Das Gesetz des Stärkeren ersetzt das Recht auf Selbstbestimmung

Krieg gegen die Ukraine IV Analyse der Rede Putins, mit der er einen Angriffskrieg begründet und behauptet, dies sei zum Schutz des Angegriffenen.

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"Präsident Putin – stoppen Sie Ihre Truppen, die die Ukraine angreifen. Geben Sie dem Frieden eine Chance. Zu viele Menschen sind bereits gestorben."
UN-Generalsekretär António Guterres

Seit etwa 4 Uhr morgens Ortszeit herrscht Krieg in der Ukraine. Russland greift nicht nur im Donbas an. Von Vorstößen auf Kyiv, Kharkiv, Kherson und Odesa ist die Rede. Auch aus dem von Russland besetzten Transnistrien wird von offensiven militärischen Operationen berichtet. Es ist zu befürchten, in allen Städten wird es Häuserkämpfe geben.

Russland beklagt einen Völkermord. In 8 Jahren führte der Krieg zwischen der Ukraine und Russland zu schätzungsweise 15000 Toten auf beiden Seiten und unter der Zivilbevölkerung, die auch im Donbas mehrheitlich ukrainisch ist. Putins Krieg dürfte in wenigen Tagen die Anzahl von 15000 Toten überschreiten. Die in den Medien genannten Zahlen von einigen Dutzend Toten dürften deutlich überschritten werden. Es gibt Bilder und Videos von ausgebrannten Panzerkolonnen von beiden Seiten. Auch von gefangenengenommenen russischen Panzerbesatzungen. Deren Panzer wurden in den vergangenen Tagen durch ein weißes Z gekennzeichnet.

In seiner Rede forderte Putin das ukrainische Militär zur Kapitulation auf:

Ich fordere euch auf, die kriminellen Befehle nicht auszuführen, die Waffen sofort niederzulegen und nach Hause zu gehen. Alle Soldaten der ukrainischen Armee, die dieser Forderung nachkommen, dürfen das Kriegsgebiet verlassen und können ungehindert zu ihren Familien zurückkehren.
Rede Putins

Putin mißachtet das Recht jedes souveränen Staates auf Selbstverteidigung, welches in der UN-Charta verbürgt ist. Ein angegriffenes Land hat darüber hinaus das Recht, sich Bündnispartner zu suchen. Putin droht jedem Staat mit Vernichtung, welches der Ukraine aktiv hilft. Dabei macht er den Ukrainern selbst ein Angebot:

Wir haben nicht vor, die ganze Ukraine zu besetzen, aber sie zu demilitarisieren.
Rede Putins

Das konterkariert er mit der Behauptung, die Ukraine "entnazifizieren" zu wollen. Ein Vergleich zwischen der Ukraine und den Volksrepubliken, in dem man Nachteile erleidet, wenn man Ukrainisch spricht, wenn man nicht die russische Staatsangehörigkeit oder den Ausweis der Volksrepubliken annimmt, in dem seit Jahren die ukrainische Sprache an den Schulen nicht mehr gelehrt wird, beweist die Lächerlichkeit dieses Vorwurfs. In der Ukraine hört man in jeder Region auf den Straßen die russische Sprache. Die Ukraine hat einen jüdischen Präsident, deren Vorfahren im Krieg gegen Deutschland kämpften oder durch Deutsche aufgrund ihrer Religion ermordet wurde.

Wie kann ich ein Nazi sein? Erklären Sie das mal meinem Großvater, der den ganzen Krieg in der Infanterie der sowjetischen Armee mitgekämpft hat und als Oberst in einer unabhängigen Ukraine gestorben ist.
Volodymyr Zelenskyj, 24. Februar 2022, Drei Brüder seines Großvaters wurden im Holocaust ermordet.

Putin bedient ein 80 Jahre altes Vorurteil. Besonders anschaulich erklärbar durch den Protestbrief 139, den auch der vor zwei Tagen verstorbene Ivan Dsjuba unterzeichnete. 1968 unterzeichneten 139 ukrainische Künstler, Wissenschaftler und Intellektuelle eine an Breshnev, Kossygin und Podgorny gerichtete Petition, in dem ein "Ende der Verstöße der UdSSR gegen Grundsätze der sozialistischen Demokratie und Rechtsnormen" gefordert wurde. Der KGB antwortete wie Putin heute. Die Protestierenden wurden als eine vom Ausland gesteuerte faschistische Bandera-Organisation gebrandmarkt. Ähnliches passierte der Hippiebewegung Anfang der 1970er Jahre, als das Hören von Jimi Hendrix-LPs oder Tonbändern mit exakt den gleichen Vorwüfen belegt wurde. Der Hippie Alik "Woody Child" Olisevych erzählt Besuchern aus seinen reichhaltigen Erfahrungen über die Probleme, die ein Hippie in der UdSSR hatte. Seinen Auftritt bei der Musterung mit Kriegsbemalung bezahlte er mit einem Aufenthalt in der Psychiatrie und dem Makel, "wehrunwürdig" zu sein.

Sie werden natürlich auf die Krim gehen, so wie sie es im Donbass getan haben, mit Krieg, um zu töten, so wie die Strafkommandos der Banden ukrainischer Nationalisten, Hitlers Kollaborateure während des Großen Vaterländischen Krieges, wehrlose Menschen töteten. Sie erheben auch unverhohlen Anspruch auf eine ganze Reihe anderer russischer Gebiete.
Rede Putins

Wer den aus dem Kreml zu hörenden Faschismusvorwurf Glauben schenkt, der glaubt auch, westukrainische Hippies seien Faschisten und versteht die Absurdität von Brandmarkungen in Diktaturen nicht. Stanislav Aseyev gibt in seinem Buch Heller Weg: Geschichte eines Konzentrationslagers im Donbass 2017-2019 einen Eindruck davon, wenn eine Soldateska und sadistische Gefängniswärter Menschen mit dem Vorwurf des Faschisten und ausländischen Spions entmenschlichen. Dieses Schicksal droht nun der ganzen Ukraine. Und das wird unterhalb aller Brennpunkte ablaufen, wenn die Ukraine längst wieder aus den Schlagzeilen verschwunden ist und eine Marionettenregierung das Land beherrscht.

Besonders absurd wirkt es, wenn Putin seinen nationalistischen Angriffskrieg mit der UN-Charta rechtfertigt:

Die Umstände verlangen von uns, dass wir entschlossen und sofort handeln. Die Volksrepubliken des Donbass haben Russland um Hilfe gebeten. In diesem Zusammenhang habe ich gemäß Artikel 51 Absatz 7 der UN-Charta, mit Genehmigung des Föderationsrates und in Übereinstimmung mit den von der Föderationsversammlung ratifizierten Freundschafts- und Beistandsverträgen mit der Donezker Volksrepublik und der Luhansker Volksrepublik beschlossen, eine besondere Militäroperation durchzuführen.
Rede Putins

Putin reklamiert für einen Angriffskrieg das Recht auf Selbstverteidigung. Er spricht es als Angreifer den Ukrainern ab und beruft sich auf folgenden Passus:

Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. Maßnahmen, die ein Mitglied in Ausübung dieses Selbstverteidigungsrechts trifft, sind dem Sicherheitsrat sofort anzuzeigen; sie berühren in keiner Weise dessen auf dieser Charta beruhende Befugnis und Pflicht, jederzeit die Maßnahmen zu treffen, die er zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit für erforderlich hält.
Artikel 51, Charta der UN

Putin selbst hat innerhalb weniger Tage drei massive Verstöße gegen die UN-Charta begangen:

⦁ Drohung eines souveränen Staates mittels Konzentration von Streitkräften an dessen Grenzen
⦁ Führen eines Angriffskrieges gegen einen souveränen Staat
⦁ Anerkennung von abtrünnigen Gebieten, die eine unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines fremden souveränen Staates darstellen

Putin rechtfertigt seinen Eingriffskrieg mit der Drohung von Gerichtsprozessen, bei denen man genau weiß, die Gefängnisse werden sich dramatisch füllen. Viele Ukrainer, die das Land nicht mehr verlassen können, haben sich in den vergangenen Jahren in ihrem Land engagiert. Wer beim Maidan dabei war, nimmt das demokratische Recht des Protests in Anspruch.

Wir haben nicht vor, die ganze Ukraine zu besetzen, aber sie zu demilitarisieren. Das Ziel der russischen Spezialoperationen ist es, die Menschen zu schützen, die acht Jahre lang vom Kyiver Regime misshandelt und ermordet wurden. Zu diesem Zweck werden wir versuchen, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren und diejenigen vor Gericht zu bringen, die zahlreiche blutige Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung, einschließlich russischer Bürger, begangen haben.
Rede Putins

Nur zum Vergleich. Die Ukraine soll faschistisch sein. Die Zusammensetzung in einem faschistischen Regime ändert sich üblicherweise nicht so dramatisch wie in den zwei freien Wahlen zur Verchovna Rada 2014 und 2019. Auch ist es in der Ukraine undenkbar, dort kann ein Präsident nun schon 22 Jahre lang regieren, auch wenn in Russland Medvedev den Präsidentenstuhl recht machtlos für Putin warmgehalten hat.

Bleibt zu hoffen, dieser zu erwartende militärische Sieg läutet den Niedergang kleptokratisch-autoritärer Regime in Russland und in Belarus ein. Eines ist gewiss: Die Ukrainer kann Putin vielleicht militärisch und mit Gewalt einschüchtern. Das russische Volk wird dies mit einer langen Feindschaft mit dem Nachbarn bezahlen müssen. Russland hat in den Volksrepubliken gezeigt, was es unter freien Wahlen versteht. Ein Separatist, der plakatieren darf, tritt gegen einen Separatisten an, der nicht plakatieren darf. Wer die Wahl haben möchte und am Wahllokal erscheint, erhält einen Sack mit 10kg Kartoffeln und auch schon mal einen Gutschein für das Handy.

Derweil droht die russische Telefonbehörde mit der Abschaltung der Internetverbindung für Medien, die es wagen, kritisch über den Angriffskrieg zu berichten. Eine Niederlage der Ukraine bedeutet auch für Russen eine weitere Runde Einschränkung ihrer Freiheit.

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