Zerplatzende Illusionen über Putins Russland in Deutschland

Krieg gegen die Ukraine V In fast allen Parteien und auch bei vielen Deutschen findet ein langsames Aufwachen statt. Liebgewonnene Positionen werden überdacht.

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Dieser Artikel beginnt mit einer persönlichen Anmerkung. Wer wie ich seit Jahren auf die Gefahren der Politik Putins verwiesen hat, könnte jetzt behaupten: Ich habe es euch schon immer gesagt. Das könnte ich tun, müßte aber verschweigen, bis 2014 sehr ähnlich gegenüber Ukrainern argumentiert zu haben, denen ich seit 2014 zustimmen mußte. Man sollte seine liebgewonnenen Positionen immer wieder überprüfen.

Beginnen soll der Artikel aber mit den Ukrainern. Der Krieg nimmt Dimensionen an, die an die Niederschlagung des Aufstandes der Ungarn 1956 erinnert. Mit einem Zusatz: Die Unterstützung für die Armee ist mittlerweile überwältigend. Jede Organisation und viele Einzelpersonen versuchen mit Geld, mit Sachspenden oder auf jede nur erdenkliche Art und Weise, ihre Armee zu unterstützen. Putins Aufruf an die ukrainische Armee, Zelenskyj zu stürzen, wirkt völlig deplaziert und zeigt, wie wenig der russische Präsident die ukrainische Bevölkerung begreift. Ob diese eine russische oder eine ukrainische Abstammung haben, ist dabei völlig unerheblich. Männer bringen ihre Familien nach Polen, um dann zurückzukehren und für ihr Land zu kämpfen. Polen richtet sich auf 2 Millionen Flüchtlinge ein.

1. Aus den sozialen Medien

In den sozialen Medien Twitter und Telegram kursieren Berichte, Photos und Videos, von denen einige bekannt geworden sind. Ein paar dieser ukrainischen Videos stelle ich vor, ohne Angaben über die Authentizität machen zu können.

⦁ Ein von den russischen Truppen eroberten Flughafen in Hostomel konnte von ukrainischen Soldaten zurückerobert werden. In Erinnerung an die Kämpfer am Donezker Flughafen, die aufgrund der an Stalingrad erinnernden monatelangen Gefechte den Titel Cyborgs erhielten, werden diese Soldaten als Hostomel-Cyborg bezeichnet.

⦁ Auf der kleinen Insel Ostriv Smijinyj (Schlangeninsel) bot ein feindliches russisches Schiff 13 Grenzsoldaten auf der Insel die Kapitulation an. Als Antwort erhielten die Russen saftige Mutterflüche in russischer Sprache. Danach begann ein Raketen- und Artillerieangriff. Den dreizehn ukrainischen Grenzschutzbeamten dürfte klar gewesen sein, mit der Antwort haben sie ihr Todesurteil unterschrieben. Dennoch kam für sie eine Aufgabe nicht in Frage.

⦁ Von russischen Truppen erstellte Straßenmarkierungen, von denen keiner genau weiß, welchen Zweck sie erfüllen sollen, werden von Ukrainern wieder entfernt. Sie wurden von hinter der Frontlinie agierenden russischen Saboteuren angebracht. Vermutlich als Code oder Zeichen für russische Truppen.

Ein russischer Panzer überfuhr in Kyiv im Stadtteil Obolon einen privaten PKW. Wie durch ein Wunder konnte der Fahrer des PKWs lebend geborgen werden. Das Video ist authentisch.

Auf dem Weg nach Kherson zeigt ein russischer Panzer Flagge. Mit der Flagge der UdSSR. Das dürfte bei den Ukrainern Erinnerungen an die Zeit wecken, als viele Ukrainer in die Gulags verschleppt wurden.

Ein Beispiel für Kriegsflüchtlinge aus Mariupol vom 24. Februar zeigt, welches Leid der Angriffskrieg Russlands der Zivilbevölkerung zufügt.

Eine etwas pathetisch klingende Unterhaltung (Video) zwischen einer Ukrainerin und einem russischen Okkupanten in Henychesk (Oblast Kherson) sollte man den deutschen Politikern für ihre gescheiterte Politik täglich unter die Nase reiben:

Frau: Nehmt diese Sonnenblumen-Samen und legt sie euch in die Taschen. Sollen wenigstens Sonnenblumen keimen, wenn ihr hier gefallen seid.
Soldat: Ok, dieses Gespräch führt jetzt zur nichts. Lassen Sie uns die Situation nicht schlimmer machen, als es ist. Bitte.
Frau: Welche Situation nicht schlimmer machen?
Soldat: Bitte. Lassen Sie uns die Situation nicht schlimmer machen. Unser Gespräch führt zu nichts.
Frau: Jungs, legt euch die Samen in die Taschen.
Soldat: Das wird jetzt nichts lösen.
Frau: Ich habe euch verstanden. Legt euch die Bluemnsamen in die Taschen. Mit diesen Samen werdet ihr fallen.
Soldat: Ok, ich habe Sie gehört.
Frau: Ihr seid in mein Land gekommen. Versteht ihr das? Ihr seid Okkupanten!
Soldat: Ok.
Frau: Ihr seid Feinde! Und von dieser Sekunde an seid ihr verdammt!
Soldat: Ja.
Frau: Das schwöre ich euch.
Soldat: Ja. Und jetzt hören Sie mir mal zu.
Frau: Ich habe euch gehört.
Soldat: Lassen Sie uns die Situation nicht schlimmer machen.
Frau: Wie denn noch schlimmer machen?! Ihr seid gekommen, uneingeladene Wi**ser. Ar***löcher!
(Die Sonnenblume ist das Symbol von der Ukraine)

Dieses Gespräch zeigt aber auch die Hilflosigkeit der russischen Soldaten, denen gesagt worden ist, sie würden als Befreier der Unterdrückten in der Ukraine begrüßt werden und feststellen müssen, die Realität sieht anders aus als in den Reden Putins aus dem goldenen Kreml.

2.1. Sahra Wagenknecht

Laut Presseberichten hat selbst Sahra Wagenknecht erkannt, die Politik Putins falsch eingeschätzt zu haben. Allerdings scheinen bei ihr weiterhin alte Reflexe noch zu funktionieren.

Die Logik der Abschreckung durch Aufrüstung ist komplett gescheitert und daraus gilt es, Konsequenzen zu ziehen. Sanktionen lösen kein Problem, sondern schaden nur den Menschen in Russland, aber auch in Deutschland und Europa, die diesen Krieg nicht zu verantworten haben.
Sahra Wagenknecht, 25. Februar 2022

Den Krieg hat Russland begonnen. Russland hat seit Jahren seinen Etat für das Militär und für die innere Sicherheit in die Höhe geschraubt. Genau taxierbar ist es nicht, aber er beträgt mindestens 10%, wenn nicht weit mehr. Man könnte einwenden, die aus 340000 Personen bestehende Nationalgarde, die allein dem Präsidenten Putin untersteht und neben den klassischen russischen (bzw. sowjetischen) Machtfaktoren FSB, dem Innenministerium und der Armee ein neuer Player im ewigen russischen Machtspiel darstellt, sei nur ein Instrument für die innere Sicherheit Russlands. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass jene Nationalgarde in der besetzten Ukraine eingesetzt wird, um mögliche Aufstände nach der Okkupation zu unterdrücken. Sie ist daher Teil der Rüstung, denn die Nationalgarde verfügt sogar über Raketenwerfer in ihrem Arsenal.

Um diesen Krieg zu verhindern, hätte es nur zwei Möglichkeiten gegeben: Die russische Bevölkerung stürzt ihren Präsidenten oder die NATO wäre der dringenden Bitte nachgekommen, dem Aufnahmebegehren der Ukraine nachzukommen. Bis 2014 wollten dies nur etwa 12% der Ukrainer, im Dezember 2021 waren es um die 60%. Die Ukrainer machten sich viel früher keine Illusionen über die Politik im Kreml als die Westeuropäer. Sie kannten diese aus einer langen gemeinsamen Vergangenheit, die der ukrainischen Bevölkerung viel Elend brachte und aktuell auch wieder bringt.

Wagenknecht verweist erneut darauf, Sanktionen würden nur die Bevölkerung treffen. Sie übersieht dabei zwei Dinge: Erstens haben die Menschen in Belarus die Sanktionen gegen ihren nicht gewählten Präsidenten Lukashenka mehrheitlich befürwortet, was mit absoluter Sicherheit auch die Ukrainer tun werden, wenn eine Marionettenregierung von Kremlgnaden installiert wird. Zweitens übersieht sie, die Sanktionen der EU und der USA betreffen selten die Bevölkerung, die von Russland ausgesprochenen Gegensanktionen aber sehr wohl. Eines dieser Beispiele war die Gegensanktion Russlands bezüglich Lebensmittelexporte aus der EU und aus der Ukraine, die zeitweise auch die Türkei betrafen. Die russische Bevölkerung nennt diese Gegensanktionen sarkastisch "Bomben auf Voronesh". Das klassische Mittel, um der eigenen Bevölkerung vorzugaukeln, die EU würde Sanktionen aussprechen, die hauptsächlich die Bevölkerung betreffen.

Sahra Wagenknecht hat einen Irrtum zugestanden, aber den Grund für ihren Irrtum überhaupt nicht verstanden.

2.2 Gregor Gysi

Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist Russland zweifellos zum völkerrechtswidrigen Aggressor geworden. Putin hat damit einen völkerrechtswidrigen Krieg begonnen. Es ist ein schwarzer Tag für die Welt und Europa. Es wird Tote und Leid geben, was durch nichts zu rechtfertigen ist. Putin muss die Aggression sofort stoppen und seine Truppen zurückziehen. Obwohl Putin in der gesamten Ukraine Luftangriffe durchführt und obwohl es schlimm genug wäre, kann ich nur hoffen, dass er nicht die Absicht hat, die gesamte Ukraine zu besetzen, sondern sich auf die beiden sogenannten "Volksrepubliken" konzentriert. Besetzte er in katastrophaler Weise die gesamte Ukraine, wird er einen unüberwindlichen Widerstand der ukrainischen Bevölkerung erleben.
Gregor Gysi, 24. Februar 2022

Bei Gregor Gysi verhält es sich ein wenig anders. Er hofft auf etwas, das sich regelmäßig als Illusion erweist. Immerhin erkennt er Dinge und benennt sie klar. Jedoch ist es nicht das erste Mal, er übersieht wichtige Dinge. Wenn er in seiner Verurteilung von Putins Politik auf dessen Kriegserklärung Bezug nimmt, in der Putin versicherte, er habe nicht vor, die gesamte Ukraine zu besetzen, ignoriert er einen wichtigen Teil der Rede: Die Drohung der "Entnazifizierung", in der jeder Russe, jeder Belaruse und jeder Ukrainer sofort weiß, was damit gemeint ist. Einige Linke mögen glauben, damit ist wirklich die Bekämpfung rechten Gedankentums gemeint. Wer diese Illusion hegt, sollte von Mikola Dziadok - Die Farben einer Parallelwelt-Haft in Belarus lesen. Dort beschreibt der Anarchist Dziadok seine Erfahrungen aus fünf Jahren in belarusischen Gefängnissen. Einschränkend muß man sagen: Seit 2020 hat sich die Situation für Gefangene in Belarus deutlich verschlechtert. Dziadok wurde erneut zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Putin und Lukashenka sehen das als Kampf gegen den Faschismus. Auch Anarchisten sind in ihren Augen Faschisten.

Darüber hinaus hat Putin angekündigt, eine neue Regierung in Kyiv zu installieren. Da braucht man sich keine Illusionen zu machen. Das wird eine Marionettenregierung von Putins Gnaden sein. Die keinerlei Rückhalt in der Bevölkerung haben wird. Um eine solche Regierung zu installieren, wird er aber das gesamte Land besetzen müssen. Was von Anfang an auch der Plan gewesen sein dürfte.

Das war nicht das erste Mal, Gysis Statements offenbarten logische Mängel. Am Offensichtlichsten wurde das bei Gysis Protest gegen die gerichtlich verfügte Auflösung von Memorial.

Die oberstgerichtlich verfügte Auflösung von Memorial, der noch in der Sowjetunion gegründeten Menschenrechtsorganisation, die die Verbrechen des Stalinismus aufarbeitete und dessen Opfer würdigte, schadet Russland. Die russische Regierung sollte selbst gegen dieses Urteil vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen. Das bewies, dass sie nicht hinter dem Urteil steht. Wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte in all ihren Facetten lässt die Perspektiven eines Landes und seiner Bevölkerung wachsen. Das gilt auch für den gegenwärtigen Schutz von Menschenrechten.
Gregor Gysi, 28. Dezember 2021

Gysi gilt als intelligenter Mensch. Ein kaum nachvollziehbares Urteil, wenn man von ihm liest, er glaube, die russische Regierung hätte auch nur ein leises Interesse daran, das von ihr selbst diktierte Urteil durch den Europäischen Gerichtshof revidieren zu lassen. Auch nach intensivster Suche fand ich keinen Anflug von Ironie. Gysi meinte das ernsthaft. Hat er noch immer nicht begriffen, dass Putin und die russische Regierung die Unterdrückung von Andersdenkenden wollen und dies nicht aus Versehen machen? Proteste in Russland für den Frieden sind in Russland verboten. Wer in Moskau oder Pieter (St. Petersburg) für den Frieden demonstriert, der weiß, was ihm blüht. Genügend Sicherheitskräfte sorgen für ausreichend Verhaftungen. Die jüngeren Russen sind nicht so empfänglich für die russische Propaganda in den Medien, die ältere Generation vertraut eher der Definition von Frieden, die der Kreml vorgibt, auch wenn dies in einem Angriffskrieg gegen einen Nachbarstaat mündet.

2.3. Matthias Platzeck

Seit 2014 ist Platzeck Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums. Vielfach nahm er gewollt oder ungewollt die Rolle des "Russlandverstehers" ein. Man war sich bei ihm nie sicher, ob er überhaupt seine russischen Gesprächspartner richtig verstanden hat.

Sie stehen vor einer Wand und haben das Gefühl: Das war alles völlig sinnlos.
Matthias Platzeck, 25. Februar 2022

Platzeck hegt noch immer die Illusion, die russische Elite tritt auf Putin zu und überzeugt ihn, dass mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine sei doch alles nicht so gemeint gewesen. Auch das wird nicht passieren. Entweder traut sich die Elite nicht, oder sie hat längst nicht mehr die Macht, die man ihr unterstellt. Platzeck sollte feststellen, er hat wie so viele Deutsche Russland einfach nicht verstanden.

2.4. Wandel durch Handel

Spätestens seit dem Bundeskanzler Schröder festigte sich die Formel "Wandel durch Handel". Das ist eine Variante der 1963 von Egon Bahr in Tutzing verkündeten Formel Wandel durch Annäherung war. Bis heute hält sich der Irrglaube, dies sei eine Alternative zur Politik von den USA gewesen. Eine Art zweiter Weg. Es war jedoch das Scheitern der deutschen "Hallstein-Doktrin" in der Adenauer-Ära, die sich während des Baus der Mauer am 13. August 1961 als völlig untaugliche Doktrin erwies. Die Ausgrenzung der DDR wurde von der DDR selbst mit der Mauer und den Selbstschußanlagen an den Grenzen zur Bundesrepublik Deutschland und Berlins beantwortet. Wenn man so will, war es eine Vollendung der Hallstein-Doktrin. Die USA und die anderen NATO-Staaten duldeten diese von Chrushchov abgesegnete Mauer, die Ulbricht immer gefordert hatte, um keinen Krieg zu riskieren. Es war zugleich ein Eingeständnis der Niederlage der DDR und der UdSSR. Die Strahlkraft ihres Systems war so gering bei der eigenen Bevölkerung - der Bau einer Mauer war deshalb für den Fortbestand des real existierenden Sozialismus zwingend notwendig. Brandt und Bahr erkannten in der Folgezeit, der USA und der NATO war es nicht möglich, den Bau der Mauer zu einem akzeptablen Preis zu verhindern, was 1963 zur Entwicklung des Konzepts "Wandel durch Annäherung" und der anschließenden Entspannungspolitik in der Ära Brandt führte, die jedoch immer auch auf der Stärke der NATO basierte und auch von Kissinger und Nixon vertreten wurde. Die Verträge mit Moskau und anderen Staaten wurden in enger Abstimmung mit den NATO-Staaten geschlossen.

Ab den 1990ern und besonders unter Gerhard Schröder entwickelte sich die Formel "Wandel durch Handel", die sowohl von der CDU, als auch von der SPD verfochten wurde. In den 1970ern entwickelte man internationale Regeln, in der Sicherheit für souveräne Staaten sowie Menschenrechte und Grundfreiheiten 1975 zu der Schlussakte von Helsinki führte.

Das ist eine erstaunliche Banalisierung eines historisch erfolgreichen Konzepts. Heutige Fans der stabreimenden Phrase ignorieren geflissentlich, dass sie in den Siebzigern, während der KSZE-Verhandlungen, mit einem klaren Bekenntnis zu Menschen- und Bürgerrechten daherkam. Man rang den Ostblock-Herrschern in der Helsinki-Schlussakte ein Ja zur „Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit“ ab. Womöglich haben diese darin zunächst bloß folgenloses Wortgeklimper gesehen.
Jörg Lau, Wandel durch Handel

Eine Illusion, denn Putin hat die deutsche Politik gewandelt. Er übernahm die seit Bismarck vorherrschende Lobbypolitik in Deutschland und bot nicht nur Schröder Geld, Glanz und ein Zipfelchen der Macht, von dem Schröder immer geträumt hat.

2.5. Deutsche Heuchelei und russische Lügen

Allerorten herrscht Entsetzen in Deutschland über die Lügen russischer Politiker und russischer Medien. Was hat man eigentlich erwartet? Jahrelang funktionierte die friedliche Koexistenz prima. In Deutschland hält man sich seit 30 Jahren für die Experten schlechthin in puncto Vergangenheitsbewältigung des Nationalsozialismus. Mit der Formel "Nie wieder" beweihräuchert man sich mittlerweile selbst und schaffte so einen deutschen Gesellschaftskonsenz. Gegen den zunächst einmal nichts einzuwenden ist. Wenn man denn noch die Bedeutung kennt und Opfer zu identifizieren vermag.

In den letzten Jahren verkommt der Stempel "Faschist" immer mehr zur vollkommenden Bedeutungslosigkeit. Darin sind sich Putin und Deutschland interessanterweise recht einig, wenn es um die kleineren Nachbarn ging, die am meisten unter der Herrschaft der deutschen Nationalisten, aber auch in manchen Ländern unter der stalinistischen Herrschaft litten. Als Lehrmeister über Faschismus dieser kleineren Staaten spielten sich auf: Deutschland und Russland. Berlin und Moskau. Jene beiden Städte, in denen die Politiker saßen, die den Molotov-Ribbentrop-Pakt unterzeichneten. In dem alle kleineren Länder aufgeteilt wurden und auf denen die meisten Schlachten des 2. Weltkriegs ausgetragen wurden.

Das Diktatoren wie Putin und Lukashenka ihre Gegner ohne Anschauung der Person und ihren Überzeugungen grundsätzlich als Faschisten bezeichnen, egal ob sie Linke, Anarchisten, Liberale, Konservative oder tatsächliche Rechtsradikale sind, haben in Deutschland relativ wenige mitbekommen. Es ging nach dem Motto "irgendwas wird wohl dran sein". Und gemäß der Taktik des verrotteten Herings rieb man seinen politischen Gegner lange genug ein und bezeichnete sie als Faschisten. Wer nichts weiß, glaubt das gerne. Viele Deutsche machten Männchen, wenn Putin die Fäden "böser Faschist" zog.

Wie nichtssagend diese Formel ist, erfuhr ich bei einer kurzen Facebook-Diskussion auf Sputnik. Ein NPD-Anhänger verteidigte dort Putins Politik und bezeichnete mich als Faschisten. Mit dem Effekt, der "Faschist" wurde gesperrt, der NPD-Anhänger erhielt die Likes und galt als Kämpfer gegen den Faschismus. Inhaltsleerer waren nicht einmal die Formeln des Antifaschismus in der Endphase der DDR. Dem im Ausland populären Bild des tumben Deutschen hat das nicht nur in Polen neue Nahrung gegeben, die mit "Berufsvertriebenen" Dr. Erika Steinbach, die sich mittlerweile in die AfD degeneriert hat, in Polen ihren Anfang nahm, als die meinte, jetzt seien die Polen arm genug und Deutschland könne sich billig die Ostgebiete zurückkaufen. Durchaus im Stil der Zeit. Die Scheckbuchdiplomatie der Deutschen mußte für vieles herhalten. Waffen an Saudi Arabien? Lange Zeit kein Problem, bis es zu offensichtlich wurde, diese Waffen wurden im Jemen massiv eingesetzt. Türkei? Auch nicht anders.

Der Antifaschismus der Deutschen ist zu einer bequemen Formel degeneriert, mit der man es sich bequem machte. Auslandseinsätze oder Waffen an die Ukraine? Wir doch nicht. Wir haben aus der Geschichte gelernt. Selbst die UN-Charta erlaubt Waffenlieferungen an bedrohte Staaten, wenn ein potentieller Angreifer Waffen und Soldaten direkt an die Grenze stellt. Auch dieser Passus ist eine Lehre aus dem 2. Weltkrieg. In der Charta ist keine Ausnahme für Deutschland zu finden, die besagt, Deutschland dürfe auch in diesem Fall keine Waffen liefern. Jetzt wird ein Volk erneut angegriffen, welches nicht nur im 2. Weltkrieg zu den Hauptleidtragenden gehört.

Auch an der Berichterstattung über den Angriffskrieg lässt sich der Eigennutz der Deutschen erkennen. Zwischen den Beiträgen über den Krieg wird ausführlich über steigende Rohstoffpreise und fallende Aktien berichtet. Viele Deutsche fürchten bei fallenden Aktien und steigender Inflation um ihr Vermögen, während über den Köpfen der Ukrainer die Raketen einschlagen. Das erinnert an 1946. Eine schwere Zeit für die frisch in der sozialistischen Hemisphäre integrierten Staaten wie Bulgarien oder die DDR. Die UdSSR half mit großzügigen Lebensmittellieferungen. Auf Kosten der Ukrainer, von denen auch 1946/47 Hunderttausende verhungerten. Nach 1921/22 und 1932/33 eine erneute Hungersnot auf Kosten der Ukrainer zum Aufbau des Sozialismus. Der Dank der sich benachteiligt fühlenden Bürger der entstehenden DDR geht an den Kreml und an Russland. Die Deutschen in der DDR hatten ein Mehrfaches an Lebensmitteln zur Verfügung als die Ukrainer, die zwar das Land in der Kornkammer Europas bestellten, aber vor Hunger starben, während das Korn in andere Regionen Europas transportiert wurden. Und heute? Unser Mitleid haben die angegriffenen Ukrainer. Aber steigende Gaspreise möge die Politik doch bitte von uns Bürgern abwenden. Genau diese Politik sorgte für eine Abhängigkeit und Erpressbarkeit, 55% des Gases importiert Deutschland auch ohne North Stream 2 aus Russland (die USA fallen unter 1,5% Sonstige Länder). Russland kontrolliertden Gasverkauf, die Gasleitungen und die Gasspeicherung durch ein Netz von undurchsichtigen Tochterfirmen in Deutschland und fixt die deutschen Bürger mit billigem Gas in eine Abhängigkeit, dieauch in Krokodilstränen bezahlt werden kann.

3.1. Ein Blick in die nähere Zukunft

Es ist unmöglich, die Zukunft vorherzusagen. Im Moment zeigt sich zwar eine überwältigende Übermacht der russischen Streitkräfte, aber ebenso eine entschlossen kämpfende ukrainische Armee. Die Prognosen, diese Armee wird nicht kämpfen, erwiesen sich als haltlos. Sie werden weiterkämpfen, auch wenn Zelenskyj in Kyiv von russischen Truppen gefangengenommen oder erschossen wird. Er ist in seiner Funktion als Präsident zwar der militärische Führer des Landes, seine Ausschaltung beendet mit Sicherheit nicht den Widerstandswillen der Ukrainer. Das hat nichts mit dem Endkampf der Deutschen im 3. Reich zu tun, sondern mit den historischen Erfahrungen der Ukrainer, die durch den Angriffskrieg Russlands erneut bestätigt werden.

Niemand hat vor, das ukrainische Volk anzugreifen. Niemand hat vor, ukrainische Streitkräfte zu erniedrigen. Es geht darum, zu verhindern, dass Neonazis und diejenigen, die den Genozid durchführen, in diesem Land herrschen.
Sergej Lavrov, 25. Februar 2022

Das letzte Mal, dass unsere Hauptstadt so etwas erlebte, war 1941.
Volodymyr Zelenskyj

Während Lavrov Sätze spricht, die irgendwie an Ulbrichts Mauerspruch erinnern, fliegen Raketen in ukrainische Siedlungen und werden ukrainische Städte bombardiert. Der letzte Krieg, der in Kyiv tobte, wurde von der Wehrmacht und der SS geführt. Jetzt tauchen die Russen als Angreifer auf. Mit dem Argument, Neonazis zu bekämpfen. Absurdes Theater eines russischen Präsidenten, der der Ukraine in historischen Märchengeschichten das Existenzrecht abspricht und sich gleichzeitig als Retter aufspielen will.

Putins Antwort auf den entschlossenden Widerstand der Ukrainer zeigt sein simples Weltbild. Den Widerstand der ukrainischen Streitkräfte verunglimpft er als das Wirken von Bandera-Anhängern. Die ukrainische Regierung nennt er drogenabhängig. Mit Fake-News hat das nichts zu tun. Es ist die Dummheit eines Weltbildes aus der tiefsten Vergangenheit. Ein aus der Zeit gefallener religiöser Mummenschanz, der zeigt, die Ukrainer haben ihre Nationenbildung abgeschlossen und die alte Kreml-Generation versteht die Gegenwart nicht mehr. Vor dieser geistigen Unbeweglichkeit fliehen auch viele Russen.

3.2. Nach dem Sieg

Zwar macht Russland der Ukraine jetzt ein Verhandlungsangebot. Es ist kaum vorstellbar, die Ukraine wird dieses annehmen. Zu oft hat man in den vergangenen 30 Jahren Verträge mit Russland unterzeichnet, die das Papier nicht wert war. Der Angriffskrieg ist das aktuellste Beispiel. Der wahrscheinlichste Ausgang des Krieges ist ein Sieg der russischen Armee, die eine haßerfüllte ukrainische Bevölkerung als "Bündnispartner" gewinnt. Um den Nachweis des Genozids und des Faschismus zu erbringen, müßte Putin eigentlich einen Schauprozess gegen Zelenskyj vorgesehen haben.

Wenn Zelenskyj eines kann, ist es, eine Rolle zu übernehmen und eine Rolle zu kreieren. Das tat er in der von ihm geleiteten Show "Kvartal 95", das tat er in seiner bekannten Serie "Diener des Volkes", Spötter sagen, das tat er auch als Präsident. Die Rolle als Angeklagter wird er spielen können. Der Vorwurf, der Führer eines "faschistischen Regimes" zu sein, wird der jüdische Präsident in einem öffentlichen Schauprozess ad absurdum führen können, wenn man es zulässt. Zelenskyjs Show genoss auch in Russland eine große Popularität.

Einer der Gewinner des Angriffskrieges dürfte der Oligarch Medvedchuk werden. Seine Tochter ist ein Patenkind von Putin. In der UdSSR-Zeit erlangte Medvedchuk als Rechtsanwalt von Vasyl Stus traurige Berühmtheit, als er für seinen Klienten eine höhere Strafe forderte als die Staatsanwaltschaft. Die Ukraine wird unter einer Operettenregierung mit einem Moskauer Drehbuch höchstens Komödien und Tragödien in der Ukraine aufführen können. Ein mit 73% gewählte Präsident im russischen Gefängnis, ein mit einer absoluten Mehrheit in freien Wahlen gewählte Partei im Exil oder ebenfalls im Gefängnis wird als illegitim bezeichnet, während eine von Moskau eingesetzte und durch Scheinwahlen nach Moskauer oder Minsker Drehbuch bestätigten Regierung merkwürdige Aufführungen geben wird. Gefällt das Stück nicht mehr, wird der Regisseur abgesetzt und ein neuer Regisseur wird in einer Scheinwahl verpflichtet. Oder wie in Donezk mit Saharchenko geschehen, durch ein Attentat umgebracht, um einen genehmeren Kandidaten zu installieren. Das Feindbild für den Attentäter ist ja vorhanden.

Oder es gibt ein unglaubliches Wunder. Die ukrainische Armee fügt Russland so große Verluste zu und die ukrainische Bevölkerung erweist sich als zu entschlossen und sie zwingen Russland zum Rückzug. Die Ukrainer glauben daran und kämpfen.

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