Мы - не "народец!" (Wir sind kein "Völkchen")

Revolution in Belarus VI Der Fall Protasevych ist die Spitze des Eisberges. Mit allen Mitteln versuchen die Siloviki, ihre Macht zu verteidigen. Die Liste der Verurteilten in Belarus ist lang.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

1.1. Wir sind kein Völkchen
1.2. Wir warten auf Veränderungen
2.1. Zerstöre die Gefängnismauern
2.2. Krieger des Lichts
2.3. Heia Popeia
3. Komm raus für einen Spaziergang
Weiterführende Informationen, Artikel und Begriffserklärungen

Belarus sinkt mit den Lügen seiner Regierung. Man sagte uns,
wir hätten verloren. Aber wie kann man von Sieg und Scheitern reden,
wenn eine bewaffnete Bande gegen unbewaffnetes Volk steht? Das ist kein Sport.
Belarus erwartet von der Welt, dass sie endlich ihr Wort sagt.
Und dieses Wort muss nicht nur klingen in der Leere einer Formel, es muss brennen.
Die große Besorgnis ist heute gleichbedeutend mit dem Schweigen.
Keine Besorgnis mehr, bitte.
Alhierd Baharevich, 29. Mai 2021

1.1. Wir sind kein Völkchen
(TOR Band, 2020)

Lukashenka bezeichnet sich selbst gerne als Väterchen. Während einer Pressekonferenz im Jahre 2013 kommentierte Lukashenka den Währungsverfall der Landeswährung:"in der letzten Zeit ist unser Völkchen in die Wechselstuben gestürmt". Die Belarusen hatten massenhaft Devisen gekauft, worüber Lukashenka sichtlich verärgert war.

Die Verniedlichungsform drückt in der russischen und der belarusischen Sprache Nähe und Vertrautheit aus. Die bekannteste Form der Verniedlichung ist Babushka, welches von Baba (Großmutter), abgeleitet wird. Eine Verniedlichung wird nur im persönlichen und vertrauten Umgang genutzt. Im Verhältnis zwischen Staatsorgan und Volk ist es unüblich und unerwünscht. Das sorgte 2013 für Unmut und wurde von vielen Bürgern als Respektlosikeit des Präsidenten gegenüber seinem Volk gedeutet.

Die Formulierung "Völkchen" nutzt der väterlich-despotische Lukashenka besonders gerne, wenn er die Bevölkerung als ungezogen bezeichnen möchte. Lukashenka, der sich selbst gerne als Väterchen der Nation bezeichnet, versteht die Beziehung zwischen Staatslenker und Bevölkerung offensichtlich als Verhältnis zwischen dem Erzieher und dem unmündigen Volk. 2020 nannte Lukashenka die Belarusen erneut "Völkchen", was die TOR Band mit dem bekannten Protestsong Wir sind kein Völkchen beantwortete.

Aussichtsreiche Gegenkandidaten wie Paval Sieviaryniec, Mikola Statkevich, Viktar Babaryka, Valery Tsepkalo, Sjarhej Tikhanovsky waren nicht zur Präsidentschaftswahl zugelassen. Sie wurden vor der Wahl verhaftet und verurteilt. Insgesamt vier Kandidaten wurden neben dem Amtsinhaber Lukashenka zur Wahl zugelassen. Offensichtlich sah Lukashenka in Sviatlana Tikhanovskaya keine Gefahr. Auch nicht, nachdem sich am 19. Juli Sviatlana Tikhanovskaya, Veronika Tsepkalo und Maria Kolesnikova zu einem Triumvirat zusammengeschlossen haben und die Reaktionen von Lukashenkas Wahlhelfern nichts fruchteten. Lukashenka äußerte im Mai, Belarus sei "noch nicht reif genug, um eine Frau zu wählen". Das offizielle Abstimmungsergebnis lautete 80,1% für Lukashenka und 10,12% für Tikhanovskaya. Viele ausgehängte Protokolle an Wahllokalen lassen ein anderes Ergebnis vermuten.

Der Wahlbetrug war offensichtlich. Eine mitgeschnittene Aufnahme bezeugt, wie der Beamte Serhey Stashevskyj im Vitebsker Wahllokal Nr. 25 des Bezirkes Oktyabrsky die Wahlkommission überzeugt, das Abstimmungsergebnis zu ändern. Die Begründung des Beamten gegenüber den Auszählern ist interessant. Er sagt in seiner Ansprache vor den Wahlhelfern, es ginge um seine monetäre Versorgung und er droht auch den Wahlhelfern.

Ich [habe] einen sehr schwierigen Vorschlag für Sie. Ändern Sie das Protokoll
und ändern Sie die Zahlen zwischen dem dritten und vierten Kandidaten radikal. [...]
Ihr seid großartig, ihr seid ein Team - ihr habt eure Position ausgedrückt,
dafür respektiere ich euch. Aber wir müssen es anders machen. [...]
Wir sind alle bis zu einem gewissen Grad prinzipientreue Menschen.
Wenn es um unsere Zukunft geht, möchte ich, dass sie zumindest ein wenig hell ist.
Serhey Stashevskyj, Wahlleiter im Vitebsker Wahllokal Nr. 25, Audioaufzeichnung

Dumm gelaufen für den Beamten. Die Anordnungen wurden aufgenommen und veröffentlicht. Konsequenzen für den Silovik Stashenko? Keine.

Direkt nach der Wahl verschwanden die Wahlzettel, damit der offensichtliche Wahlbetrug nicht nachgewiesen werden konnte. Damit nur die gewünschten Resultate zählen, sind den Medien in Belarus Onlineumfragen untersagt. Dies ist das Privileg staatlicher Institutionen.

1.2. Wir warten auf Veränderungen
(Viktor Tsoj & Kino, 1986) (August 2020 in Minsk)

Bereits im Wahlkampf deutete sich an, es läuft nicht wie geplant für den Amtsinhaber. Bei einem Wahlkampfauftritt von Tikhanovskaya auf dem Kyiv-Platz in Minsk hatte die Staatsmacht für eine regierungsfreundliche Veranstaltung zwei DJs engagiert, deren Aufgabe es war, Tikhanovskayas Veranstaltung zu stören. Kirill Galanov und Vladislav Sokolovski legten das Lied Хочу перемен (Wir warten auf Veränderungen) auf, welches Viktor Tsoi vor 35 Jahren schrieb und seit langer Zeit im belarusischen Radio nicht mehr zu hören ist. Der Vorsteher des Minsker Stadtbezirks Mitte Dimitri Petruscha schaltete nach zwei Minuten den Ton aus. Galanov und Sokolovski wurden am folgenden Tag wegen minder schwerem Rowdytum und Ungehorsam gegen Amtspersonen zu 10 Tagen Haft verurteilt. Der Platz wird von der Bevölkerung seitdem Platz der Veränderungen genannt.

In den ersten zwei Wochen kam es auf den Straßen zu einem Aufstand mit Verletzten und Toten sowie vielen Verhaftungen. Die Sicherheitskräfte des Staates - an der Spitze die OMON - waren sichtlich überfordert. Es entwickelte sich ein absurdes Katz- und Maus-Spiel zwischen Demonstranten und Ordnungskräften. Die meisten Internetseiten konnte der Staat abschalten. Die Maßnahmen gegen Telegram (Inhaber Pavel Durov) blieben erfolglos und die Nutzer fanden Wege, Telegram zu erreichen.

Einer der Hauptprofiteure war NAKhTA. Im August 2020 bestand die Redaktion aus vier Personen, die allesamt seit Jahren mit dem System Lukashenka in Konflikt geraten waren und nun von Litauen aus ihre Arbeit verrichteten. Nicht ohne Kritik von der belarusischen oppositionellen Presse. Das Nachrichtenportal Tut.by warf NAKhTA vor, die präsentierten Videos, Bider und Nachrichten nicht verifizieren zu können. Die vierköpfige Redaktion von NAKhTA versteht sich als moderne Form des Journalismus, die sich nicht so sehr an den klassischen Journalismus orientiert, wie er auch in der westlichen Welt oder auch z.B. bei Al Jazeera üblich ist. Tut.by blieb das wichtigste Nachrichtenportal in Belarus mit 3,3 Mio. Nutzern, NAKhTA konnte innerhalb kurzer Zeit eine Million Nutzer gewinnen. Der ausschlaggebende Grund war die Schnelligkeit. Telegramm im Allgemeinen und NAKhTA im Speziellen versetzten die zumeist jugendlichen Demonstranten in die Lage, schnell genug an Informationen zu kommen, wo die Staatsmacht gerade patrouillierte. Was dazu führte, man konnte auf der Straße verhaftet werden, weil man Telegram als Social Media-Plattform nutzt.

Diese Form des dezentralen Widerstandes mit Aufständen hielt etwa zwei Wochen an. Bis zum Spätherbst folgten große Demonstrationen, bei denen offensichtlich wurde, über 80% Zustimmung für den Amtsinhaber kann nur ein Phantasieprodukt sein. Die Konsequenzen für viele Demonstranten, die sich öffentlich gegen die Rechtmäßigkeit der Wiederwahl aussprachen, waren zum Teil drastisch. Trotz des Ärztemangels in Belarus leistete sich der Staat den Luxus, vielen Ärzten zu kündigen oder die laufenden Verträge nicht zu verlängern, wenn sie sich gegen die willkürliche Gewalt der Staatsorgane aussprachen.

Die Triathletin Valentina Zelenkevich, zweimalige Meisterin des Sports, verlor im August 2020 ihren Job und muss zur Zeit versuchen, in Moskau mit einem monatlichen Gehalt von 65 Dollar zu überleben. Die Kulturschaffenden, von denen am Ende 1200 eine Petition unterschrieben haben, in der gefordert wurde, die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen zu revidieren, die Gewalt zu stoppen, keine schwarzen Listen mehr zu führen und den Druck auf Kulturschaffende zu stoppen, wurden zumeist entlassen oder sie kündigten selbst. Die belarusischen Botschafter Vladimir Astapenko in Argentinien und Igor Leshchenya in der Slowakei traten aus Protest von ihrem Amt als Botschater zurück. Viele bekannte und unbekannte Belarusen verzichteten auf ihre Privilegien und protestierten gegen die Gewalt durch den Staat.

Im heutigen Belarus kann man für die weiß-rot-weiße Flagge verhaftet und verurteilt werden. Im Jahr 2021 gab es bis Mitte Mai etwa 2700 politisch motivierte Anklagen. Damit man eine Ahnung davon erhält, was sich hinter solchen Zahlen verbirgt, erfolgt eine Auswahl der Verhaftungen und Verurteilungen eines Monats.

2.1. Zerstört die Gefängnismauern
(Sergei Kosmas & Sergei Tikhonovsky)
(Freier Chor, Juni 2021)

Gemeinsam halten wir leichter durch und Solidarität – auch aus anderen Ländern –
ist und bleibt die stärkste Waffe in der dunkelsten Zeit der belarusischen Geschichte.
Wir haben keine Angst, für das, was wir tun, bestraft zu werden,
denn wir sind sicher, dass wir die Wahrheit auf unserer Seite haben.
Eines Tages werden wir gewinnen, auch wenn es uns viele Anstrengungen,
verlorene Gesundheit, Inhaftierung kosten wird.
Igor Bancer, Interview in der taz

5. Mai - Der russische Bürger Yegor Dudnikov (20) wurde verhaftet. Ihm drohen bis zu drei Jahren Haft wegen Verstoßes gegen §342 des Strafgesetzbuches (Organisation von Aktionen, die grob gegen die öffentliche Ordnung verstoßen). Dudnikov war vor einem Jahr nach Minsk gezogen, weil er sich in eine Frau verliebt hatte. Er hatte in Minsk sein Geld als Synchronsprecher und Sänger verdient. Bei seiner Verhaftung wurde auch sein Mikrophon konfisziert. Seine Mutter kommentierte die Verhaftung: "Um ehrlich zu sein, dachte ich nicht, dass das Vorhandensein eines Mikrophons ein ausreichender Grund für eine Inhaftierung sein könnte." Die Tatsache, neben Cartoons hatte Dudnikov auch Videos der Opposition synchronisiert, wurde mit den Worten kommentiert: "Das ist dasselbe, als würde man einen Taxifahrer inhaftieren, weil er einen Oppositionellen mitgenommen hat."

9. Mai - Die "Rekordhalterin" Anastasia Perevoshchikova aus Homel wurde aus der Haft entlassen. Sie war bereits 7x verurteilt worden und saß insgesamt 105 Tage in Haft. Am Tage ihrer Entlassung achteten ihre Eltern sorgsam darauf, dass sie nicht von mehr als zwei Freunden und Verwandten gleichzeitig begrüßt wurde, damit sie nicht erneut wegen der Teilnahme an einer unerlaubten Massenveranstaltung verurteilt werden kann.

12. Mai - Auf der Basis von §24.23 des Verwaltungsgesetzbuches wurde ein Mann in Minsk am 12. Mai verhaftet und zwei Tage später zu 15 Tagen Haft verurteilt. Er hatte in seinem Auto einen rosa Pantoffel mit einem weißen Streifen hängen. Der Verurteilte konnte daher nicht zur geplanten Operation in das Wissenschafts- und Praxiszentrum für Onkologie erscheinen.

12. Mai - Gegen das Mitglied des Koordinationsrats Maria Kolesnikova wurde Anklage erhoben. Die Anklagepunkte lauteten §361.3 (Aufrufe zum Handeln gegen die nationale Sicherheit), §357.1 (Verschwörung zur Eroberung der Staatsmacht mit verfassungswidrigen Mitteln), §361.1 (Gründung und Führung einer extremistischen Gruppe). Ihr drohen bis zu 12 Jahre Haft. Koslenikova erklärte am gleichen Tag: "Ich bereue meine Entscheidung auch jetzt keine Sekunde."

12. Mai - Die Journalisten Alexander Burakov und Vladimir Laptsevich wurden verhaftet. Beiden wird vorgeworfen, an einer nicht genehmigten Veranstaltung teilgenommen zu haben. Sie berichteten nach ihrer Haft, 20 Tage lang auf nackten Brettern geschlafen zu haben. Sie wurden gezwungen, sich auszuziehen, auf dem Korridor Dehnübungen zu machen, während ihnen von Wärtern auf die Beine geschlagen wurde. Als freier Mitarbeiter berichtet Burakov unter anderem für DW.

13. Mai - Alexei Sanchuk erhielt 6 Jahre Zwangsarbeit. Er wurde wegen Verstoßes gegen §342.1 (Teilnahme an nicht genehmigten Veranstaltungen), §13.2 und §293.3 (Bildung oder sonstige Ausbildung zur Teilnahme an Unruhen) des Strafgesetzbuchs verurteilt. Zudem erhielt er eine Geldstrafe von 52600 Euro. Ihm wird vorgeworfen, mit seinem Schlagzeug bei Demonstrationen den Bürgern das Klatschen beigebracht und zur Teilnahme an Massenveranstaltungen animiert zu haben. Das Klatschen störe den Frieden der Bürger, so urteilte das Gericht.

13. Mai - Der Rentner Jozef Nemero, der am 6.9.2020 an einer friedlichen Demonstration in Grodno teilnahm, wurde zu 1,5 Jahre Zwangsarbeit verurteilt. Als die Ordnungskräfte die Demonstration gewaltsam auflösten, sah Nemero, wie zwei Bereitschaftspolizisten eine Frau über den Boden schleiften. Einem der beiden Polizisten trat er in den Hintern und rief: "Lass los!".

13. Mai - Jugendliche, die sich abends am 11. Mai an einem See in Minsk getroffen und eine weiß-rot-weiße Flagge von Belarus mit sich führten, erhielten zwischen 5 und 15 Tagen Haft.

13. Mai - Die Journalistin Tatyana Kapitonova wurde wegen Teilnahme an einer nicht genehmigten Handlung verhaftet und für 10 Tage verurteilt. Sie hatte ihren Beruf ausgeübt und Photos gemacht.

14. Mai - Alexander Kordjukow wurde zu 10 Jahren Haft wegen versuchten Mordes an einem Sicherheitsbeamten verurteilt. Alexander Kordjukow bekannte sich nicht schuldig und beteuerte, zum Zeitpunkt des Mordes an seinen Freund nicht am Tatort gewesen zu ein. Der von den Sicherheitskräften erschossene Gennady Shutov wurde posthum für schuldig befunden, gegen den Sicherheitsbeamten wurde nicht einmal eine Untersuchung eingeleitet. Auf die Verkündung des Strafmaßes für den Toten verzichtete der Oberste Gerichtshof.

14. Mai - In Minsk begann der sogenannte Studenten-Prozess gegen Ksenia Syromolot, Maryja Kalenik, Viktoryja Hrankouskaja, Anastasija Bulybenka, Kasia Budko, Yana Arabeika, Yegor Kanetsky, Hleb Fitzner, Illja Trakhtenberh, Tatyana Ekel'chyk, Olha Fylatchenkova und Alana Hebremaryam. Diese Studenten und Studentinnen wurden am 12. November 2020 verhaftet. Sie wurden wegen Verstoßes gegen §342.1 des Strafgesetzbuches (grober Verstoß gegen die öffentliche Ordnung, Ungehorsam gegen gesetzliche Bestimmungen von Regierungsbeamten, Störung der Arbeit von Institutionen) angeklagt. Seit den Verhaftungen setzen viele ihr Studium in der Ukraine, Polen oder in Litauen fort. Dem zu drei Jahren Zwangsarbeit verurteilten Artem Vinokurov, der während der Wahl unabhängiger Beobachter war, gelang die Flucht ins Ausland.

14. Mai - Denis Urad wurde zu 18 Jahren Haft im Hochsicherheitstrakt verurteilt. Er hatte einen Brief des Innenministers an den Verteidigungsminister photographiert. Der photographierte Brief dokumentierte einen Bruch der belarusischen Verfassung. Er bewies den Befehl zum Einsatz des Militärs gegen die Protestierenden. Seine Frau kommentierte das Urteil mit den Worten: "Ich dachte, dass die Armee das Volk nicht bekämpfen sollte."

14. Mai - Dmitry Grishchenko - ein Mitarbeiter von Belorusneft - wurde festgenommen. Sechs Mitarbeiter von Belorusneft hatten im Oktober 2020 Videobotschaft aufgenommen, in der sie gegen die Gewalt und Gesetzlosigkeit in ihrem Land protestierten. Alle wurden entlassen, wogegen Grishchenko einen Tag später öffentlich protestiert hatte.

16. Mai - Eine Gruppe Jugendlicher wollte ein Fahrradrennen veranstalten. Einer der Beteiligten trug ein regierungskritisches T-Shirt. Es wurden 15 Personen festgenommen, der Rest der Beteiligten konnte fliehen.

17. Mai - Die 56jährige Tatjana Mikhailova wurde zu 15 Tagen Haft verurteilt. Die Verurteilung wurde mit §24.23 des Verwaltungsgesetzbuchs (unbefugte Streikposten) sowie mit dem Niederlegen von Blumen begründet. Mikhailova bestreitet, an diesem Tag in der Nähe des Komarovsky-Marktes gewesen zu sein. Ihre Tochter wurde im April wegen Verstoßes gegen den gleichen Paragraphen für 30 Tage Haft verurteilt. Sie ging mit einem weiß-roten Regenschirm spazieren.

17. Mai - Mikhail Rusak - ein Rentner aus dem Dorf Chenki - erhielt wegen eines roten Streifens auf einem weißen Ziegelzaun vor seinem Haus eine Geldstrafe. Begründet wurde dies mit §22.9 des Verwaltungsgesetzbuches (Unerlaubte Neuausstattung, Neuanstrich oder sonstige Veränderung von Balkonen, Loggien und anderen architektonischen und strukturellen Elementen der Fassaden von Wohngebäuden, anderen Gebäuden und Bauwerken).

20. Mai - Jegor Jemeljanov wurde wegen §19.1 (Rowdytum) und §24.3 (Ungehorsam gegen die Polizei) des Verwaltungsgesetzbuches verhaftet und für 30 Tage verurteilt. Jemeljanov war am 10. August 2020 von seinem Polizeidienst zurückgetreten, weil er sich nicht an der gewaltsamen Auflösung von Demonstrationen beteiligen wollte. In der Haft teilen sich 5 Gefangene eine Zelle, die für 3 Personen ausgelegt ist. Alle mussten auf dem Betonboden schlafen, während das Licht die ganze Nacht eingeschaltet war.

21. Mai - Der 4. Prozess gegen Demonstranten, die am 13. September 2020 an der Kreuzung der Masherov-Allee und des Kosmonauten-Boulevards in Brest einen Protestkreis (Photo) aufführten, endete mit folgenden Urteilen: 5 Jahre: Mark Bondaruk; 4,5 Jahre: Mark Sokolnikov; 4 Jahre: Maksim Zinevich, Vladimir Rubashevsky, Vyacheslav Kostyuchik, Viktor Panteleev, Denis Marusevich, Mikhail Kalishuk, Vitaly Bandarenka; 3,5 Jahre: Andrey Grishuk, Simon Kontsevych. Die minderjährigen Eduard Kudynyuk und Aleksandr Vinyarskiy erhielten 3 Jahre in einer "Bildungskolonie".

24. Mai - Dmitry Kulakovsky schluckte in der Haft einen Metalllöffel. Der ehemalige Polizist, der im August 2020 aus der Polizei austrat, weil er das Vorgehen der Behörden nicht unterstützen wollte, wurde im Februar 2021 zu 2 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, weil er einen Polizisten beleidigt haben soll. Kulakovsky berichtet, er müsse in der Haft auf dem Betonboden schlafen.

25. Mai - Der Politiker Pavel Sevyarynets, Evgeny Afnagel und Andrei Voynich wurden zu 7 Jahren Haft im Hochsicherheitsgefängnis verurteilt, Pavel Yukhnevich, Dmitry Kozlov (Blogger "Gray Cat") und Maxim Vinyarsky erhielten 5 Jahre, Irina Schastnaya 4 Jahre. Das Urteil wurde mit §293 Strafgesetzbuch (Organisation und Teilnahme an Massenaufständen) begründet.

25. Mai - Die Staatsanwaltschaft forderte 5 Jahre Zwangsarbeit für Anastasia Gerilovich. Sie hatte im September 2020 einem Polizisten in Zhodino die Maske vom Gesicht gerissen, der zuvor einer anderen Frau ins Gesicht geschlagen hatte (Video).

25. Mai - Der IT-Spezialist Alexei Korotkov wurde wegen Vorbereitung und Durchführung von Massendemonstrationen zu zwei Jahren Haft verurteilt. Sein Anwalt sagte während der Verhandlung: "Vor Gericht gab es keine Beweise, bei den Ermittlungen wurde nichts gefunden." Am ersten Verhandlungstag berichtete Korotkov über seinen Urgroßvater, der als Partisan gegen die Deutschen kämpfte und einer der Befreier von Berlin war: "So wie mein Urgroßvater Lukyan auf den Sieg über den Faschismus gewartet hat, bin ich sicher, dass ich auf den Sieg über Gesetzlosigkeit und Ungerechtigkeit warten werde, das Journalisten verfolgt, weil sie die Wahrheit sagen."

25. Mai - Der 18jährige Dmitry Stakhovsky, dem die Teilnahme an Massenunruhen (§293,2 Strafgesetzbuch) vorgeworfen wird, beging Selbstmord.

25. Mai - Die Wohnung des ehemaligen Richters Alexei Patsko wurde durchsucht. Patsko war am 10. August 2020 von seinem Richteramt zurückgetreten, weil er Urteile gegen geschlagene Angeklagte fällen sollte, von denen einige getragen werden mussten, weil sie selbst nicht mehr gehen konnten. Danach konnte er 8 Monate lang keine Arbeit finden. Patsko selbst ist vermutlich ins Ausland geflüchtet, seine Mutter wurde verhaftet.

26. und 28. Mai - Svetlana Gevaidzyan-Rogova (53) wurde wegen Teilnahme an einer Demonstration im Stadtviertel Sukharava von Minsk zu 15 Tagen, Natalia Dyrikova (54) und Svetlana Aganova (41) zu 10 Tagen Haft verurteilt. Irina Malets (47) erhielt eine Geldstrafe von 5800 Rubel (ca. 1875 Euro), weil sie die Demonstration aus dem 12. Stock gefilmt hatte.

26. Mai - Der in der Haft gestorbene politische Gefangene Vitold Ashurk wurde beerdigt. Er starb am 21. Mai. Sein Körper wies zahlreiche Verletzungen auf. Die Staatsmacht behauptete, Ashurk habe sich geweigert, gesundheitliche Hilfe anzunehmen.

28. Mai - Ein Gericht in Moskau hat entschieden, Andrei Kazimirov wird an Belarus ausgeliefert. Kazimirov ist seit dem 14. Januar in Russland inhaftiert. Ihm wird vorgeworfen, am 9. August an einer Demonstration in Brest teilgenommen zu haben. Danach wurde er mehrmals von der Bereitschaftspolizei geschlagen, konnte danach aber nach Russland fliehen.

28. Mai - Leonid Sudalenko wurde gemäß Artikel 342,1&2 des Strafgesetzbuches (Organisation und Finanzierung von Massenunruhen) angeklagt. Sudalenko hatte im Winter einer großen Familie Brennholz geschenkt und einer weiteren Person aus Homel nach der Entlassung aus der Isolierstation geholfen. Das war für die belarusische Justiz hinreichend für eine Anklage un Berurteilung.

30. Mai - Iryna Novik - Redakteurin des regionalen Portals Hrodna.life - wurde festgenommen. Zwei Tage zuvor wurde der Chefredakteur Aleksey Shota kurzzeitig festgenommen. Ihr wurde ein Verstoß gegen Artikel 19.11 des Verwaltungsgesetzbuchs vorgeworfen, weil auf der Webseite von Hrodna ein Bild mit einem Wasserzeichen des als extremistisch eingestuften Telegram-Kanals veröffentlicht worden war.

31. Mai - In Baranovichi wurde ein 31jähriger Mann, der in einem Buch im betrunkenen Zustand beleidigende Kommentare über den Präsidenten Lukashenka geschrieben hatte, auf der Basis des §368 des Strafgesetzbuches (öffentlichen Beleidigung des Präsidenten der Republik Belarus) zu zwei Jahren Zwangsarbeit im offenen Vollzug verurteilt.

31. Mai - Die 78jährige Rentnerin Galina Ivanova wurde zu einer Geldstrafe von 4350 Rubel (1400 Euro) verurteilt. Sie hatte am 16. Mai eine Blume an einem improvisierten Denkmal unweit des Sterbeortes von Alexander Taraikovsky niedergelegt. Taraikovsky wurde am 10. August 2020 von Polizisten erschossen, als er mit erhobenen Händen auf sie zukam.

Juni - Der belarusische Musiker, Fan des FC St. Pauli und Frontman der Punkrock-Band Mister X Igor Bancer trat seine achtmonatige Strafe zur Zwangsarbeit an. Im März machten die Fans des FC St. Pauli mit einem Banner auf das Schicksal von Bancer aufmerksam, dem Rowdytum vorgeworfen wird. Er hatte vor einem Polizeiwagen seine Hose heruntergezogen. Im September 2020 gab Bancer der taz ein Interview über die Gewalt des Staates gegen das Volk.

1. Juni - Selbstmordversuch von Stepan Latypov im Minsker Gerichtssaal. Ihm wurde gedroht, ein Strafverfahren gegen seine Verwandten und Nachbarn werde eröffnet werden, wenn er seine Schuld nicht eingesteht. Der ehemalige Gefängnisarzt und Psychologe Vasily Zavadsky urteilte, Latypovs Tat sähe wie ein verzweifelter Versuch aus, um zu zeigen, was mit ihm in der Haft passiere. Latypov wurde im September 2020 am berühmten Wandgemälde "DJs of change" festgenommen. Ihm wurde ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung sowie Betrug vorgeworfen. Seit dem 11. April teilte sich Lapyrov eine Zelle mit geistig Behinderten.

1. Juni - Der Journalist Dmitry Ruto von tribuna.com wurde festgenommen. Er hatte in seinem Auto einen rot-weiß-roten Fanschal. Darüber hinaus wird ihm ein Verstoß gegen den Artikel 24.23 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten (Verstoß gegen das Verfahren zur Organisation oder Durchführung von Massenveranstaltungen) vorgeworfen.

1. Juni - Denis Ivanov wurde an seinem Arbeitsplatz inhaftiert und wegen Ungehorsam erneut zu 15 Tagen Haft verurteilt. Im Herbst vergangenen Jahres erhielt er bereits 15 Tage, im Januar 7 Tage.

2. Juni - Dmitry Furmanov (2 Jahre), Evgeny Roznichenko (3,5 Jahre) und Vladimir Kniga (4 Jahre) wurden in Grodno unter dem Vorwurf der aktiven Teilnahme an Aktionen, die die öffentliche Ordnung grob verletzen, zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Roznichenko und Kniga wurden zudem der Gewalt gegen die Sicherheitskräfte für schuldig befunden. Die Angeklagten waren nicht geständig.

2. Juni - Hausdurchsuchung beim TV-Moderator Denis Dudinsky und seiner Frau Katerina Raetskaya. Beide wurden im Juli 2020 entlassen, weil er in sozialen Netzwerken über die Sinnlosigkeit der Verhaftung von Menschen geschrieben hatte. Am 12. August demonstrierte er gemeinsam mit anderen entlassenen Mitarbeitern vor dem Fernsehgebäude gegen die Zensur. Kurz vor der Hausdurchsuchung hatte Dudinsky in einem Interview erklärt, warum er seine Unterstützung der Opposition nicht bereut.

4. Juni - Yaroslav Pisarenko, Redakteur des Projekts "ChestnOK", wurde zu 15 Tagen Haft verurteilt, nachdem am Vortag eine Hausdurchsuchung durchgeführt wurde. Sein Nachbar Alexander Ivulin - ebenfalls ein Journalist - erhielt 30 Tage. Beiden wurde vorgeworfen, die weiß-rot-weiße Flagge am Fenster aufgehängt zu haben, was beide bestritten. Ivulin gilt als einer der bekanntesten Fußballblogger. Er wurde im vergangenen Jahr über den Fußball in Belarus interviewt.

7. Juni - Ein 21jähriger aus Baranovichi wurde zu einem Jahr verurteilt, weil er in der Nähe eines Geschäfts die Staatsflagge von der Wandhalterung des Gebäudes nahm und auf das Pflaster warf. Der Angeklagte war geständig.

2.2. Krieger des Lichts
(Brutto, 2014)

Dies ist ein Mord an den Medien, die von den Behörden gehasst werden.
Kirill Voloshin, Mitbegründer von TUT.by, 21. Mai

Während die staatlichen Nachrichtenmagazine Probleme haben, die Personallücken zu füllen, die durch den freiwilligen Abgang oder durch gekündigte Mitarbeiter gerissen wurden, wächst seit Mai der Druck auf oppositionelle Medien. Am 1. Juni teilte das Staatsunternehmen "Grodnenskaya Tjpografjya" der Gazeta Slonimskaya mit, aufgrund des Arbeitsvolumens und des hohen Verschleißes der Zeitungsdruckmaschine könne das Unternehmen die Zeitung bis zum Jahresende nicht mehr drucken.

Die Informations-Nachrichten auf dem Telegram-Kanal "Smargon CHAT" wurden am 13. Mai 2021 als extremistisch eingestuft. Der Hungerstreik der Journalisten Alexander Burakov und Vladimir Laptsevich aus Mogilev wurde von der Staatsmacht kommentiert: Die wegen §24.23 des Verwaltungsgesetzbuches verhafteten Personen seien keine Journalisten und sie würden auch nicht die Aufnahme von Nahrung verweigern.

Am 18. Mai 2021 wurden das TUT.by-Büro sowie die Wohnungen seiner wichtigsten Mitarbeiter durchsucht, das Büro versiegelt und die Webseite des Nachrichtenportals wurde abgeschaltet (BBC). Begründet wurde die Schließung der Seite und die Verhaftung von Mitarbeitern mit der Verbreitung von Informationen nicht registrierter Organisationen (Verstoß gegen das Gesetz für Massenmedien) und mit einer angeblichen Steuerschuld. Seit wann Journalisten für eine nicht bewiesene Steuerschuld verantwortlich gemacht werden können, erschließt sich wohl nur dem belarusische Staatlichen Kontrollkomitee (KGK). 14 Mitarbeiter von TUT.by sowie die Witwe des Gründers wurden verhaftet. In einer gemeinsamen Erklärung protestierten belarusische Menschenrechtsorganisationen gegen den staatlichen Willkürakt, über den viele ausländische Medien berichteten.

3,3 Mio Nutzer informierten sich auf dem Onlineportal von TUT.by, dem bereits im Dezember 2020 der Status eines Massenmediums aberkannt wurde. Schon vor dem Verbot des Nachrichtenportals TUT.by inhaftierte die Staatsmacht deren Journalisten. Lyubov Kasperovich wurde am 14. Mai festgenommen, als sie über den Prozess gegen die Studenten berichten wollte. Nach 15tägiger Haft entlies man Kasperovich.

Der Verdächtige ging [...] eine kriminelle Verschwörung mit einem Vertreter des
Internetmagazins TUT.by ein, die über die Ergebnisse der ärztlichen Untersuchung
von Roman Bandarenka informiert wurde. So hat er medizinische Geheimnisse
preisgegeben und gleichzeitig falsche Informationen geliefert.
Der Generalstaatsanwalt über den inhaftierten Arzt Arzjom Sorokin

Einen Tag nach Abschaltung der Internetseite wurde die TUT.by-Journalistin Katsiaryna Barysevich aus der Haft entlassen, die seit dem 19. November 2020 inhaftiert war. Sie hatte einen Artikel über den Mord an Raman Bandarenka veröffentlicht, der von OMON-Sicherheitskräften in Zivil am 11. November erschlagen wurde. Nachdem die Staatsmacht am Wochenende zuvor härter als sonst durchgriff und über tausend Demonstranten verhaftet hatte, gingen Siloviki in Zivil und maskiert am 11. November gegen 22.00 Uhr in der Nähe des Platzes der Veränderungen auf einen Innenhof, um unter den lautstarken Protest der Anwohner die weiß-rot-weißen Bänder zu entfernen. Der Künstler Bandarenka lebte in einem der umliegenden Wohnblöcken und ging angesichts des Krachs wie andere Anwohner in den Innenhof. Wie schon in der Vergangenheit versuchten die OMON-Angehörigen in Zivil die Menschen zu provozieren. Nach Augenzeugenberichten wurde Bandarenka um 22:16 Uhr tätlich angegriffen und direkt danach verhaftet. Um 0:05 Uhr wurde er in einem kritischen Zustand ins Krankenhaus eingeliefert und verstarb am 12. November an seinen Kopfverletzungen.

Die Staatsmacht behauptete, Bandarenka sei an dem Abend betrunken gewesen. Die Gerichtsreporterin von TUT.by bereitete zusammen mit dem Arzt Arzjom Sorokin einen Artikel vor, der belegte, Bandarenka hatte an diesem Abend keinen Alkohol getrunken.

Am 27. November wurde Katsiaryna Barysevich zusammen mit dem Arzt Arzjom Sorokin verhaftet. Beide sollen gegen §178.3 des Strafgesetzbuches (Offenlegung von Medizingeheimnissen) verstoßen haben. Im März wurde sie deshalb zu einer sechsmonatigen Haftstrafe verurteilt. Sorokin erhielt 2 Jahre.

Aber was ist meine Schuld? Als Journalist habe ich sechs Monate für einen Artikel bekommen.
Katsiaryna Barysevich, 27. Mai 2021

Nach ihrer Freilassung berichtete Barysevich, die beiden Zellenmitbewohnerinnen hätten sich darüber amüsiert, politische Extremisten müssten Handschellen tragen, wenn sie die Zellen verlassen. Die beiden wegen Mordes zu 9 bzw. 10 Jahren verurteilten Zellengenossinnen durften sich innerhalb des Gefängnisses ohne Handschellen bewegen.

Nicht nur Barysevich wurde verhaftet. Am 15. November berichteten die Belsat-Journalistinnen Katerina Bachvalowa und Daria Tschulzova über eine Kundgebung zum Gedenken an Bandarenka und erhielten dafür im Februar zwei Jahre Zwangsarbeit (Organisation von Massenaktionen und Störung der öffentlichen Ordnung). Welche Dimensionen die Repressalien haben, kann man daran erkennen, am 23. November 2020 stieg die Zahl der seit der Präsidentschaftswahl festgenommenen Personen auf über 30000.

2.3. Heia Popeia
(Dai Darohu!, 2020)

"Das ist empörend und zeigt das archaische Denken [der belarusischen Regierung],
das nicht versteht, dass wir jetzt in einem Zeitalter der freien Medien leben
und dass es eine internationale öffentliche Meinung gibt, die solche Methoden
nicht mehr akzeptiert"
Abu Marzuk
(Die palästinensische Hamas verurteilte Minsk, weil sie den Konflikt zwischen
Palästina und Israel für die Verhaftung Raman Protasevychs instrumentalisiert)

Am 23. Mai 2021 landete der Ryanair-Flug 4978 aus Athen aufgrund einer Bombendrohung in Minsk statt in Vilnius. An Bord befanden sich Raman Protasevych und seine Freundin. Protasevych äußerte gegenüber einem Mitreisenden die Beobachtung, er wurde bereits beim Einchecken am Athener Flughafen von einem KGB-Agenten observiert.

Protasevych wurde in Minsk verhaftet und einige Tage später in einem 90minütigen "Interview" im belarusischen Staatssender ONT zu demütigenden Statements gebracht, die das belarusische Staatsfernsehen übertrug. Protasevychs Aussage, Lukashenka verdiene Respekt für seine 26jährige Amtszeit und er habe Eier aus Stahl, ist ein Eingeständnis Lukashenkas, für wie gefährlich er seinen Gefangenen und NAKhTA hält. Der Psychologe Alexei Filatov erklärt, bei dem Interview ist die Taktik des bösen und des guten Polizisten angewendet worden. Direkt vor dem Interview dürfte Protasevych von einem Bad Cop verhört worden sein, bevor Murat Markov - Vorstandsvorsitzender des Zweiten Nationalen Fernsehsenders - in der Rolle des Good Cop ein langes Gespräch mit ihm führte. Am 3. Juni zeigte der weißrussische Staatssender ONT in Markovs Sendung "Nichts Persönliches" 90 Minuten lange Auszüge aus dieser aufgezeichneten Publizität der Gesetzlosigkeit, welches man nicht als Interview bezeichnen kann.

Für einen Tyrannen ist es wichtig, nicht nur seine Macht
zu zeigen, sondern auch das Opfer öffentlich zu demütigen.
Ilya Stakheev, Novaya Gazeta

Marat Markov war vor seiner TV-Karriere stellvertretender Leiter der ideologischen Abteilung der Präsidialverwaltung. Seit März 2017 leitet er den staatlichen TV-Sender ONT. Heute ist er unter anderem Mitglied der Kommission für Informationssicherheit des Sicherheitsrats, die am 29. August fast allen in Belarus arbeitenden ausländischen Medienjournalisten die Akkreditierung entzog. Nach der Wahl und nach der brutalen Niederschlagung der Proteste traten 80 der 300 Mitarbeiter des staatlichen Senders ONT zurück oder ihnen wurde gekündigt. Mehrere dieser Mitarbeiter sagten, sie seien von Markov massiv bedroht worden.

Und wir erleben jetzt eine Überdosis. Aus dieser Menge an Informationen
ist es das Wichtigste, sich nicht vergiften zu lassen, wir müssen lernen,
nützliche "Nahrung" für uns selbst zu isolieren.
Marat Markov über Telegram-Kanäle und über TV, 2. April 2021

Veröffentlichte Videos mit Gefangenen unter Zwang sind in Belarus nichts Neues. Der ehemalige Leiter des Wahlkampfbüros von Uladzimir Nyaklyaeu Andrei Dmitriev wurde 2011 ebenfalls zu einer demütigenden Stellungnahme gezwungen. 2013 erzählte er, das Video wurde unter Zwang aufgenommen. Unter anderem wurde er mittels seiner späteren Frau unter Druck gesetzt. Der am 12. November 2020 Blogger Mikalaj Dordjuk beantwortete im belarusischen Staatsfernsehen in einem ähnlichen Schauspiel Fragen, die noch nicht einmal gestellt wurden.

Damit nicht genug. Lukashenka erlaubte es Ermittlern der Volksrepublik Luhansk, nach Minsk zu reisen, um Protasevych zu verhören. Was man in der selbsternannten Volksrepublik Luhansk unter Rechtstaatlichkeit versteht, zeigt ein 2014 aufgenommenes Video eines "Volksgerichts". Der ehemalige Anführer der pro-russischen Prizrak-Brigade Aleksey Mozgovoy, der von einigen Linken wie zum Beispiel Borotba als Sozialist und Kämpfer gegen den Faschismus gefeiert wird, ordnete die Rolle der Frau während der Gerichtsverhandlung folgendermaßen ein:

Wenn du deinem Mann gegenüber rechtschaffen und treu bleiben willst,
bleib zu Hause und stick was Schönes. Ich wiederhole also noch mal, alle Polizeieinheiten
bekommen ab sofort ein Sonderbefehl: Alle Mädchen verhaften, die sich in Kneipen aufhalten.
[...] Es ist Zeit, dass ihr euch daran erinnert, dass ihr Russen seid!
Es ist Zeit, dass ihr euch an eure Geistigkeit erinnert!"
Aleksey Mozgovoy 2014 während einer Gerichtsverhandlung

Die Angeklagte wurde in diesem Schauprozess aufgrund des Besuchs in einem Café verurteilt.

Im Westen gibt es wenig Wissen über Druckmittel eines totalitären Staates. Lukashenka sieht sich selbst in einer sozialistischen Tradition. Es gab 1966 einen sensationellen Strafprozess in der UdSSR. Es war der erste Strafprozess auf dem Boden der UdSSR seit über 40 Jahren, in dem sich die Angeklagten nicht schuldig bekannten. Andrei Sinyavsky und Yuli Daniel wurden in einem Schauprozess wegen Verstoßes gegen Art. 70 des Strafgesetzbuches der RSFSR verurteilt. Der Vorwurf der "antisowjetischen Agitation und Propaganda" wurde damals in den Staatsmedien gegen die Angeklagten erhoben.

Begleitend zur Festnahme von Protasevych läuft die Diffamierungskampagne an. Kurz nach der Verhaftung enthüllte der ukrainische Blogger Sharyj eine angeblich faschistische Einstellung Protasevychs. Es gehört zum Repertoire der Staatsmacht in Belarus und in Russland, politische Gegner als Faschisten zu diskreditieren. Der Verdacht allein reicht, wie absurd er auch sein mag. Auch nach mehreren Wochen gibt es keinen Beweis für Protasevychs Teilnahme an Kampfhandlungen im Regiment Azov. Viele Indizien sprechen dagegen. Protasevych selbst sprach noch 2020 davon, er habe als Journalist ein Jahr über den Krieg in der Ukraine berichtet, Seine Mutter schließt es aus, ihr Sohn habe gekämpft, sein Vater bekräftigt ebenfalls die Rolle Ramans als Berichterstatter. Protasevych als Kämpfer bei Azov klingt ohnehin absurd. Das Bataillon Azov bestand 2014 aus 850 Soldaten und in ihm dienten Freiwillige, die eine militärische Ausbildung hatten. Die fehlt Protasevych. Zudem dürfte Azov eine solche Person wie Protasevych kaum in seinen eigenen Reihen aufgenommen haben. Ein Soldat wird mit den Worten zitiert:"Ich erinnere mich an ihn in Urzuv. Da war so ein Kerl, jung. Biletsky traute ihm nicht." Selbst wenn Protasevych entgegen bisheriger Erkenntnisse aktiv in einer anderen Einheit an Kampfeinsätzen teilgenommen haben sollte, mit seiner Festnahme in Minsk hatte es nichts zu tun.

Eine Verunglimpfung ohne Beweise hat Methode. Die im Westen unbekannte Geschichte in der Sowjetunion bietet viele Beispiele dafür. Die Initiatoren des Protestbriefes 139 beriefen sich auf die sowjetische Verfassung und wurden als Banderovskyj verunglimpft. Die Hippiebewegung Anfang der 1970er in Litauen und in der Ukraine wurden als Faschisten bezeichnet. Jimi Hendrix und The Doors als Idole des Faschismus - auf eine solche Idee kann nur eine erzkonservative und spießbürgerliche Gesellschaft kommen. Nichts anderes war der real existierende Sozialismus. Nichts anderes will auch Lukashenkas Regime seit nunmehr 27 Jahren. Schauprozesse oder öffentliche Demütigungen dienen der öffentlichen Herabwürdigung des Opfers. Schuldbekenntnisse sind Teil dieser Taktik. Bucharin erwiderte 1938 dem Ankläger Vyshinski, Geständnisse der Angeklagten als wichtigster Beweis für ihre Schuld sei ein "mittelalterliches juristisches Prinzip". Der Konsument des belarusischen Staats-TVs bekommt es serviert.

Was ist der Grund dafür, Lukashenka riskiert diplomatische Konsequenzen, um einen Journalisten spektakulär zu verhaften? Protasevych war bis September 2020 der Chefredakteur von NAKhTA. Dieser Telegram-Kanal betrieb journalistischen Aktivismus und verstand sich auch als revolutionäres Verbreitungsmedium. Die Verhaftung und öffentliche Demütigung ist wohl eher als Racheaktion Lukashenkas für die Demonstrationen gegen die Wahlfälschung zu verstehen. Ob Protasevych sich aus Angst vor Repressalien im September 2020 aus der Redaktion von NAKhTA zurückgezogen hat, oder weil die Art des Protestes hatte sich gewandelt. Für ein schnelles Medium wie NAKhTA gab es keinen Bedarf mehr, ist spekulativ.

Im Westen blieb die Rolle von NAKhTA nahezu unbeachtet. Ich habe meine Artikel über Belarus damals nicht mit Links dieses Telegram-Kanals versehen, da ich die schnellen und zuweilen manipulativen Medien sehr kritisch sehe. NAKhTA war Teil des Widerstands und bildete in den ersten zwei Wochen die Spitze der Medien, die das System Lukashenka herausgefordert hatte. Die Staatsgewalt in Form des Knüppels der OMON und anderer Sicherheitskräfte schien zeitweise zu erlahmen. Die Staatsmacht selbst war machtlos. Normale Passanten wurden angehalten und mussten den Sicherheitskräften zeigen, ob sie die Telegram-App auf dem Smartphone installiert hatten. Das reichte für eine Verhaftung.

3. Komm raus für einen Spaziergang
(Kasta, 2020)

Manchmal ist einem nicht nach Gesetzen.
Aleksandr Lukashenka, 10. September 2020

Das System reagiert mit zahlreichen Gesetzesänderungen und Verordnungen auf die anhaltenden Proteste der Bevölkerung. Ein Referendum über Verfassungsänderungen ist für den Februar 2022 angekündigt. Angesichts der Schließung der größten unabhängigen Medien ist zu erwarten - einen Zugang zu offenen Informationen wird es in Belarus nicht geben. Dieses geplante Referendum kann man als Versuch deuten, die verlorene demokratische Legitimität zurückzugewinnen. Aber es ist nicht einmal sicher, ob Lukashenka sich traut, angesichts des nicht enden wollenden Widerstandes dieses Referendum überhaupt durchzuführen.

Sicher ist, die Gesetzesänderungen zeigen klar, Belarus hat mit einer Demokratie nichts mehr zu tun. Die verkündeten Gesetze geben der Staatsmacht umfassende Befugnisse und legalisieren das, was zum Teil ohnehin seit den Protesten der Bürger schon angewendet wurde. Ende Mai wurden Änderungen der Gesetze über Medien und öffentliche Veranstaltungen beschlossen. Folgendes ist nun untersagt:

  • Verlinkungen auf "verbotene" Informationen verbreiten
  • unbefugte Aktionen live zu übertragen, die eine "Popularisierung bzw. Propaganda" darstellen
  • ohne staatliche Akkreditierung politische Meinungsumfragen veröffentlichen
  • der Generalstaatsanwalt kann den Zugang zum Internet einschränken
  • Behörden können den Betrieb von Telekommunikationsnetzen einschränken, wenn die nationale Sicherheit bedroht ist
  • das Informationsministerium kann Zeitungen und Medien schließen (bisher nur nach richterlichem Beschluss erlaubt)

Es dauerte Jahrhunderte, um die deutsche Ordnung herzustellen.
Unter Hitler erreichte diese Formation ihren Höhepunkt. Dies entspricht unserem
Verständnis einer Präsidentenrepublik und der Rolle eines Präsidenten darin. [...]
Deutschland stieg seinerzeit dank einer sehr strengen Führung aus den Trümmern empor,
Nicht alles, was in Deutschland mit Adolf Hitler zu tun hatte, war schlecht."
Lukashenka am 27. November 1995 über Adolf Hitler

Im Juni wurden weitere Gesetzesänderungen verkündet, die im September in Kraft treten werden.

  • Gesetz zur "Rehabilitierung des Nationalsozialismus“: Wer wegen Verbreitung von "Nazi-Symbolen" oder wegen Besitzes derselben zum Zwecke der Verbreitung ist, dem drohen bis zu vier Jahre Haft
  • ein Verstoß gegen das "Verfahren zur Durchführung von Massenveranstaltungen" wird (im Wiederholungsfall bis 3 Jahre Haft)
  • öffentliche Beleidigung eines Amtsträgers im Zusammenhang mit der Wahrnehmung seiner Amtspflichten
  • öffentliche Aufrufe zu illegalen Massenveranstaltungen
  • Organisation von bzw. Teilnahme an Aktionen, die "die öffentliche Ordnung grob verletzen" (2-4 Jahre Haft)
  • Teilnahme an extremistischer und Unterstützung extremistischer Aktivitäten sowie Ausbildung zu solchen Aktivitäten (2-6 Jahre Haft)
  • den Polizeieinheiten ist es erlaubt, Kriegs- und Spezialausrüstung im Kampf gegen Massenunruhen einzusetzen
  • Bürgern und Journalisten ist es verboten, bei nicht erlaubten Massenveranstaltungen Videoaufnahmen zu machen oder zu photographieren

Viele dieser Maßnahmen wurde längst angewendet (Photo eines Demonstranten, der zuvor misshandelt wurde), auch wenn die gesetzliche Grundlage dazu bislang zum Teil fehlte. Wahllos wurden die Bürger geschlagen und verhaftet.

Vermutlich wird die weiß-rot-weiße Flagge als extremistisch oder gar als nationalsozialistisches Symbol eingestuft, die von der belarussischen Unabhängigkeitsbewegung ab 1917 verwendet wurde und heute ein Zeichen der Opposition ist. Bei diesen Gesetzen geht es darum, die Opposition selbst als faschistisch zu brandmarken. Lukashenka selbst sprach 1994 (Bild) seinen ersten Amtseid unter der Flagge, die er selbst mittlerweile als faschistisches Symbol brandmarkt. Historischer Unsinn, denn jede Kollaboration mit den Nazis fand unter den jeweiligen Landesfarben statt. Die französische Trikolore wurde von der Vichy-Regierung genutzt, die Russische Befreiungsarmee ROA unter dem General Vlassov kämpfte unter der heute genutzten russischen Flagge und trug zeitweise das orange-schwarze Georgsband am Ärmel. Die Flaggenphobie geht mittlerweile so weit, dass ein Bürger in den letzten Monaten 15 Tage Haft für das Aufhängen einer japanischen Flagge erhielt.

Am 7. Juni unterzeichnete Lukashenka den Erlass Nr. 206. Der besagt, der 17. September ist fortan der "Tag der Einheit des Volkes". Er nimmt Bezug auf den 17. September 1939, an dem die Sowjetische Besetzung Ostpolens begann. In der Zukunft soll in Belarus ein Tag gefeiert werden, der das Produkt des Deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes vom 23. August 1939 sowie dem Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrages vom 28. September 1939 ist. Auf einer Karte mit den damals vereinbarten Gebietsteilungen sind die Unterschriften von Stalin und Ribbentrop zu sehen.

Die herrschenden Kreise Polens brüsteten sich nicht wenig mit der ‚Stabilität‘
ihres Staates und der ‚Macht‘ ihrer Armee. Es genügte jedoch ein kurzer Schlag
gegen Polen, geführt zunächst von der deutschen Armee und danach von der
Roten Armee, damit von diesem missgestalteten Geschöpf des Versailler
Vertrages, das von der Unterjochung der nichtpolnischen Nationalitäten
lebte, nichts übrig blieb.
Vjacheslav Molotov, Rede vor dem Obersten Sowjet, 31. Oktober 1939

Begründet wird der 17. September tatsächlich mit der im Jahr 1939 wiederhergestellten Einheit des belarusischen Volkes. Für viele Belarusen ist der 25. März der eigentliche Feiertag. an dem 1918 die Belaruskaja Narodnaja Respublika ausgerufen wurde. Daran zu erinnern kann gefährlich sein. Eine demente Großmutter hatte das Datum auf die Handtasche geschrieben, an dem sie ihren Enkel abholen sollte. Beide wurden festgenommen.

Bereits am 21. Dezember 2020 wurden mit der Begründung Covid-19 massive Reisebeschränkungen beschlossen, die die Bürger als eisernen Vorhang empfinden. Seit dieser Zeit dürfen sie nur noch mit dem Flugzeug das Land verlassen. Diese Verordnung gilt auch für Ausländer, die eine Aufenthaltserlaubnis für Belarus besitzen. Selbst die Ausnahmen sind strikt geregelt. Wer zur Arbeit oder zum Studium ins Ausland will, darf maximal einmal in sechs Monaten ausreisen. Das eigentliche Ziel dieser Maßnahmen ist es, die Abwanderung von Fachkräften zu beschränken. In diesem Sinne ist auch die Änderung der Anwaltsgesetze zu verstehen. Die obligatorische 3-jährige Berufserfahrung für Rechtsanwaltsanwärter wird abgeschafft, jedoch benötigt jeder Kandidat die Zustimmung des Justizministeriums.

Eine Besonderheit von Alexander Lukaschenko ist: Wenn er von einer Bühne spricht,
dann fängt er selber an zu glauben, was er da sagt. Sonst glaubt es keiner, auch nicht
die, die in diesem Moment im Zuschauerraum sitzen. Doch er schert sich nicht um
die Reaktionen des Publikums, die Meinung der Leute oder die Reputation des Landes.
Lukaschenkos Phantasie prescht seinen Worten voraus und malt so bunte Bilder,
dass jeder Surrealist vor Neid erblasst.
Surrealismus à la Lukashenka, 26. Mai 2021
(Deutsch Dekoder; Russisch, Novaya Gazeta)

Lukashenko sieht sich selbst als den Retter von Belarus, ohne den es nicht geht. Am 9. Mai versprach er den Bürgern einen blauen Himmel und Sonnenschein, im April 2021 stellte er fest, bislang sei in Belarus noch niemand an Covid-91 gestorben und versprach, dies werde auch in der Zukunft so sein. Ende Mai kündigte er an, Belarus sei bereit, an der Grenze Zelte aufzustellen, um Einwohner der EU und der Ukraine zu impfen. Zum Zeitpunkt des Hilfsangebots waren in Litauen 36%, in Polen 35%, in Lettland 25%, in Belarus knapp 5% und in der Ukraine etwa 3% geimpft.

Die Menschen in Belarus wurden bereits früher mit einschränkenden und absurd anmutenden Gesetzen und Verordnungen konfrontiert. Im April 2015 wurde das "Dekret zur Vorbeugung des sozialen Schmarotzertums" veröffentlicht. Wer weniger als 183 Tage arbeitet, muß rückwirkend mehr als 200 Euro "Schmarotzersteuer" für das Vorjahr entrichten. Begründet wird dies mit der Nutzung staatlicher Einrichtungen wie Kliniken und Straßen. Darüber hinaus müssen diese Personen höhere Kommunalabgaben zahlen.

Im April 2021 enthüllte Lukashenka, es habe ein geplantes Attentat gegen ihn und seinen Söhnen gegeben. Politologe Alexander Feduta, der Oppositionspolitiker Grigory Kostusev und der Anwalt Yury Zenkovich werden verdächtigt, einen Putsch vorbereitet zu haben. Feduta und Zenkovich wurden im April in Russland verhaftet. Der "Putsch" sollte nach Angaben des KGB-Chefs Ivan Tertel im Sommer durchgeführt werden. Im Mai stellte Belarus Auslieferungsersuchen an die USA, Litauen und die Ukraine, ohne die Öffentlichkeit über Details zu informieren. Die Belege dafür sind ähnlich desaströs wie die Posse Anfang September 2020, als Lukashenka bei einem Besuch ein angebliches Telefongespräch zwischen einer Nika aus Berlin und einem Mike aus Warschau präsentierte, der belegen sollte, die Vergiftung Navalnys sei ein Komplott der Polen und der Deutschen gewesen.

Diese Posse sollte wohl eher ein von Lukashenka am 9. Mai unterzeichnetes Dekret über die Machtübergabe für den Fall seines Todes legitimieren. Das Dekret weist die Merkwürdigkeit auf, nur "im Falle des Todes des Präsidenten der Republik Belarus infolge eines Attentats, eines Terroraktes, einer externen Aggression, infolge anderer gewalttätiger Handlungen" in Kraft zu treten.

Das Lukashenka bereits in der Vergangenheit die Opposition verfolgt hat, sieht man an den Entführungen und Morden 1999-2000, Dmitri Pavlichenko, der Leiter der Spezialeinheit SOBR des Innenmisteriums war damals für die Taten verantwortlich. Am 10. August 2020 leitete er den Einsatz im Zentrum von Minsk, bei dem Alyaksandr Taraikovsky erschossen wurde, obwohl er mit erhobenen Händen auf die Sicherheitskräfte zuging.

Interessant ist auch die Wechselwirkung bei den Gesetzen und Verordnungen zwischen Russland und Belarus. Die Reaktion der Bürger auf das "Schmarotzergesetz" war für den Kreml angesichts der finanziellen Einbußen durch die Schattenwirtschaft der Garashniki von Interesse. Die Urteile zur Zwangsarbeit, die in Belarus mit "Chemie" bezeichnet werden, finden in den letzten Wochen ihren Widerhall bei russischen Spitzenpolitikern.

Wir wollten klauen, aber es war schon alles geklaut.
Operation "Y" und andere Abenteuer Shuriks, Spielfilm 1965

"Erinnern Sie sich an den Film über Shurik?" fragte der stellvertretende Premierminister Marat Khusnullin auf dem Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg. Khusnullin spielte auf den Film Operation "Y" und andere Abenteuer Shuriks von Leonid Gaidai an. Die Filmkomödie aus dem Jahre 1965 kennt in Russland, der Ukraine und in Belarus jeder. In der ersten Epidsode wird die Hauptfigur Shurik zu 15 Tagen gemeinnütziger Arbeit verurteilt, die in der Spätphase der Sowjetunion und auch heute noch "Chemie" genannt wird. Der Justizminister Konstantin Chuichenko unterstützte Ende Mai die Idee, Arbeitsmigranten durch Gefangene zu ersetzen. In Belarus ist diese Praxis längst üblich. Der Begriff "Chemie" zeigt, eine Arbeit in sozialen Einrichtungen ist dabei selten vorgesehen.

Weiterführende Informationen

dekoder, übersetzt und erklärt durch Gnosen russische und neuerdings auch belarusische Artikel

Informationsstelle Belarus 2021 (Facebook, Deutsch), Aktuelle Informationen zu Belarus

Tagebuch aus Minsk (Deutsch) von Janka Belarus in der taz

TUT.BY (Russisch), Telegram-Kanal des in Belarus verbotenen Nachrichtenportals

Vjasna (Englisch), listet die politischen Gefangenen in Belarus auf

Artikel

Politische Willkür in Belarus: Top Ten der absurden Verhaftungen; Janka Belarus (taz), 2.3.2021

Klage gegen Lukashenka in Deutschland - Geschichten von Gewaltopfern; Anna Stork für DW (Voice Of Belarus, Deutsch), 10.5.2021

Belarus: Unterdrückte oder verschobene Revolution?; Artyom Shraibman (LibMod), 14.5.2021

Belarus: Tagebuch einer Revolution - Was dich nicht umbringt, macht dich stärker; Kseniya Halubovich (Arte, Video), 20.5.2021

Wenn die EU jetzt nicht handelt, ist Belarus verloren, Interview mit "Juri Antonov"; Ingo Neumayer (WDR), 25.5.2021

Surrealismus à la Lukashenka (Novaya Gazeta, auf Deutsch von Dekoder übersetzt), 26.5.2021

Mindestens 15 Todesfälle im Zusammenhang mit Protesten nach den Wahlen in Belarus (Voice Of Belarus, deutsch), 27.5.2021

Diese vier Deutschen vertreten den belarussischen Diktator in Deutschland; Robert Hofmann (Vice), 28.5.2021

Exilanten-Sprecherin: "Für viele in Belarus gibt es kein Zurück mehr", Interview mit Ina Rumiantseva (Verein Razam);Florian Niederndorfer(Der Standard), 31.5.2021

Belarus: Wie berichten Journalisten aus einer Diktatur?; Mascha Rodé (Arte, Video), 1.6.2021

Belarus: Wenn die Polizei das TV-Studio stürmt (ZAPP, NDR, Video), 2.6.2021

Belarussen in Litauen - Schockiert aber nicht sprachlos; Markus Nowak (Deutschlandfunk Kultur), 3.6.2021

Belarussisches Fernsehen zeigt erzwungenes Interview mit Roman Protassewitsch (SPON), 4.6.2021

Gelbe Abzeichen, Besuchsverbote, Folter: Die Hölle politischer Gefangener in Belarus (RND, deutsch), 6.6.2021

Inhaftierte Journalisten in Belarus - "Das ist ein Krieg gegen uns unabhängige Medien"; Christina Hebel (SPON), 6.6.2021

Begriffserklärung

Chemie - Ein Begriff, der noch aus der Zeit der Sowjetunion stammt. Umgangssprachlich wird damit Zwangsarbeit im offenen Vollzug bezeichnet, die zumeist in gesundheitsgefährdenen oder gefährlichen Betrieben geleistet werden muß. Mehr über die Arten des Strafvollzuges in Belarus und auch in der Sowjetunion auf Russisch:Von der Chemie bis zum Gefängnis. Wie Verurteilte in Belarus bestraft werden

Siloviki - Von russ. Sila = Kraft.Amtspersonen in Macht- oder Gewaltbehörden. Gewöhnlich werden damit Personen des Innen- und des Verteidigungsministeriums bezeichnet. Oft sind damit generell die Eliten in Russland und Belarus benannt.Dekoder,Wikipedia

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden