Schicksale der Menschen in einem Angriffskrieg

Krieg gegen die Ukraine VII Was bedeutet der Krieg für die Menschen, die mit der Ukraine verbunden sind. Welche Ängste, welche Gedanken und welche Hoffnungen haben sie. Die Menschen erleben den Surrealismus des Krieges: Friedlich und kriegerisch.

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In meinem siebten Beitrag über den Krieg will ich den Versuch machen, Berichte aus dem Land zusammenzutragen. In einem Krieg werden oft die Menschen vergessen. Diejenigen, die zu flüchten versuchen, die vor Ort ausharren und die, die ihr Land und ihre Freiheit verteidigen. Ich werde grundsätzlich alle Zitate und Erlebnisberichte anonymisieren und mit falschen Namen versehen, da niemand weiß, wie es in der Ukraine aussehen wird, sollten die Ukrainer diesen Krieg verlieren. Nur einen Namen habe ich im Original belassen. Es soll die Hoffung auf eine Zukunft ausdrücken, in der man nirgendwo mehr falsche Namen verwenden muß.

Es gibt viele in Deutschland lebende Ukrainer, die Verwandte in ihrer Heimat haben. Wer wissen will, was für Einzelschicksale es gibt, braucht nur auf eine der vielen Demonstrationen in den deutschen Großstädten zu gehen, die es täglich gibt. Eines ist bei so ziemlich allen gleich. Seit Donnerstag kann kaum jemand schlafen und kaum jemand essen. Gespräche beginnen oft mit der Frage: Wie viele Stunden hast Du schlafen können? Die Antwort findet man ohnehin in den Gesichtern des Gesprächspartners.

Shotgun Wedding

Ein deutsch-ukrainisches Liebespaar. Patrick wollte am Dienstag nach Kyiv zu seiner Freundin fliegen. In den Tagen vor dem Abflug machte sich seine Mutter immer mehr Sorgen um ihren eigenen Sohn. Der hatte in seinem Leben schon so manche Verrücktheit begangen. Nicht einmal gegen die Reise in die Volksrepublik Donezk hatte sie so große Einwände, als er dort eine Freundin besuchte. Jetzt wollte der leichtsinnige Filou in das Land fliegen, das von einem mächtigen Nachbarn bedroht wird. Diskussionen, Tränen, Flehen, Betteln. Nichts half. Nichts konnte ihn aufhalten. Die Liebe zu einer Frau ist stärker als die Sorgen der Mutter. Nina wartete sehnsüchtig auf ihn. Sie hatten sich schon vier Wochen lang nicht gesehen. Für junge Liebende eine Ewigkeit.

Das Leben hält in turbulenten Zeiten so manch überraschende Wendung bereit. So erging es auch Patrick und Nina. Das Flugticket war gekauft, der Koffer gepackt, es fehlte nur noch der Covid-Test. Der war positiv. Die Mutter war erleichtert, ihren Sohn dank Pandemie für zwei Wochen eingesperrt zu wissen.

Dann kam der Krieg.

Gespräche wurden immer wieder durch Luftschutzsirenen und Raketeneinschläge unterbrochen, die Patrick als Hintergrundorchester mit Ninas Stimme hören mußte. Weinkrämpfe angesichts der Gefahr und der ungewissen Zukunft. Manche Gespräche mußten unterbrochen werden. Patrick wollte Nina in diesen Tagen vor Ort einen Heiratsantrag machen. So etwas macht man, wenn man sich in die Augen sehen kann. Und wenn die Zeit gekommen ist. Die Zeit war gekommen. Aber auch der Krieg. Patrick machte seinen Antrag per Telefon. Neben der Antwort hörte er die Luftschutzsirene.

Kurzgeschichten I

Wer schon mit mir war, kennt diese Stelle! Grenzübergang Zosin-Ustilug. Hunderte von Autos warten dort, um private Hilfe zu leisten. Aus Freiburg im Breisgau und Prag/CZ holten Autos Frauen und Kinder ab. In den Fahrzeugen, viele waren auf der Autobahn Richtung Westen unterwegs, sitzen meist nur Frauen. Die Hotels sind voll, die Tankstellen teilweise leer, in POLEN! Wir haben in 45 Stunden mehr erlebt, als die Medien zu berichten wissen!

Sehnsucht nach Syrnyky

Wenn ich sehe, dass meine Nachrichten nicht zugestellt werden, bin ich erstmal ruhig, d.h. sie ist unten und hat dort keinen Empfang. Die schrecklichsten Stunden für mich waren zwischen 8 und 12, als meine Nachrichten zugestellt wurden, sie sie aber nicht gelesen hat. Sie wollte kurz warme Klamotten holen, doch auf dem Weg hörte sie einen Beschuss und warf sich zu Boden. Dann lief sie wieder schnell in den Bunker, ohne die Nachrichten gelesen zu haben.

Den ganzen Tag habe ich versucht, einen Weg hinaus aus der Stadt für sie zu organisieren. Bis ich verstanden habe, dass dies jetzt sehr gefährlich für sie wäre und es für den Moment besser ist, wenn sie in diesem Schutzbunker sitzt, mit Menschen, die ihr vielleicht nicht mehr ganz so fremd sind.

Am Abend, als wieder kurz Ruhe einkehrte, war sie fest entschlossen, sich auf den Weg zum Bahnhof zu machen. Und ich habe es sogar geschafft, ein Zugticket nach Lwiw für sie zu besorgen. Doch wie kommt man zum Bahnhof? Es fahren keine Taxis und keine öffentlichen Verkehrsmittel. Zu Fuß würde sie zwei Stunden laufen, und das mit Gepäck. Durch eine Stadt, in der gekämpft wird. Bis wir Optionen per WhatsApp besprechen, gehen wieder die Sirenen los. Man sagt, es könnte ein Angriff auf den Flughafen kommen, neben dem sie wohnt. Sie geht wieder in den Bunker. Wir hoffen, dass er trotz des sehr ungemütlichen Ambientes (Foto) sicher ist.

Morgen unternehmen wir einen neuen Versuch, sie aus der Stadt zu holen, wenn es irgendwie geht. Mit dem Zug, auch wenn das Ticket schon verfallen ist, man wird schon irgendwie wegkommen.

Und: Eigentlich wäre sie morgen ganz normal mit dem Flugzeug gekommen. Letzen Montag, als Putin seine verlogene Rede über die Anerkennung der sogenannten „Republiken“ gehalten hat, haben wir ein Ticket gekauft. Da haben wir noch überlegt, dass wir sie bitten werden, uns zum Brunch am Sonntag Syrniki zu machen. Jetzt wird sie als vor dem Krieg Geflüchtete kommen. Im besten Fall.

Der Gedanke an Syrnyky lässt die Sehnsucht nach den vergangenen Friedenszeiten aufkommen. Wenn ich die Augen schließe, rieche ich den Kaffee und sehe die vier runden Syrnyky, die mir mein Freund Mitya im Atlas serviert. Ich träume davon, den Kater des Hauses Atlaska zu betrachten, wie er faul in der Sonne döst oder von den Gästen im bekannten Restaurant in Lviv mit Leckereien verwöhnt wird. Frieden. Mit geschlossenen Augen kann ich es träumend erreichen. Im Traum ist die einzige Frage, die mich beschäftigt, ob ich heute die vier Syrnyky bezahlen werde oder ob man die Bezahlung ablehnt. Auch ein Zeichen für Heimat. Erinnerungen voller Wärme und Dankbarkeit.

Ich öffne die Augen wieder und sehe die Realität, die sich für die Menschen so sehr verändert hat. Der von der Realität weit entrückte Putin lässt verkünden, er wolle die Ukraine vor dem Faschismus befreien. In Kyiv, in Sumy und in Kharkiv flüchten diejenigen, die er befreien möchte, vor den Bomben der Befreier in die Keller. Die Finnen sprachen während des Kriegs 1939/40 von "Molotovs Brotkörben", wenn wieder die Bomben fielen und die erdrückende Übermacht in der Luft einen Bombenhagel auf finnische Städte ergoß. In einer Radioansprache hatte Molotov verkündet, die Sowjetbomber werfen Nahrungsmittel für die hungernde finnische Bevölkerung ab. Da Putin erneut nach olympischen Spielen fremde Staatsgebiete annektiert (Abchasien und Südossetien 2008, Krym 2014), könnten die Ukrainer analog zum Winterkrieg 1939/40 von der "Putin-Olympiade" sprechen, wenn sie wieder in die Luftschutzbunker sprinten müssen.

Immerhin bieten die U-Bahn-Stationen in Kyiv ausreichend Schutz, die in den 1960er Jahren auch deshalb so tief in der Erde gebaut wurden, um der Bevölkerung Schutz im Falle eines Atomkrieges zu bieten (abgesehen davon zwang die sehr spezielle Topographie am Westufer des Dnipros die Ingenieure ohnehin zu außergewöhnlichen Lösungen). Wenn man so will, bieten im Kreml angeordnete Maßnahmen den Menschen jetzt Schutz vor Angriffsbefehlen in der Gegenwart.

Viele Deutsche kennen nicht diese außergewöhnliche Architektur der Metro. Wenn man am Maidan die Metro betritt oder gar in die tiefste Station der Welt Arsenal geht, warten Rolltreppen, die nicht enden wollen. In der Station Arsenal müssen 108m Höhenunterschied überwunden werden. Das schaffen die Rolltreppen in zwei Minuten. Stoppen diese Rolltreppen unverhofft, machen manche Touristen, die mit Kameras diese außergewöhnliche Fahrt filmen, die unangenehme Erfahrung einer Gesichtsbremse, wenn sie sich nicht am Geländer festgehalten haben. Die Rolltreppen haben eine weitaus höhere Geschwindigkeit als in Deutschland. Man will ja nicht den halben Tag auf der Rolltreppe verbringen. Bleiben sie stehen, hat man einen langen Fußmarsch vor sich oder man wartet. Weshalb die Ausrede für eine Verspätung zu einem Treffen, man habe auf der Rolltreppe gestanden, in Kyiv nicht als Witz verstanden wird. Auch die Größe der Metrostationen ist beeindruckend. An Kreuzungspunkten kann es einem Fremden mal passieren, man erwischt den falschen Ausgang und stellt oberirdisch fest, aus dem geplanten Fußweg von 200m vom Ausgang wird mehr als ein Kilometer.

Das mag die Dimensionen und die Sicherheit erklären, die den Menschen in Kyiv geboten wird, die in der Nähe solcher Metrostationen liegen. Die Raketen, die Russland einsetzt, die Artillerie, mit der die russische Armee die Stadt beschießt, die Russland als Geburtsort ihres Landes bezeichnet, können den Menschen in den Stationen keinen Schaden zufügen. Sind die Bunker nicht für den Handyempfang geeignet, weiß der um die Sicherheit seiner Liebsten besorgte Familienangehörige, im Moment passiert nichts.

Kurzgeschichten II

Und jetzt ganz kurz über uns. Heute in der Früh hat Daryna [26. Februar 2022, 5 Uhr] geboren. Zwar in einem Schutzkeller, aber in demjenigen eines Krankenhaus. Die Ärztinnen waren richtig toll. Der Junge heisst Orest, und es ist alles gut mit ihm. Anstatt ein süsses Baby-Bild zu posten, hänge ich lieber das Bild von Daryna an.

Traumurlaub mit Alpträumen

Lara aus Luhansk und Lyudmila aus Pieter (St. Petersburg) wollten der Kälte entfliehen und einen gemeinsamen Urlaub in der Türkei verbringen. Kennengelernt haben sich die beiden Liebenden in Russland, als der Krieg in Laras Heimat schon sieben Jahre tobte. Weil sie 2014 mit vielen anderen den Maidan unterstützte, war sie gezwungen, fluchtartig ihre Heimat zu verlassen und nach Lviv zu ziehen. Ihre Eltern hat sie seitdem nicht mehr sehen können.

Der Anfang war schwer für die Programmiererin. Manchmal wußte sie nicht, wovon sie die Miete bezahlen sollte und woher sie das Geld für das Essen auftreiben konnte. Der Alltag eines Flüchtlings in ungewohnter Umgebung ist schwer, auch wenn in dem Ort Freunde wohnen. Als sie eine gut bezahlte Stelle fand, kehrte die positive Lebenslust zurück. Als die EU 2016 die Visapflicht für Ukrainer aufhob und sie eine noch besser bezahlte Stelle fand, verbrachte sie jeden Urlaub in einem anderen europäischen Land. Jedes Mal, wenn ich sie traf, mußte ich an den Football-Spieler Sasha denken, der ebenso wie Lara den Versuch unternahm, jedes europäische Land zu bereisen, wenn er nicht gerade arbeiten mußte oder auf Krücken durch Lviv lief. Das ist die junge europäische Generation, die es auch in Russland zahlreich gibt.

Zum Jahreswechsel 2021/22 stand Lyudmilas erster Besuch in Lviv auf dem Programm. Den Jahreswechsel begeht man sowohl in Russland, als auch in der Ukraine im Kreise seiner Liebsten. Die Arbeit ruht mindestens bis zum orthodoxen Weihnachten am 7. Januar. Das neue Jahr 2022 begrüßte man gemeinsam mit Freunden aus Lviv, aus Kyiv und aus Deutschland. Bei der Russin Lyudmila brachen in dieser Nacht die Gefühle durch. Jahrelang hatte sie von den schlimmen Nazis und von der brutalen Unterdrückung der Russen gehört. Sie hatte der Propaganda nie Glauben geschenkt, aber durch die tägliche Wiederholung blieb dennoch etwas hängen. Jetzt befand sie sich in der "Hochburg der Faschisten", feierte mit den angeblichen Feinden und erlebte eine weltoffene Stadt, in der sie bei Spaziergängen mit Lara viele Sprachen hören konnte. Eine Freiheit, die sie selbst in ihrer Heimatstadt St. Petersburg nicht erlebte, auch wenn diese immer weltoffener war als fast alle anderen russischen Städte. Sie begann zu weinen und sich zu entschuldigen, auch wenn niemand es von ihr verlangt hatte. Die Neujahrsgesellschaft kannte Lyudmila und hatte nie von ihr irgendwelche Belehrungen gehört, wie die Ukrainer leben und was sie sein sollten.

Als Lyudmila und Lara in warmen Gefilden Zeit für sich selbst finden und unter warmen Sonnenstrahlen feiern wollten, brach der Krieg aus. Ein gleichgeschlechtliches Liebespaar und ihre beiden Nationen führten Krieg gegeneinander. Sie sitzen im Urlaubsort und wissen nicht, was sie tun sollen. Wohin sollen sie am Ende des Urlaubs fliegen? Ins sichere Russland, wo Teile der Bevölkerung noch glauben, es gäbe keinen Krieg? Weil die Mächtigen den Medien verbieten, das Wort Krieg zu verwenden? In die Ukraine, wohin man zur Zeit ohnehin nicht reisen kann?

Kurzgeschichten III

Natasha geht nicht weg. Sie sagt sie sei keine Ratte und sie ließe sich ihr Land nicht von den Russen stehlen...
[Natasha stammt aus Luhansk und wohnt in Lviv]

Gefangen in einer Stadt

Manche Ukrainer wurden vom Krieg überrascht. Sveta aus Poltava wohnt zusammen mit ihrer 80jährigen Mutter, die kaum noch laufen kann. Soll sie flüchten und ihre Mutter zurücklassen? Ihre Wohnung liegt direkt im Zentrum von Poltava. Jeden Tag sieht sie das Theater, wenn sie durch das Tor auf die Straße tritt. Manchmal trifft sie einen deutschen Schriftsteller, der in der Stadt auffällt. Er bereiste mit seinem Fahrrad lange Jahre Russland, die Ukraine und Belarus. Als Kenner stellte er fest, die Frauen in Poltava sind die Schönsten. Eine der Frauen aus dieser Stadt wählte ihn zum Mann. Als Mann hat man in solch wichtigen Fragen in der Ukraine nichts zu melden. Davor schützt auch keine deutsche Staatsangehörigkeit. Beide gründeten einen kleinen deutschsprachigen Stammtisch, zu dem auch Robert stieß. Robert fällt in Poltava ebenso auf wie der Schriftsteller. Er stammt aus Zimbabwe und lernt eine Sprache nach der anderen. In Poltava absolvierte er erfolgreich ein Elektrotechnikstudium.

Der deutsche Stammtisch traf sich anfangs in einer Pizzeria, die einem Sizilianer aus Palermo gehört, der zwanzig Jahre in Leipzig lebte. Bis auch er eine Frau aus Poltava kennenlernte und beide eine eigene Pizzeria eröffneten, die deutlich bessere Speisen anbietet wie die landesweite Kette Celentano. Juve-Spiele konnte Mario auch in Poltava sehen. Wie auch in Deutschland kann man in fast jeder italienischen Pizzeria erkennen, welchen Lieblingsverein der Besitzer hat. Die Kellner tragen die Farben des Vereins.

Immer nur Tiramisu zum Stammtisch war auf die Dauer nichts für Sveta, weshalb man ins Café Dominik wechselte. Dort gab es mehr Auswahl an Kuchen für Sveta und auch Bier für die Männer. Fast jeden Montag sprach man über Absonderlichkeiten der deutschen Sprache.

Am Donnerstag kam der Krieg. Er traf Sveta unvorbereitet. Nach Lviv fliehen? Oder doch bleiben? Für die Mutter wäre diese Strapaze einer ungewissen Reise zuviel gewesen. Das stand fest. Oft genug war Tanja eine große Hilfe für die Familie, wenn Sveta ihre Mutter nicht betreuen konnte. Tanja war überstürzt aus Poltava abgereist und auf das Land geflohen. Svetas deutscher Arbeitgeber, für den sie im Home Office mit deutschen Kunden telefoniert, um Produkte anzubieten, verstand die Situation nicht und wollte keine Verdienstausfälle erleiden. Es wurde gerade eine neue Produktkette eingeführt und da kann man auf keinen Mitarbeiter verzichten. Produkte am Telefon vorstellen, während im Hintergrund Fliegeralarm zu hören ist? Eine bizarre Kaltaquise.

Mittlerweile hat sich das Fenster für eine Flucht geschlossen. Kein Taxifahrer will mehr das hohe Risiko eingehen und jemanden zu Freunden oder Bekannten aufs Land fahren. Sveta war vollauf damit beschäftigt, die Medizin für die Mutter zu kaufen und sie konnte in der Bäckerei das letzte halbe Stück Brot ergattern. Ihre Hoffnungen ruhen nun auf die ukrainische Armee. Unter einer von Russland kontrollierten Marionettenregierung will sie nicht leben. Vielleicht denkt sie in diesem Moment an ihren verstorbenen Vater, der als kleiner Junge bei der Belagerung von Leningrad seine gesamte Familie verlor. Bei der Flucht über den zugefrorenen Lagodasee wurde er von seiner älteren Schwester getrennt. Er fand sie nie wieder. Auch die damals populäre Sendung in der UdSSR, die Menschen wieder zusammengebracht hat, konnte ihm nie helfen.

Der junge Knabe wurde nach Sibirien in einem Kinderheim untergebracht, in dem er kaum versorgt wurde oder konnte. Als der Krieg beendet war, schickte man ihn in die westukrainische Kleinstadt Bereshani, die zwischen Lviv und Ternopil liegt (die Hochburg der UPA). Eine ukrainische Lehrerin sah die halb verhungerte und verwahrloste Gestalt und kümmerte sich um ihn, damit er zu Kräften kam. Als er erwachsen wurde und eine Ukrainerin heiratete, lebte er als Russe in Poltava und vergaß nie die Hilfsbereitschaft der Westukrainer. Der Briefwechsel mit der Lehrerin bis zu ihrem Tod zeugt davon.

Über sein Schicksal in Leningrad, welches viele Menschen geteilt haben, wurde in der UdSSR ausführlich geredet. Seine Frau konnte ihm bis Ende der 1980er nur in den eigenen vier Wänden über das Schicksal ihrer Familie während des Holodomors berichten, als die Familie nur dank eines kleinen Ackers auf einer Lichtung im Wald überlebte. 12 Kilometer mußte man in einer Nacht zurücklegen, um noch in der Nacht etwas essen zu können. Sich auf diese Art zu versorgen und sich erwischen zu lassen galt als schwere Straftat. Auf den Diebstahl von fünf Weizenähren stand die Todesstrafe. Nur das Verhungern war gesetzlich erlaubt. Er hatte es von seiner Frau gehört und stimmte bei jedem Referendum für die Unabhängigkeit der Ukraine.

Als er starb, kümmerte sich Sveta um die in der orthodoxen Kirche einzuhaltenden Beerdigungsrituale. Zuerst ging sie zum Popen der russisch-orthodoxen Kirche. Da dieser aber arrogant und unhöflich reagierte, ging sie zum Geistlichen der ukrainisch-orthodoxen Kirche. Der sagte, es sei egal, wer die heiligen Handlungen vornimmt und erwies sich als überaus freundlich. Der Pope der russisch-orthodoxen Kirche klagte Sveta vorwurfsvoll an, sie wäre dafür verantwortlich, die Seele ihres Vaters käme in die Hölle, da Ketzer die heiligen Handlungen vorgenommen hätten. Der Pope wußte den Kirchenbann hinter sich, den das Moskauer Patriarchat gegen die ukrainischen Orthodoxen ausgesprochen hatte.

Nun dieser Krieg. Entfernt waren die Kämpfe zu hören. Sveta und ihre Mutter sind gefangen in der Stadt, in der sie leben. Strom gibt es noch, die Heizung funktioniert. Ausreichend Geld konnten sie gerade noch abheben. Die Lebensmittel reichen für einige Tage. Aber was, wenn man den Schutz eines Bunkers aufsuchen muß? Das Haus hat zwar einen Keller, aber der bietet nur wenig Schutz. Die Sorgen werden größer. Schlaf in diesen Zeiten zu finden ist schwer. Sveta hat vom Schlafmangel Kopfschmerzen. Tabletten dagegen sind zur Zeit schwer zu finden. Sveta hat das Geld für Tabletten an die Verteidiger gespendet. Medikamente für Soldaten haben Vorrang. Sie möchte ebenso wenig wie ihre Mutter befreit werden.

Kurzgeschichten IV

Trotz der massiven Repressionen gehen die Menschen in Belarus auf die Straße und rufen "Keinen Krieg!". Es gibt bereits zahlreiche Videos und Bilder, die das zeigen. Gleichzeitig verdichten sich die Hinweise, dass Luka Brigaden zusammenziehen lässt, um möglicherweise für Putin in den Krieg einzugreifen.

Was tun?

Anonymous sollte die TV-Kanäle in Russland knacken, sie mit einem berühmten Lied aus dem Jahre 1970 unterlegen, den Text in fetten Lettern auf Russisch übersetzen und dazu Bilder und Videos zeigen, die den Russen klar vor Augen führen, was ihre Armee in der Ukraine anrichtet.

Война,
Для чего это?
Совершенно ничего,
Война,
Для чего это?
Совершенно ничего
Скажите это еще раз, вы все!, (Боже мой)
Для чего это?
Совершенно ничего

War,
What is it good for?
Absolutely nothing,
War,
What is it good for?
Absolutely nothing
Say it again, y'all
War, (good God)
What is it good for?
Absolutely nothing

Edwin Starr - War

Weitere Berichte aus der Ukraine:

Ich schaue keine Nachrichten mehr - Jörg Drescher, Leiter des deutsch-ukrainischen Forums in Kyiv

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