Westfernsehen im Ostfernsehen

Feindaufklärer Vor 50 Jahren ging die Sendung „Der Schwarze ­Kanal“ auf Jungfernfahrt und sollte dem DFF als agitatorisches Hardcore-Programm bis zum Herbst 1989 erhalten bleiben

Sein Lebensweg war so schillernd wie der vieler Prominenter, die in den fünfziger Jahren ihre politische Heimat in der DDR finden wollten. Karl-Eduard von Schnitzler reklamierte für sich, in seinen Adern fließe blaues Blut. Er habe einen Legationsrat zum Vater, der ein illegitimer Abkömmling des deutschen Kaisers Friedrich III. (1831 - 1888) gewesen sei. Auch der Bankier Kurt Freiherr von Schröder gehörte zur Familie.

Erste journalistische Erfahrungen sammelte von Schnitzler 1944, als er – interniert in Großbritannien – für die BBC-Sendung Hier spricht der Kriegsgefangene zur Heimat schrieb. Wieder in Deutschland arbeitete er ab Sommer 1945 zunächst beim Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR), stieg rasch zum Leiter des Ressorts Politik, kurzzeitig gar zum Intendanten auf. Bald jedoch geriet er wegen seiner linken Gesinnung unter Druck, wurde 1947 wegen „unüberwindbarer Differenzen“ entlassen und ging in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) zum Berliner Rundfunk und Deutschlandsender. Dort beantragte der einstige Großbürgersohn 1948 die Aufnahme in die SED und wurde mit offenen Armen empfangen. Dem Intermezzo im Hörfunk folgten ab 1955 Jahrzehnte als Chefkommentator beim Deutschen Fernsehfunk (DFF) in Adlershof. Er selbst sah sich als einer, der den Weg aus der herrschenden in die revolutionäre Klasse gefunden hatte. Zu ergänzen wäre, er bediente die Erfahrung, dass Konvertierte in der neuen Religion immer die Orthodoxen sind.

UFA-Stars aus den Dreißigern

Vor 50 Jahren, genau am 21. März 1960, moderierte von Schnitzler erstmals für den DFF seine Sendung Der Schwarze Kanal. Am Sendeplatz, jeweils montags 25 Minuten im Anschluss an das 20.00-Uhr-Format, und an der Machart sollte sich bis zur Absetzung im Sog der Wende 1989 nichts ändern. Schnitzler zitierte das Westfernsehen in Bild und Ton, bediente sich mit Ausschnitten bei der Tagesschau wie dem einstigen Internationalen Frühschoppen, den damaligen Magazin-Sendungen Panorama, Kennzeichen D oder ZDF-Magazin und deutete die Ausschnitte in seinem Sinne. Mit anderen Worten, das Ostfernsehen setzte dem Westfernsehen den „Schwarzen Kanal“ entgegen, das auf zwei Dritteln des DDR-Territoriums auch ohne Karl-Eduard von Schnitzler zu empfangen war. Den so eingebrannten Schizophrenien in ostdeutschen Hirnen vermochte auch der Moderator in Adlershof nur bedingt zu begegnen. Die Sendung wurde gesehen. Mehr als viele Ostdeutsche heute glauben, sich erinnern zu dürfen. Sie lieferte Argumentationsraster und manchem SED-Parteiarbeiter in den Betrieben willkommene Orientierungshilfen. Subtilere Sehweisen wurden ausgespart, dazu fehlten Anlass und Hörfähigkeit so mitten im Kalten Krieg.

Zum Quotenhit gerieten stets die ersten drei bis vier Minuten des Kanals, denn jeden Montag um 20.00 Uhr gab es im DFF durch die Ausstrahlung von UFA-Filmen aus den dreißiger und vierziger Jahren für den älteren Zuschauer ein Wiedersehen mit Stars wie Heinz Rühmann, Hans Albers, Theo Lingen, Käte Haack, Brigitte Horney und was sonst aufgeboten war in den Ateliers von Potsdam-Babelsberg. Die Filme wirkten als Spediteur, um von Schnitzler für die Anfangssequenzen seines Kanals ein Millionenpublikum zu bescheren, das dann freilich rapide bröckelte. Die interne Zuschauerforschung des DFF verbuchte eine Einschaltquote von bis zu 15 Prozent, die sich mit dem messen konnten, was seinerzeit die Nachrichten der Aktuellen Kamera vorzuweisen hatten.

1988 meinte Karl-Eduard von Schnitzler in einem Interview, es gebe eigentlich nur zehn bis 15 Generalthemen, deren man sich beim Zitat aus dem Westfernsehen bedienen könne. Wer sich den „Kanal“ regelmäßig gönnte, wurde schnell fündig, was gemeint war: Arbeitslosigkeit, Mietwucher, Obdachlose, Verarmung, Kriminalität und Rauschgiftsucht rangierten ganz oben auf der Agitationsskala des Chefkommentators. Von Schnitzler attackierte Altnazis in höchsten Positionen der Bundesrepublik, richtete das Augenmerk auf SS-Traditionsverbände oder Wehr­sportgruppen, griff Wirtschaftspaten der Apartheid in Südafrika an und geißelte die Toleranz des Westens gegenüber Diktatoren wie Pinochet in Chile oder Mobutu in Zaire. Bis heute müsste von Schnitzler, der im September 2001 in Zeuthen bei Berlin gestorben ist, die Frage kaum scheuen, ob er nicht mit diesem oder jenem Recht hatte und behielt.

Erich Selbmann, langjähriger Chef des Bereichs Dramatische Kunst im DFF, resümierte Ende 1991 im Interview für eine Chronik des Ostfernsehens: „Ende der siebziger Jahre ­wurde im ‚Kanal‘ aus der Personenkritik an bestimmten Politikern zunehmend eine all­gemeine Systemkritik. Dadurch erhielt die Sendung immer mehr den Charakter des kategorischen Nörgelns und löste bei den DDR-Zuschauern die Frage aus: Ja, wenn das alles so ist, warum ist der Wohlstand höher? Weshalb gibt es mehr Freizügigkeit und eine frei konvertierbare Währung? Das heißt, der Schwarze Kanal warf mehr Fragen auf, als dass er Antworten gab.“

In seinem Aufsatz Von der guten Sache und den schlechten Mitteln hatte einst der Dichter und erste DDR-Kulturminister Johannes R. Becher geschrieben: „Wer eine gute Sache mit schlechten Mittel vertritt, verbündet sich mit der schlechten Sache.“ Ob Karl-Eduard von Schnitzler Protagonist einer guten Sache war, darüber kann man streiten – dass er sie mit teils untauglichen Mitteln vertrat, kann als unumstößlich gelten. Der Anchorman wollte historischen Optimismus verbreiten, wirkte aber verkrampft, oberlehrerhaft, zuweilen zynisch, selten überraschend. Heiterkeit ging regelmäßig in Häme über. Selbst wenn er salbungsvoll sein wollte, sprach daraus unterdrückte Wut. Nur wenig Entlastung bot der Umstand, dass Gerhard Löwenthal, Schnitzlers Konterpart im Westfernsehen, mit seinem ZDF-Magazin kaum weniger verbohrt und verbissen auftrat.

Wir Studenten der Sektion Journalistik in Leipzig hatten in manchem Seminar die Argumentationsmuster des Kanals zu untersuchen. Irgendwann einmal brachte es jemand auf den Punkt und meinte: „Karl-Eduard von Schnitzler beweist in jeder seiner Sendungen, dass der Westen über sich selbst objektiv berichtet.“ So führte der DFF-Chefkommentator dem Zuschauer Ost bei der Kanalwahl West die Hand und bewirkte, was gewiss nicht seine Absicht war.

Liebe Genossen: Auf Wiederschauen

Am 30. Oktober 1989 verabschiedete sich der Mann mit den dicken getönten Brillengläsern, dem es selten gelungen war, für sich Sympathien zu wecken, mit seiner unwiderruflich abschließenden 1.519. Sendung. Nach über 29 Jahren hatte das Volk den „Kanal“ voll. Die Adlershofer Intendanz setzte die Sendung ab, musste von Schnitzler aber zugestehen, ganz allein zu entscheiden, wie er seine Demission zelebrierte. So fiel die Tür mit den Sätzen ins Schloss: „In diesem Sinne werde ich meine Arbeit als Kommunist und Journalist für die einzige Alternative zum unmenschlichen Kapitalismus fortsetzen, als Waffe im Klassenkampf zur Förderung und Verteidigung meines sozialistischen Vaterlandes. Und in diesem Sinne, meine Zuschauerinnen und Zuschauer, liebe Genossinnen und Genossen: Auf Wiederschauen.“

Dieser Abgang blieb nicht sein letzter Auftritt. Viele Monate später kam es zu einem wirklichen Schwanengesang bei der allerersten Talk-im-Turm-Sendung von Erich Böhme bei Sat1. Schnitzler durfte den Überraschungsgast geben. Niemand (von Moderator und Redaktion abgesehen) wusste, dass er in der Halbzeit zur illustren Talk-Runde stoßen sollte. Was dann stattfand, kann nur als Schlachtefest beschrieben werden – die Lust am Hinrichten war gewaltig. Von Schnitzler wehrte sich nach Kräften. Jeder sah, ein Pfötchen gebender Schabowski war das nicht. Der würde immer der alte bleiben, auch wenn er gegen alle und mit dem Rücken zur Wand stand. Niemand und nichts sprach mehr für ihn, außer dass er standhaft und nicht feige war. Ein Auditorium, das ein exotisches Fossil erleben wollte, erlaubte ihm höchstens vier bis fünf Worte ohne Unterbrechung. Jeder übertraf jeden in gespieltem oder echtem Abscheu. Zum Feier des Tages tönte Otto Schily: „Weshalb sitzen Sie eigentlich hier?“ – „Weil ich einen Vertrag erfülle“, gab von Schnitzler trocken zurück und hatte tatsächlich ein paar Punkte gesammelt. Vielleicht spielte er an diesem Abend seine stärkste Rolle.


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