Eine zweite Geburt der DDR?

Mythen und Realitäten Walter Ulbrichts Reformpolitik im Schatten der Mauer

Verglichen mit den einschneidenden Maßnahmen vom 13. August 1961 nahm sich der Widerstand dagegen in der DDR eher marginal aus. Ein Umstand, der angesichts der massenhaften Abwanderung von DDR-Bürgern zuvor und eines verbleibenden kritischen Potenzials rückblickend nicht überschätzt werden sollte. In Berlin gab es etwa 20 Protestversammlungen mit 20 bis 600 Personen, im gesamten Land 65 Arbeitsniederlegungen in 36 Betrieben (davon waren 23 volkseigene Unternehmen). Bis zum 4. September wurden bei der Polizei 6.041 Menschen vorgeführt - davon 3.104 in Haft genommen. Außerdem flüchteten in den ersten vier Wochen nach dem Mauerbau noch einmal etwa 500 Personen (unter anderem 85 Angehörige der Volkspolizei). Hinzu kam ab 3. Oktober 1961 die nach 1952 zweite Zwangsumsiedlung von »missliebigen« beziehungsweise »operativ verdächtigen« DDR-Bürgern aus ihren Wohnorten in den Grenzkreisen, wovon etwa 3.300 Personen betroffen waren, während zirka 330.000 im Sperrgebiet wohnen blieben. Diese Nacht- und Nebelaktion hinterließ aufgrund ihres menschlich und politisch herabwürdigenden Charakters dauernde Narben, die nicht mit »Sicherheitsfragen« zu rechtfertigen waren.

Generell jedoch nahm das Alltagsleben seinen Fortgang. Viele DDR-Bürger empfanden Genugtuung über die Beruhigung der Lage in und um Berlin, über den Wegfall von Warenausverkauf und Grenzgängerei. Respektvolle Meinungen über die gelungene Operation und Achtung vor der DDR fanden in den damaligen Stimmungsanalysen der SED ihren Niederschlag. Damit verbanden sich Hoffnungen auf politische Öffnungen, vor allem den zeitweiligen Charakter der Grenzschließung. Interne Debatten unter SED-Mitgliedern über die Mauer galten seinerzeit innerhalb der Parteiführung als »Zeichen von Unklarheit in der nationalen Frage« und der Illusion, »dass mit dem Abschluß des Friedensvertrages der antifaschistische Schutzwall beseitigt wird und die Beschränkungen im Reiseverkehr nach Westdeutschland und Westberlin aufgehoben werden«.

Gedanken an eine Korrektur der getroffenen Maßnahmen kamen nicht auf. Walter Ulbricht, der Chruschtschow in punkto Friedensvertrag unter Druck setzte, weil er ein solches Abkommen als Schritt zur internationalen Anerkennung der DDR empfand, musste sich mit der Antwort auf ein entsprechendes Schreiben vom 16. September 1961 bis zum 28. September gedulden, als ihm der KPdSU-Generalsekretär mitteilte, »da die Westmächte zu Verhandlungen neigen und in New York bereits Kontakte zwischen der UdSSR und den USA aufgenommen wurden, sollten Schritte vermieden werden, mit denen die Situation besonders in Berlin verschärft werden könnte.«

Trotz derartiger Unterweisungen vollzog sich ein gewisser Paradigmenwechsel in der Politik Moskaus gegenüber der DDR. Deren Rolle als Faustpfand sowjetischer Deutschlandpolitik war endgültig beendet und lebte erst 1989/90 wieder auf. Die DDR war zum westlichsten Vorposten des sozialistischen Lagers geworden - das bestimmte fortan den Stellenwert der Republik beim Umgang der Machtblöcke miteinander ebenso wie den Charakter der Grenze zum »Westen«.

Sowjetmarschall Konew teilte am 14. September 1961 in einer »Geheimen Verschlußsache« DDR-Verteidigungsminister Hoffmann mit, er solle mit der Errichtung eines strengen Grenzregimes beginnen, die Grenze pioniermäßig und technisch ausbauen, vor allem in den hauptsächlichen Fluchtrichtungen; Geländestreifen für Drahtsperren sowie Minenfelder mit scharfen und Scheinminen anlegen, Angehörige der Grenzpolizei bei vorsätzlichen Grenzübertritten schärfer zur Verantwortung ziehen (*).

Tauwetter mit regelmäßigen Frostperioden

Zum 12. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1961 war in den heroisierenden Thesen zum 13. August nachzulesen: »Hinter uns liegen Wochen und Monate, die große Entscheidungen in Deutschland gebracht haben ... Es hat sich gezeigt, daß die Deutsche Demokratische Republik niemals zu besiegen ist ...«

Zweifellos boten Mauerbau und Grenzsicherung einen veränderten äußeren Rahmen für die innere Entwicklung der DDR. Auf dem 14. Plenum des SED-Zentralkomitees im November 1961 entwickelte denn auch Walter Ulbricht sein Konzept für den »umfassenden Aufbau des Sozialismus«. Ausgangspunkt waren die herrschenden Produktionsverhältnisse, die gesicherten Grenzen wie die gerade auf dem XXII. Parteitag der KPdSU (Oktober 1961) getroffene Entscheidung, mit dem Aufbau des Kommunismus in der UdSSR zu beginnen. Mit Blick auf ein »DDR-Bewusstsein« und abweichend von der einseitigen Abgrenzung zur Bundesrepublik, die sich auf die Dauer nicht aufrechterhalten ließ, wurde im Frühjahr 1962 das Nationale Dokument -Die geschichtliche Aufgabe der DDR und die Zukunft Deutschlands veröffentlicht. Es folgte vorzugsweise zwei Intentionen, um einen Sozialismus hinter der Mauer zu legitimieren: Die Verfasser bezeichneten die DDR zu einen als den einzig »rechtmäßigen deutschen Staat«, weil er den geschichtlichen Gesetzmäßigkeiten folge und von Kräften regiert werde, deren Politik mit den Interessen der Nation übereinstimme. Zum anderen wurde als Weg zur Einheit eine Konföderation beider deutscher Staaten vorgeschlagen. Aus diesem Vorstoß sprach wohl nicht zuletzt das Bedürfnis, ein Minimum an korrekten Beziehungen zwischen beiden Staaten herzustellen.

Mit dem VI. Parteitages der SED 1963 wurde das von Ulbricht begründete Neue Ökonomische System der Planung und Leitung (NÖS) verabschiedet. Als Wirtschaftsreform gedacht, sollte damit das ökonomische Wachstum der DDR stimuliert werden, was teilweise durchaus gelang und zu mehr System-Akzeptanz bei der Bevölkerung und partieller innerer Stabilisierung führte. Sinnvollere Wettbewerbsformen in den Betrieben, öffentliche Debatten wie über das erwähnte Nationale Dokument, die Jugend- und Frauenpolitik oder eine neue Verfassung dienten der politischen Verständigung und ergaben Identifikationsmöglichkeiten mit der DDR. Dennoch ließen sich diese Veränderungen, besonders das NÖS, kaum als Verschönerung der Mauer einstufen. Ohnehin wurde auch in diesen Jahren ein erneuertes Selbstverständnis der SED, das zu differenzierteren Sichten auf die Gesellschaft führte, nicht von stalinistischen Doktrinen entkoppelt. Reformen erhielten nur als »Reformen von oben« eine Chance. Jeder Schritt vorwärts war zugleich von der Sorge um die Macht, fehlendem Mut zur Demokratie und einem Hang zur Indoktrination gehemmt. Auf dem 14. ZK-Plenum bekräftigte Ulbricht den Katalog der Anklagen, der gerade auf dem XXII. KPdSU-Kongress wegen der Verbrechen Stalins formuliert worden war, und fügte selbstbewusst hinzu, »daß unter den Bedingungen der Entwicklung der SED kein derartiger Kult« entstehen konnte. Wie das gemeint war, zeigte seine nochmalige scharfe Abrechnung mit allen Fünften Kolonnen, die es in den eigenen Reihen gegeben hatte. Welch rigider Bruch mit jeglichen reformerisch-liberalen Ansätzen vollzogen werden konnte, zeigte alsbald das Strafgericht gegen Schriftsteller und Regisseure auf dem 11. ZK-Plenum Ende 1965. Vernichtende Kritik diffamierte einen dezenten demokratischen Aufbruch als »spießbürgerlichen Skeptizismus« und »Konterrevolution«.

Ein Schritt vorwärts, zwei zurück

Schließlich bot das im Januar 1968 von der Volkskammer verabschiedete neue Strafgesetzbuch eine weitreichende Kodifikation sozialistischen Rechts. Im Teil des politisch motivierten Strafrechts mit seinen verschwommenen Kategorien und drakonischen Strafmaßen offenbarte das Gesetzeswerk allerdings eine unverkennbar stalinistische Färbung und seine Funktion als Repressionsinstrument. Im Schatten der Mauer standen Paragraphen über »Sammlung von Nachrichten«, »Menschenhandel«, »ungesetzliche Verbindungsaufnahme«, »Republikverrat«.

Im gleichen Jahr dekretierte die neue Verfassung in Artikel 1 den Führungsanspruch der SED, während die individuellen Bürgerrechte - faktisch einschränkend - an sozialistische Grundsätze gebunden wurden, die ihren Ursprung im Programm der Staatspartei hatten. Deren Visionen vom Zusammenwachsen zu einer Sozialistischen Menschengemeinschaft verloren schon wenig später ihren Sinn mit der Haltung der SED zu den Reformern in Prag und der politisch-moralischen Rechtfertigung des militärischen Eingreifens im August 1968.

Trotz sozialer Fortschritte, innerer Konsolidierung und außenpolitischer Anerkennung wurde in den sechziger und siebziger Jahren stets auch jene Politik reproduziert, die zur Errichtung der Mauer geführt hatte. In Reaktion auf die veränderten internationalen Bedingungen fasste das SED-Politbüro am 6. Juli 1971 den Beschluss über die Erhöhung der Ordnung und Sicherheit an der Staatsgrenze. Dem folgte im Oktober 1971 eine Strukturreform der Grenztruppen, die besonders davon intendiert war, die »Unantastbarkeit« der Demarkationslinie zu sichern. 26 Prozent der Ortschaften, die bisher als »Grenzgebiet zur BRD oder zu Westberlin« galten, wurden aus dieser Kategorie herausgenommen, um so das »Grenzvorfeld« erweitern und dort »Grenzaufklärer« einsetzen zu können (**). Ein vergleichender Bericht der DDR-Grenztruppen aus jener Zeit vermerkte, dass die Fluchtversuche von 3.004 Personen 1973 auf 1.397 im Jahr 1975 zurückgegangen seien. In einer anderen Erhebung hieß es bezogen auf die Periode vom 1. Januar 1975 bis zum 30. Juni 1976, dass 75 Fluchtversuche gelangen, 1.288 hingegen verhindert worden seien.

Das erweiterte Grenzvorfeld senkte die Zahl der »Grenzverletzer«, vor allem die Häufigkeit des Schusswaffengebrauchs, behob jedoch nicht das eigentliche Problem - dass die Grenze zunächst einmal nach innen gerichtet war und nach wie vor Menschen die DDR verlassen wollten. Seit 1970 erfolgte sogar ein weiterer Ausbau des unmittelbaren »Grenzsicherungssystems«. Neue Splitterminen und Selbstschussapparate, die bis Ende 1979 auf knapp 400 Kilometern Grenzlinie im Einsatz waren, wurden installiert. Erich Honecker stellte den Schutz der Grenze über den eines Lebens an der Grenze, wenn er als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates am 3. Mai 1974 forderte, »bei Grenzdurchbrüchen nach wie vor rücksichtslos von der Schußwaffe Gebrauch zu machen«. So bleibt als Fazit: Je mehr die DDR in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Mauerbau um inneren Halt rang und außenpolitisch an Boden gewann, desto energischer wurde sie befestigt, desto monströser weitete sich der kontrollierende Einfluss der Staatssicherheit auf den gesamten Reiseverkehr aus - ein irreversibler Vorgang, wie sich mit den letzten Jahren der Republik zeigen sollte.

Die Historikern Wilfriede Otto ist mit verschiedenen Arbeiten zur Geschichte der DDR hervorgetreten, im vergangenen Jahr erschien von ihr im Karl-Dietz-Verlag das Buch: Erich Mielke. Aufstieg und Fall eines Tschekisten.

(*) Vgl. Bundesarchiv, Bestand Strausberg, Archivzugangsnummer 32595. B1.0066-0068.

(**) Vgl. Der Beauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU), Studienmaterial zur Geschichte des MfS, Teil VII, S.119.

Siehe auch Der Mauerbau - Krisenverlauf - Weichenstellung - Resultate. Im Verlag Berliner Debatte - Initial, ab September 2001.

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