Botanik, brunzwarme

Berliner Abende Und plötzlich hatten sie alle wieder ihre Moskauer-Winter-Gedächtnis-Pelznäpfe herausgekramt und übers schüttere oder weißgemeißelte Haupthaar ...

Und plötzlich hatten sie alle wieder ihre Moskauer-Winter-Gedächtnis-Pelznäpfe herausgekramt und übers schüttere oder weißgemeißelte Haupthaar gestülpt - ich sah es vom Fenster aus: Es war kalt geworden in Berlin. Abends drückten wir uns an die Rippen der Sparkörper um ein bisschen Restwärme, und nachdem ich von Tierfilm zu Tierfilm gezappt hatte, drohte unfrohe Stimmung. Selbst der Sohn zog eine Fresse. Die Mutter, auf der Suche nach innerem Frieden, wirkte erschöpft. Es konnte so nicht weitergehen: Da plünderte der Hyänenhund die Innerein eines Kitzes, dort hingen einem Löwen die zappelnden Reste eines behinderten Zebras aus dem Maul, dann wieder zerrte ein Geier Därme am laufenden Meter durch die Heide, und darauf rannten butterweiche, eben geschlüpfte Schildkröten vergeblich um ihre Leben ... Da hätten wir gleich Esser Ackermann gucken können!

Aber der Retter des Wochenendes ( Ich ) war da. Pflanzen! so mein Lockruf, friedliche Pflanzen abends im Dunkel, die Köpfchen gesenkt, vergessen das eitle Prunken mancher Exotin, die Blättchen artig über der Bettdecke gefaltet, die Stängelchen ein Wiegen im Wind, höchstens. Ein Doppel- ja Mehrfachfrieden! Während ich noch ins Gedächtnis rief, was wir den Pflanzen zu danken hätten - ihre Vitalenergien nach Feng Shui, die Lösung der Körper-Geist-Konflikte durch Dr. Bachs Blüten, Freunde durch Knoblauch, Johanniskraut, Hafer, Hopfen, Hanf - ich konnte mich kaum noch beruhigen -, drehte ich schon die Heizung ab, denn drüben im Westen, im Botanischen Garten zu Dahlem würde uns ein nicht zu verachtender Zusatznutzen zuteil werden: im Tropenhaus, wo "Winternachtsträume" versprochen waren, "nächtliche Pflanzenwelt unter Glas in Licht und Schatten", "leise Töne" und "tropische Cocktails", würde es ganz ohne Zusatzkosten brunzwarm sein.

Als uns der große Tropenbauch umfing, haute es mir den am Eingang gekübelten Glühwein aus den Poren. Es gebot sich, zwischen den kleinen Gruppen still sitzender und in die Dunkelheit der Palmenwipfel starrender Pflanzenfreunde ein freies Stühlchen zu besetzen. Ambientemusik, so beruhigend, als wäre sie für ein Pariser Damenschuhgeschäft in Berlin gemacht, floss weit unterhalb des Gehörgangs vorbei. Manchmal schmatzte jemand in seinen Cocktail. Dann und wann schlug ein virtueller Vogel an. Ferner ein Licht aus dem Unterbewuchs.

Mir, flüsterte eine geständige Frau, in die Hülle meiner privaten Schwitzhütte kurz vertraulich sich krallend: "Mir tut das immer weh, wenn am 1. die Weihnachtsbäume aus den Fenstern geworfen werden. Wie kann man nur. Die liegen jetzt immer noch da. Gestern - hört sich vielleicht komisch an - ist bei mir in der Straße ein ganz kleiner, wirklich schöner, noch grün - ich möchte jetzt nicht ‚süßer´ sagen - auf die Fahrbahn geraten. Und die Autos drüber. Keiner, der mal ausstieg und den Baum wieder zu den andern legte. Drüber, drüber, drüber. Ich sag´s ehrlich: Das hat mir ins Herz geschnitten." Gut, dass die Feuchtigkeit abschlug am ganzen Mann, gut dass es aus den Wipfeln leise tropfte, so man die Tränen nicht sah, mit denen ich wohl kämpfte.

Leise rangen die Hibiskusblüten mit ihrer Neugier, ob der ungewohnten Situation. Manche hatten schon die Blättchen aus dem Kissen gestreckt. Stramm dagegen die Formation der Netzaderigen Rittersterne, die sichtbar die Arschbacken zusammenkniffen, um jeder Herausforderung stand zu halten. Die Begonien ließen die Socken hängen, und manch alter, knorriger Stamm schämte sich etwas seiner Warzen, die inmitten der Dunkelheit ringsum allzu deutlich ins versteckte Spotlicht gerieten. Dann wieder silberne Flechten, wie Haar vom Schrumpfkopf, von Bäumen hängend, in deren Blätterseen, daheim im Süden Amerikas, Regenwaldkrabben hausen. Schreiten und erblinden. Ach, die stolzen, eingekeilten Kakteen hätten so gerne mächtige Schatten geworfen, wenn sie nur etwas Wüste dazu gehabt hätten. Dafür nicht ohne cineastischen Charme die Schatten der Rollstuhlgefährte auf den Wegen!

Gehen sie da nicht weiter! Ernsthafte Mahnung! Zwar platzten in der Halle für ostasiatische Pflanzen Rhododendron und Kamelie fast aus den Hemdchen. Aber dafür eine Kälte!

Zum Gehen uns wendend, entdecken wir ein kleines, bisher übersehenes Schild: "Bitte nicht gießen!" Könnte es sein, dass, gleich wie in Zoos die Mütterchen an zuviel Liebe zum Tier gehindert, auch hier sie vermahnt werden müssen, wenn sie mit den Kännchen vom Sprengen der Vorausgegangenen am Anger hereinkommen und sorglich behaltenen Rest, hoppla! ihrem Lieblingspflänzchen zukommen lassen? Es muss wohl so sein. Da schnürte mich Rührung noch einmal so recht in der Mitten.


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