsk 32 Söldner der russischen Militärfirma Gruppe Vagner fest. Das russische Magazin Novaya Gazeta veröffentlichte einige Namen, die die Brisanz der Verhaftung verdeutlichen. Einige der Söldner waren Teilnehmer am Krieg im Donbas gegen die Ukraine.

Der Vorwurf gegen die insgesamt 33 Verhafteten lautete: Vorbereitung eines Umsturzes in Belarus nach dem Vorbild des Maidans. Die Verteidigung einiger Verhafteten: Man sei auf der Durchreise nach Istanbul, um dort die Hagia Sophia zu besichtigen. Es erinnerte an die legendäre Posse der zwei Beschuldigten des Anschlages gegen Skripal, man habe lediglich die Kathedrale von Salisbury besuchen wollen. Die Geschichten des Baron Münchhausen klangen plausibler.

Glaubwürdig klang lediglich die Begründung, weshalb der belarusische KGB auf die Vagner-Söldner aufmerksam wurde. Das Sanitätspersonal wunderte sich, warum eine Gruppe russischer Männer kein Alkohol trinkt und meldete diesen Verdacht.

Es ist bekannt, die Söldner von Vagner flogen oft über Minsk zu ihren Einsatzorten. Ebenso ist bekannt, Lukashenko spielte im eigenen Land immer mal wieder die Karte des Bewahrers der Unabhängigkeit von Belarus auch gegenüber der Russischen Föderation. Der Termin kurz vor der Wahl deutet darauf hin, Lukashenko wollte das Spiel der ausländischen Einmischung spielen. Auch beim Maidan 2014 zeigte sich, eine Bewegung aus dem Volk kann man diskreditieren, wenn man die Bedrohung oder den Einfluß ausländischer Mächte aufzuzeigen versucht. Welches Interesse könte die Russische Föderation an einen Umsturz in Belarus haben?



3.2. Russisch-Belarusische Union

Jelzin und Lukashenko schlossen einen Vertrag über die Russisch-Belarusische Union, der Ausdruck der Hinwendung Lukashenkos in Richtung Russland war. Über den embryonalen Zustand kam diese geplante Union aber nie hinaus. Zunächst forcierte Lukashenko diesen Plan, später fürchtete er die Abhängigkeit. Es "besteht eine wirtschaftliche und finanzielle Abhängigkeit", die Lukashenko und weite Teile des belarusischen Volkes gemeinsam fürchteten.



3.3. Warnschuß auch für das System Putin?

Die Nachrichten, Bilder und Videos aus Belarus können Putin nicht gefallen. Die Reaktionen aus dem Kreml fallen daher sehr verhalten und zurückhaltend aus. Zwar gratulierte Putin sofort zum Wahlsieg, mehr als eine übliche diplomatische Floskel war dies aber nicht.
Sie achten immer auf den geistigen und moralischen Zustand der Menschen.
Patriarch Kyrill gratuliert Lukashenko zum Wahlsieg
Gefälschte Wahlergebnisse, willkürliche Verhaftungen, ein massives Aufgebot an Sicherheitskräften und ein ganzes Land steht auf. Dieses Szenario wollte Putin nach dem Maidan mit der Schaffung einer über 200000 Mann starken Nationalgarde verhindern.
Putin und Lukashenko müssen seit 20 Jahren miteinander auskommen. Ein gutes Verhältnis haben beide in dieser Zeit nie entwickelt. Es gab zwar gemeinsame Interessen, aber noch mehr Profilisierungsversuche. Lukashenko brachte noch unter Jelzin sein Land auf einen engen Kooperationskurs mit Russland, der ab Ende der 1990er Jahre zu einem langen wirtschaftlichen Aufschwung in Belarus führte. Eine der Grundlagen dafür waren billige Rohstoffe. Die Zusammenarbeit mit Putin gestaltete sich auch deshalb schwierig, weil Lukashenko erkannte, Putin hatte für Belarus nur die Rolle des Juniorpartners vorgesehen. Auf die Rolle eines Provinzfürsten reduziert zu werden und Belarus in eine Union mit Russland zu führen, in der die Regeln im Kreml geschrieben werden, war nie im Sinne Lukashenkos. In diesem Punkt fand er eine breite Unterstützung in der Bevölkerung. Über nahezu alle Lager hinweg.



4.1 Ein autobiographischer Ausflug in die eigene Vergangenheit
Seit Tagen will mir eine Geschichte aus meiner Vergangenheit nicht aus dem Kopf. Sie paßt so gut zum System Lukashenko, weshalb ich mich entschlossen habe, sie zu erzählen. Vielleicht als ein Beispiel über Willkür und väterliches Denken. Die Parallelen zu den Ereignissen in Belarus sind frappierend, auch wenn die Folgen für die Beteiligten eher harmlos gewesen sind.
In meiner Schulzeit war ich in einer Klasse mit vielen Rabauken. Kaum ein Lehrer schaffte es, Ordnung hereinzubringen. Ein geordneter Unterricht war nur selten möglich. Die Schulleitung entschloß sich, ihre "Geheimwaffe" einzusetzen. Einen 60jährigen Pater mit einem väterlich-autoritärem Auftreten, der bislang noch in jeder Schulklasse für Disziplin sorgen konnte. Der wurde also unser Latein- und unser Klassenlehrer.
Die erste Ansprache war typisch. Er bot uns an, wenn wir uns ändern würden, wäre ein angenehmes Miteinander möglich. Das klappte zunächst prima. Wir parierten, der Unterricht verlief im Rahmen dessen, was Latein bei Schülern für eine Begeisterung wecken konnte, ganz passabel. Als Klassenlehrer würdigte er unser Verhalten mit väterlicher Liebe.
Wie das mit Heranwachsenden in einer 9. Klasse nun einmal so ist, kommt das Bedürfnis von Heranwachsenden hinzu, Grenzen ausloten zu wollen oder auch mal harmlose Streiche zu spielen. Da nicht immer die Schuldigen ermittelt werden konnten, gab es Kollektivstrafen. Innerhalb kurzer Zeit eskalierte die Lage und jede Schulstunde begann mit 1-2 Vokabeltests oder Grammatikprüfungen als eine der Strafen. Mit dem Effekt, die Leistungen vieler Schüler verschlechterten sich rapide und die Unzufriedenheit wuchs. Das väterliche Verhältnis blieb und wir lernten die Willkür durch Sanktionen kennen, die aber immer mehr verpufften. Gab es in der Rabaukenzeit viele, die nicht oder nur selten mitmachten, führte es jetzt zur Solidarität aller Schüler. Der brave Musterschüler wandelte sich zu einem der Hauptsprecher des Widerstandes gegen die Willkür des Paters.
Die Situation eskalierte völlig, als das Gerücht aufkam, der Pater, der 1947 in den Orden eintrat, sei im Baltikum während der Nazizeit an Verbrechen beteiligt gewesen. Eine Karikatur des Lehrers führte zum Schulverweis von drei Schülern und einem Lehrer, der sich mit uns solidarisierte. Der Autoritätsverlust des Pater war derartig vollständig und unaufhaltsam, weil er es gewohnt war, kritiklos und willkürlich über Recht und Unrecht urteilen zu können. Den Autoritätsverlust begegnete er mit immer mehr Härte. Das Ende der Geschichte lautete: Der Lehrer ging vorzeitig in Pension, einige Schüler hatten zu diesem Zeitpunkt schon die Schule verlassen müssen, der Rest der Schüler konnte befreit aufatmen und wußte, sie haben Willkür die Stirn bieten können.



4.2. Väterlicher Staat bei Immanuel Kant
Als ich später auf die Definition des väterlichen Staates bei Immanuel Kant stieß, wußte ich sofort, was er meinte.
Eine Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters
gegen seine Kinder errichtet wäre, d.i. eine väterliche Regierung (imperium paternale),
wo also die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können,
was ihnen wahrhaftig nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten
genötigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urteile des
Staatsoberhaupts, und, daß dieser es auch wolle,
bloß von seiner Gütigkeit zu erwarten: ist der größte denkbare Despotismus.
Immanuel Kant
Vom Verhältnis der Theorie zur Praxis im Staatsrecht (Gegen Hobbes)
Kant setzt dem einen vaterländischen Staat entgegen. Der Souverän und der Citoyen (Staatsbürger) haben gegenseitige Rechte und Rechtsverpflichtungen. Die vaterländische Regierung beschränkt sich auf die Schaffung und Wahrung des rechtlichen Raumes, denn in Staaten ist nach Kannt die Freiheit nur als rechtliche Freiheit möglich. Wie der Citoyensein persönliches Glück sucht und findet, darin hat sich der Souverän nicht einzumischen. Er hat nur den Rahmen dafür zu schaffen, damit er dies auch kann.
Den Neoliberalen sei entgegengehalten, eine möglichst große Freiheit des Bürgers ist nicht das Ziel eines vaterländischen Staates. Ohne Eingriffe und Korrekturen des Staates entstehen schnell oligarchische Strukturen, wie man in Russland, in der Ukraine und in weitaus geringerem Maße auch in Belarus Anfang der 90er Jahre beobachten konnte. Schaffung und Wahrung des rechtlichen Raumes bedeutet nämlich auch, dem Reichen dank seiner Finanzstärke keine größere Macht bei Rechtsstreitigkeiten einzuräumen als einem Armen, der vor Gericht sein Recht sucht. Auf dieser Idee fußte lange Zeit die Sozialdemokratie.



4.3. Väterchen Lukashenko
Wenn man weiß, Lukashenko ließ sich gerne volkstümlich mit "Batska" (belarusisch zärtlich für Väterchen) anreden, dann ahnt man den Grund für meine Exkursion. Wenn man noch bedenkt, 1994 schloss Lukashenko de facto eine Art stillen Gesellschaftsvertrag mit seinem Volk, der ihn quasi in eine väterliche und mächtige Rolle des Staatsoberhauptes versetzt, ahnt man den Inhalt dieses Gesellschaftsvertrages. Lukashenko sorgt für einen bescheidenen Wohlstand der Bürger und holte (im Gegensatz zu Jelzin und Putin) auch vertraute alte Symbole aus der Sowjetzeit wieder hervor. Fast 80% der Betriebe wurden vom Staat geleitet, der auch die Posten verteilte. Es wurde eine Elitenschicht gebildet, die man Siloviki nennt. Staatstragende Funktionäre in der Wirtschaft, aber auch in der inneren Sicherheit und im Umfeld des Präsidenten.
Wahlen konnte er gewinnen. Er dürfte zwar nie die verkündeten Ergebnisse erreicht haben, vermutlich hat bis zur letzten Wahl aber immer eine Mehrheit für ihn gestimmt. Vor allen in den ersten 15 Jahren seiner Präsidentschaft hatte Belarus beeindruckende Wachstumszahlen erreicht, die viele Bürger zu einem bescheidenen Wohlstand verhalf. Die Sowjetnostalgie wurde mit der Zeit weniger gepflegt, da die heranwachsende Jugend nichts mehr damit anzufangen wußte. Für das eigene Volk und das Ausland schien Lukashenko der ewige Führer des Landes zu sein.
Während er außenpolitisch auch im vergangenen Jahrzehnt immer wieder punkten konnte und seine Unberechenbarkeit ihm den Ruf eines Fuchses einbrachte, erodierte langsam im Inneren seine Machtbasis. Einige Vertraute fielen von ihm ab, als er 2013 angesichts der steigenden Inflationsrate und der Flucht vieler Belarusen in andere Währungen vom "Völkchen" sprach, welches die Wechselstuben stürmte, waren es erste Anzeichen für die Bevölkerung der Respektlosigkeit des Präsidenten gegenüber seinem Volk. Siloviki rücken ebenfalls langsam und unmerklich ab, wenn sie das Vertrauen verlieren, ihr Präsident könne weiter ihre Privilegien sichern. Der Maidan in der Ukraine oder die Furcht vor dem Verlust der Unabhängigkeit vermochte oppositionelle Bewegungen die Kraft zu nehmen. Nichts erleichtert das Regieren mehr als eine vermeintliche oder tatsächliche Bedrohung. Aussichtsreiche Gegenkandidaten waren nicht in Sicht.



4.4. Ein Virus als Nebukadnezar
Mag es Hybris sein, mag es Dummheit sein. Das weltweit kursierende Covid-19-Virus verleitete Lukashenko zu diversen Ungeschicklichkeiten. Er empfahl Vodka und Eishockey als Gegenmittel, bezeichnete sogar Erkrankte als Verräter und es bestiegen zum Schutz des Landes Anfang April einige Popen mit Ikonen ein Flugzeug, um das Land vor dem Virus zu schützen. Ein Flugzeug mit dem Namen "Pilatus" zu besteigen, amüsierte jedenfalls die Bevölkerung. Mitte März fand in einem Ort eine Fürbitte statt. Gläubige und Popen küßten eine Ikone und baten um Schutz. Einer hatte wohl die Krankheit Covid-19... Derweil veröffentlichten viele Belarusen ironische Nachrufe im Internet, in dem sie ihre unpatriotische Erkrankung bedauerten und im Stil stalinistischer Prozesse um Vergebung baten. Aber reichte das für den Sturz des Präsidenten? Kaum



4.5. Eine Hausfrau tritt anf
Svjatlana Zichanouskaja entschloß sich, bei den Präsidentschaftswahlen zu kandidieren, nachdem ihr Mann Sjarhej Zichanouski, ein bekannter Videoblogger, der über Korruption und die Diktatur sprach, aufgrund seiner Verhaftung nicht zur Präsidentschaftswahl zugelassen wurde. Ihre Kandidatur wurde von zwei weiteren Frauen unterstützt. Veranika Zapkala, der Ehefrau von Valeryj Zapkala und von Maria Kalesnikava, einem Mitglied des Wahlkampfteams von Viktor Babaryka. Beide Männer waren ebenfalls als Kandidaten abgelehnt worden. Haftgründe finden sich immer in rechtsfreien Ländern. Es war offensichtlich - Lukashenko witterte von Frauen keinerlei Gefahr. Es kam anders. Zichanouskaja forderte lediglich die Freilassung politischer Gefangener sowie freie und faire Wahlen. Sie betonte immer wieder, selbst kein Amt anstreben zu wollen und betonte immer wieder, sie wolle wieder in die Rolle als Hausfrau zurückkehren.
Eine Frau ohne Karrieregedanken, die frei von Korruption und Machtstreben ist und dieses glaubwürdig verkörpert - größer konnte die Gefahr nicht sein. Noch vor dem Wahltermin schaffte sie aufgrund von Morddrohungen die Kinder aus dem Land und ging nach der Wahl unter ungeklärten Umständen ins Ausland nach Litauen. Gesichert ist, sie hat vor ihrer Flucht drei Stunden mit hohen Sicherheitsbeamten in einem Raum gesessen. Danach wurde ein Statement von ihr veröffentlicht, welches überdeutlich zeigt, unter welchem Druck sie gestanden hat. Trotz ihrer Bitte, nicht auf die Straße zu gehen, taten ihr die Bürger diesen Gefallen nicht.



4.6. Ukrainisches Szenario in und für Belarus?
Noch ist nicht klar, ob die Menschen den Kampf gegen den Machtapparat von Lukashenko gewinnen. Erste Anzeichen dafür sind deutlich sichtbar. In einigen Städten sehen sich die Bürgermeister unangenehmen Fragen einer zahlreich erschienenen Bürgerschaft ausgesetzt, es werden weggeworfene Polizeiausweise gefunden. Die Armee zur Beruhigung des Landes einzusetzen kann kaum eine Option sein. Wie in der Ukraine Anfang 2014 besteht die Armee aus einfachen jungen Menschen, bei denen man sich kaum sicher sein kann, ob sie die Waffen gegen das eigene Volk richten werden. Die letzte Hoffnung des Systems besteht in den Sicherheitskräften, hauptsächlich in den Organen OMON und KGB sowie einigen Spezialkräften.
Diese sind mit der Situation überfordert und es mehren sich die Berichte, wie übermüdet sie sind. Der Widerstand hört einfach nicht auf und ist nicht wie in Kyiv auf dem Maidan konzentriert, wo sich Menschenmassen versammelt haben. Im ganzen Land finden immer wieder kleine Demonstrationen und kleine Zeichen des Widerstandes statt. Auf der einen Straßenseite demonstrieren die Ärzte einer Klinik in Minsk, auf der anderen Straßenseite stehen friedlich Demonstranten in einer Reihe. Treffpunkte und Nachrichten werden über Telegram ausgetauscht und die OMON kontrolliert fleißig die Handys der Bürger, welchen Telegramkanal sie denn so abonniert haben. Während sich einige Straßenecken weiter andere versammeln, da die Warnung längst die Runde machte, wo kontrolliert wird und welche Straße abgesperrt ist. Das macht den Widerstand für die Staatsmacht kaum greifbar und es erklärt auch die Gewaltorgie, die den Gegnern des Regimes immer mehr Unterstützer bringt. Die moderne Form der Stadtguerilla in einem Regime, welches tatsächlich seine Bürger unterdrückt.
Das war in der Ukraine vor sechseinhalb Jahren anders. Ebensowenig kannte man einen väterlich regierten Staat. Janukovych war offensichtlich geldgierig und korrupt. Eine merkwürdige Ironie der Geschichte - Lukashenko war bis vor wenigen Wochen der beliebteste ausländische Politiker in der Ukraine. Fast zwei Drittel der Bürger über alle Lager hinweg mochten Lukashenko und verwiesen so Angela Merkel im Ranking auf Platz zwei. Die Zustimmung für Lukashenko hatte unterschiedliche Gründe. Nicht wenige Poroshenko-Anhänger würdigten Lukashenkos Widerstand gegen Putin. Die Zustimmung erfolgte über alle Grenzen innerhalb der Ukraine und besaß keinen signifikanten Unterschied zwischen Ost und West, der viel zu oft für die Ukraine beschworen wurde.
Eine mögliche Erklärung dafür kann darin begründet sein, man hat es satt, immer wieder neue Gesichter zu sehen, aus denen dann alte Gesichter wieder hervorwachsen. Mit einem Avakov als Innenminister, der seinen Posten auch nach einem Erdrutschsieg behalten kann und in seinem persönlichen Siloviki-System scheinbar unvereinbare Gegensätze vereinigt: Mitglieder aus Medvedchuks Partei und Mitglieder von Azov. Der Wunsch nach einem väterlichen System ist in der Ukraine erhalten geblieben - auch über alle Parteigrenzen hinweg und durchaus auch in der Poroshenko- sowie in der nationalistischen Opposition. Belarus könnte die Chance haben, diesen Kreislauf aufgrund der Erfahrungen seit 1994 zu durchbrechen. Der Wunsch nach Recht und Rechtsstaatlichkeit ohne Väterchen ist groß und das gewonnene Selbstbewußtsein, nach den mißlungenen Demonstrationen 2010 einer wildgewordenen Staatsmacht vielleicht erfolgreich die Stirn geboten zu haben, könnte ein anderes Gemeinschaftsgefühl als in der Ukraine zur Folge haben.



4.7. Militärisches Eingreifen oder Volksrepubliken
Immer wieder ist von dem Szenario der Schaffung von "Volksrepubliken" die Rede. Eine Revolution im Hinterhof Moskaus werde Putin nicht zulassen. Erste Anzeichen scheint es zu geben. Zum Beispiel die Volksrepublik Vitebsk, die auf Facebook gegründet wurde und dort ein paar Anhänger findet. Ein Propagandagag, ein paar Versprengte - es sieht im Moment nicht danach aus, für ein solches Szenario gäbe es eine ausreichende Basis. Die Faschistenkeule, die bei einer uninformierten westeuropäischen Öffentlichkeit in der Ukraine noch zog, dürfte in Belarus keine Basis haben. Die Geschichte von Belarus gibt nichts dafür her. Lukashenko nutzte diese Keule gerne mal. Das dürfte dazu führen, die Waffe ist stumpf. Vitebsk gilt zwar als sehr russlandfreundlich, aber es gab auch von dort viele Bilder des Widerstands.
Eine radikale Abkehr von Russland ist auch nicht von einer neuen Regierung zu erwarten. Nach dieser Revolution bezweifel ich sogar, ob Putin wirklich seine Pläne forciert, Belarus enger an Russland anzubinden. Personen dafür gäbe es in Belarus. Viktor Babaryka ist ein ehemaliger Leiter einer belarusischen Gazprom-Tochter. Aber wird er es wagen, ein Volk an sich zu binden, welches gerade demonstriert hat, wie man einen Präsidenten aus dem Amt jagt, der mit grober Wahlfälschung eine Wahl gewonnen und vielleicht ein Amt verloren hat? Die Farbenrevolutionen und besonders den Maidan sieht man als Gefahr an. Der Sommer von Belarus ist die Gefahr, weil er kaum zu greifen ist. Darin liegt die Chance für Belarus, einen rechtsstaatlichen Weg jenseits der Kremltürme, aber auch jenseits der EU zu suhen und zu finden.



5. Reaktionen in Deutschland und die Zukunft in Belarus
In Deutschland demonstriert man gegen Rassismus, gegen die Covid-19-Maßnahmen, gegen Imperialismus. Das Schweigen angesichts der Bilder aus Belarus war beredt. Es ist eine Talkshow. Was sagt Putin dazu? Was sagt Merkel dazu? Völlig uninteressant. Die Orgie der Gewalt der Staatsmacht hat keinen Aufschrei ergeben. Nur wenige Menschen fieberten mit den Demonstranten in Belarus mit. Wir besitzen in Deutschland die Rechtsstaatlichkeit und nutzen sie kaum. Es wäre an der Zeit, die Menschen in Belarus zu fragen, was sie in den letzten Wochen erlebt haben und was sie sich erhoffen.
Eine illusorische Hoffnung. Wir Deutschen neigen dazu, diesen Menschen, wenn wir sie denn überhaupt wahrnehmen, Ratschläge für eine bessere Welt zu geben. Je nach politischer Farbe in einem intensivem Lack eingefärbt. Ich bin gespannt, ob die Menschen in Belarus Lukashenko aus dem Amt jagen können (ich vermute ja) und wie sie danach ihr Land gestalten können (ich hoffe gut). Den ersten Schritt habe ich ihnen lange Zeit nicht zugetraut. Beim zweiten Schritt sollte man dem Land helfen, wenn es Hilfe nötig hat. Laufen werden sie dann schon selbst lernen. Aufrecht.
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