Interview mit einem Soldaten vor Kharkiv

Krieg gegen die Ukraine X Der Schutz der Millionenstadt Kharkiv ist die Hauptaufgabe der Soldaten am Frontabschnitt zwischen dem russischen Belgorod und dem ukrainischen Kharkiv. Ein Freiwilliger kämpft seit Juni an diesem Frontabschnitt.

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Der Soldat Max Turko ist zur Zeit im Oblast Kharkiv stationiert. Das Interview, welches am 10. Juli veröffentlicht wurde, beschreibt den klassischen Stellungskrieg, der seit Kriegsbeginn am Frontabschnitt im Oblast Donezk tobt. Die Aufgabe der ukrainischen Armee nördlich von Kharkiv ist eine andere. Kharkiv ist die zweitgrößte Stadt in der Ukraine. Nachdem die russische Armee zu Beginn des Krieges bis an die Stadtgrenze von Kharkiv kam, gelang es der ukrainischen Armee zeitweise, den Gegner bis zur Grenze zurückzudrängen. Im Moment ist die russische Armee wieder 10-20km auf ukrainisches Gebiet eingedrungen.

Frage: Wie bist Du zur Armee gekommen und an welcher Front kämpft Deine Einheit?

Max Turko: Zwei Wochen nach Kriegsbeginn ging ich zu einem örtlichen Militärzentrum und meldete mich dort an. Meine Einheit kämpft in der Region Charkiw. Genauer möchte ich hier lieber nicht werden*.

Eine der Hauptaufgaben vor Kharkiv ist es, die russische Armee davon abzuhalten, mit Artillerie auf Kharkiv (1,5 Mio. Einwohner) zu schießen oder die Stadt zu erobern. Bekommt man an der Front etwas von den Zerstörungen in der Stadt und der Stimmung der Zivilisten mit?

Ich persönlich war noch nie in Charkiw, aber meine Kameraden sagten mir, dass einige Teile davon zerstört sind**. Ich bin mir nicht sicher, wie schlimm es tatsächlich ist, aber die Leute sagen, dass einige Städte wie Mariupol (450 000 Einwohner) zu 95 % zerstört sind. Zivilisten sind offensichtlich kriegsmüde. Diejenigen, die fliehen wollten, haben das bereits getan, aber viele Menschen haben ihr ganzes Leben hier gelebt und es ist zumindest für sie einfacher zu bleiben als zu gehen. Sie wissen nicht, wohin sie gehen und was sie an dem neuen Ort tun sollen, also entscheiden sie sich zu bleiben. Ich höre hauptsächlich Worte der Unterstützung unter Zivilisten, aber offensichtlich spreche ich nicht mit allen, und diejenigen, die die Ukraine nicht unterstützen, gehen uns wahrscheinlich einfach aus dem Weg und schweigen.

In welcher Sprache werden an der Front die Befehle gegeben?

Ukrainisch.

In Russland behauptet man, in der Ukraine sei die russische Sprache verboten.

Es ist nicht verboten und viele Leute sprechen Russisch - sogar in der Armee. Aber soweit ich weiß, müssen alle offiziellen Dokumente auf Ukrainisch sein

Manche in Deutschland sehen den Krieg als Krieg zwischen Russen und Ukrainern an. An der Seite der Ukrainer kämpft aber auch das Kalinovsky-Regiment aus Belarus. Wie groß ist die Unterstützung aus anderen Ländern und bekommt ihr an der Front etwas davon mit?

Ich kann mit Sicherheit sagen, dass wir zu Beginn des Krieges viele Nahrungsmittel aus anderen Ländern sowie herzliche Worte bekommen haben. Ich persönlich habe keine Ausländer an der Front gesehen, aber ich habe einige Ukrainer getroffen, die nach Kriegsbeginn aus dem Ausland zurückgekommen sind und sich dem Militär angeschlossen haben.

Es fällt auf, in diesem Krieg gibt es eine große Bereitschaft, Geld zu sammeln. Für Deutsche ist das ungewohnt, da man die Versorgung der Armee als Aufgabe des Staates ansieht. In Russland wird hauptsächlich für Nahrung und Kleidung gesammelt. Wofür spenden die Ukrainer und was fehlt den Soldaten? Hast Du selbst auch Sammlungen organisiert? Wie groß ist die Hilfe, die von Zivilisten organisiert wird?

Auch manche Ukrainer sehen darin eine Aufgabe des Staates. Aber leider ist unser Staat nicht so reich. Ich denke, die Deutschen würden genauso viel für die Armeeversorgung spenden wie die Ukrainer jetzt, wenn der Krieg Deutschland trifft. Ukrainer spenden normalerweise an Menschen, die sie kennen, an Wohltätigkeitsorganisationen oder einige berühmte Blogger. Soldaten brauchen in der Regel Autos/Drohnen/Funksender/Wärmebildkameras. Ich habe eine Sammlung auf meiner Facebook-/Instagram-Seite organisiert. Wir haben in nur 2 Tagen 320 000 UAH (ca. 8000 Euro***) gesammelt. Die Hilfe ist ziemlich bedeutend.

In Russland wird berichtet, die Spenden kommen oft nicht bei den eigenen Soldaten an. Es wird davon berichtet, manche Hilfstransporte werden geklaut oder gar überfallen****. Wie sieht das in der Ukraine aus?

Ich bin mir nicht sicher, ich gehe davon aus, dass Betrüger in jedem Land präsent sind. Von Bekannten habe ich so etwas noch nicht gehört.

Warum kämpfst Du, obwohl die ganze Welt glaubte, Russland sei unbesiegbar?

Wir kämpfen seit 400 Jahren gegen Russland. Russland hat im Laufe seiner Geschichte Millionen von Ukrainern getötet. Lies zum Beispiel mehr über den Holodomor. Ich bezweifle, dass irgendjemand auf der Welt wirklich geglaubt hat, dass Russland unbesiegbar ist. Vielleicht will uns die russische Propaganda dies glauben machen. Persönlich kämpfe ich, weil ich glaube, dass der Terrorismus ausgerottet werden sollte, und ich tue, was ich kann, um die Welt vor einem terroristischen Staat zu schützen.

Was befürchtest Du für Dein Land unter einer russischen Besatzung?

1. Verlust der Meinungsfreiheit und jeglichen Einflusses auf die Regierung. Wir alle haben gesehen, was in Russland mit all den Demonstranten gegen den Krieg passiert ist. Ein paar meiner Freunde in Russland versuchten friedlich zu protestieren und wurden festgenommen. Ich möchte nicht, dass die Menschen hier ständig in Angst leben.

2. Alle Steuern gehen an Russland, was bedeutet, dass wir für die zukünftige Zerstörung anderer Länder bezahlen werden.

3. Verlust des pro-europäischen Bewegungsvektors, was mehr Homophobie, Sexismus, Rassismus usw. bedeutet. Lange Rede kurzer Sinn – wir wollen nicht die Sklaven Russlands sein. Dies sind nur einige der schlimmen Dinge, die passieren werden.

In den vergangenen Wochen liest man immer mehr über einen Partisanenkrieg, der nicht nur auf russisch besetzten Gebiet in der Ukraine tobt. Auch in vielen Regionen Russlands gibt es Anschläge. Nimmst Du das wahr? Gibt es auch russische bzw. prorussische Partisanen in der Ukraine oder Unterstützung durch Einheimische für die russische Armee in Deinem Frontgebiet?

Ich glaube, es gibt ukrainische Partisanen in Russland und in besetzten Gebieten der Ukraine, und es gibt auch russische Ablenkungsgruppen in ukrainischen Gebieten, aber ich persönlich habe noch nie eine davon getroffen. Ich höre in den Nachrichten von ihrer Arbeit. Ich bin mir nicht sicher, wie sehr man Nachrichten heutzutage vertrauen kann.

In Deutschland wird seit Wochen über Waffenlieferungen diskutiert. Der Schriftsteller George Orwell sagte 1941 angesichts des Weltkrieges folgendes über Pazifismus: "Da Pazifisten mehr Handlungsfreiheit in Ländern haben, in denen Ansätze der Demokratie bestehen, können Pazifisten effektiver gegen die Demokratie wirken als für sie. Objektiv betrachtet ist der Pazifist pro-nazistisch." Russland hat den Krieg am 24. Februar 2022 mit dem Ziel begonnen, die Ukraine zu "entnazifizieren". Was sind Deine Gedanken zu dieser Form des Pazifismus?

Frieden wird es geben. Aber auch Terror, Tod und Sklaverei, zusammen mit Homophobie, Sexismus und vielem anderen. Ich weiß, dass die Ukraine nicht perfekt ist. Aber entscheidend ist nicht, wer Du heute bist. Es geht darum, wer Du zu werden bereit bist - und auch ernsthaft zu werden versuchst.

Jeder Soldat träumt an der Front von etwas. Was sind Deine persönlichen Träume und was sind Deine Wünsche für die Ukraine nach dem Krieg?

Ich träume davon, dass ich eines Tages aufwache und der Krieg endet. Ich habe eigentlich keine Wünsche für die Ukraine. Ich möchte, dass jeder auf der Welt versteht, dass Putin der nächste Hitler ist, und ich wünsche mir, dass sich die Welt gegen eine solche Bedrohung zusammenschließt. Jetzt sagen die Leute, wir seien zusammen und vereint, aber das ist nicht genug. Jeden Tag sterben viele Ukrainer. Ich möchte, dass es aufhört.

* Es ist nicht erlaubt, den Namen der Einheit und die genaue Stellung zu veröffentlichen.
** Artilleriebeschuss von Kharkiv: am 7. Juli ein wurde ein Gebäude der Universität getroffen, am 10. Juli wurde eine Schule und ein ziviles Haus angegriffen, am 15. Juli erneut eine Schule, Artilleriegeschoss am 16. Juli, Luftalarm am 20. Juli
*** Max Turko hat den aktuellen Wechselkurs zum Euro nach der Abwertung des Hryvna zugrunde gelegt.
**** Generell ist Korruption eine Begleiterscheinung aller Kriege. Über die Korruption auf russischer Seite hat das oppositionelle Nachrichtenportal Verstka (Layout) einen langen Bericht veröffentlicht.

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