Dummer Dämmer! Etwas unruhiger schnarche ich in die Rheumabettwäsche. Sinnlos indes das Aufbegehren des Weckers. Ein Handkantenschlag genügt. Jetzt ein sehr flaches, kreuzigungsfreundliches Liegen (siehe auch Video 14: Jürgen Beissert, Kreuzberg, im Schlafzimmer), das ans Genießen grenzt. Tiefes Atmen. Dann lange Stille. Später ein Öffnen der Lamellen der Aluminiumjalousie. Die Sonne kommt in Streifen geschnitten. Durch die Scheibletten fällt der Staub. Könnt ich mich jetzt vielleicht langsam aufrichten? Ich könnte. Aber so richtig wichtig ist es nicht. Dem Tag ist die Spitze schon gebrochen. Fürs Schneller - Höher - Weiter kommt er nicht mehr in Frage. Er nicht, und die anderen Tage auch nicht. So beginnt mein Alltag. Zehn dicke Punkte für mich.
Währenddessen steht Emmi Eggli (75) hinterm Gartenzaun in Kreuzlingen (Schweiz) und schaut auf die Marktstraße. Sie bewegt sich kaum. Manchmal schwankt sie ein wenig. Sie steht und schwankt und schaut. Tag für Tag. Wenn sie beginnt, zu heftig zu schwanken, dreht sie mit ihrem alten Hund auswendig eine Runde. (Video 4). Wenn sie nicht mehr steht und schaut und schwankt und auswendig eine Runde dreht, steht es schlecht um Emmi Eggli. Dann ist es wohl bald vorbei. Ein Hund ist ein guter Alltagsberater. Er muss seine Runden drehen. Er hindert die Halter, aus dem Alltag zu fallen. Danke, Hund! Wer weiß, wo die sonst herumfielen.
Ist das Elvira Bollhalder (St. Gallen), die da in großer Gelassenheit bügelt? (Video 70). Bügeln ist ja oft das heiße, zischende Herz des Alltags. Gestern waschen (Elahe-Araie Majd im Waschsalon, Kreuzberg, Video 44) - heute bügeln. Das Waschen eher ein Warten vor den Automaten in der Bügelvorfreude. Outsourcing lehnen wir ab, wir stillen Helden des Alltags. Lagert sich nicht in Schwaden der - nicht selten vorschriftsmäßig missmutig zelebrierten - Bügelbehaglichkeit ein ganzes Furioso von Lebensbewältigungstechniken ab und schüttet Schutzwälle gegen die Verlockungen der rasenden Außenwelt? Wer in den natürlichen Rhythmus von Waschen - Bügeln - Versorgen - Tragen eingebunden ist, wird weitgehend immun gegen die Drogen der leeren Innovationsversprechen sein, die nach immer höheren Dosen verlangen.
Die jungen eineiigen Zwillingskünstler Frank und Patrik Riklin bearbeiten in ihrem St. Galler "Atelier für Sonderaufgaben" seit 1997 die leichtfertig und kenntnisarm so genannte "Banalität des Alltags". Zuerst haben sie mit sich selbst gespielt. Und die Kameras zwischen sich platziert. Aber da wussten sie schon, was je auf der anderen Seite passieren würde. Also wandten sie sich unschuldigen Mitmenschen zu. Im Feldversuch, "Eine Stunde Lebenszeit", einen soziologischen Schnitt durch Kreuzlingen (kleinstädtisch), St. Gallen (kleinstädtisch) und Berlin-Kreuzberg (großstädtisch-multiethnisch) versuchend, werden nun drei mal dreiunddreißig Videos und Fotos aus dem wahren Leben gezeigt. Fotos, die wie aus dem Fernsehschirm auf uns herabschauen, Videos, maximal fünf Minuten lang, die sich inhaltlich und in ihren Bildausschnitten ganz aufs Wesentliche der Alltags-Situation oder -Verrichtung konzentrieren. Große Stille, selbstverständliche Würde, der Witz des Wiedererkennens, die Ironie des unerwartet Erwischt-worden-Seins. Und so ein Gefühl, als hätten wir seit Jahren Existenzielles übersehen ...
Unser Alltag ist doch trotz der jahrzehntelangen Quickficki-Propaganda verdammt keusch. Wie Luzia Corso in Kreuzlingen (in der Toilette, Video 55) mache auch ich beim Pinkeln die Tür zu, und beim Kacken darf höchstens die Dame meines Herzens an den Freuden analer Entleerung partizipieren. Keusch auch der beinahe zur Seite sehende Voyeurismus der Riklin-Brothers. Luzia Corso schiebt sich in die Toilette, schließt die Tür, und die Kamera hält still auf die Verbergende, bei wohltuend gedämpfter Tonwiedergabe. Warum aber schiebt sich Luzia hinein? Weil sie ihre Freundin mitnimmt, und die beiden sich kichernd in der engen Tür zu verkeilen drohen. Da wollen mir fast Tränen der Rührung aus den Augenwinkeln perlen: Man geht also immer noch zu zweit! In der Damenwelt! In Kreuzlingen, St. Gallen, wohl auch Berlin. Bei allem emanzipatorischen Tort, den man ihr seit den Tagen meiner Kindheit angetan! Dürfen wir noch Hoffnung haben auf den Fortbestand einer Welt mit menschlichem Antlitz?
Und selbst Nicole Radzei (Kreuzberg, Video 57), die einzige Duscherin, die uns durch eine schmale Öffnung der Spritzschutzwände Einblick in die Kabine auf ihr beneidenswert kräftiges, sorgsam zu waschendes, ja zu pflegendes Haar und ihre kleinen, frischen Rehkitze gewährt, steht in der unspekulativen Schlichtheit ihres Tuns in völligem Gegensatz zum berüchtigten Big-Brother-Duschen, das den geil-sabbernden Voyeurismus der Spaß- und Blasgesellschaft bedient. Wobei hier relativierend einmal anzumerken sei: Als ein hemmungsloser Möchtegernkünstler, so um die Fertigstellung der Hackeschen Höfe in Berlins neuer Mitte, nebenan ein leerstehendes Geschäft bezog, um dort hinter den blanken Schaufensterscheiben zu leben und dem Intimsten nachzugehen, wurde da nicht auch von jenen, die - zumindest anfänglich - mit Big Brother das Ende von - ich hab vergessen was alles - heraufziehen sahen, von diesem Ausfall als "Kunstaktion" ein mächtiges Wesen gemacht?
Nicole aber führt uns auf eine ganz andere Spur. Im Bademantel, anmutig turbanisiert formuliert sie in den wenigen Worten, die nach den Aufnahmen den Akteuren gestattet sind oder abverlangt werden, ein Erstaunen über das Unbewusste dieses alltäglichen Vorganges, der doch so konstruktiv für ihren Tag ist, Tag für Tag. "Duschen ist nicht alles, aber ohne Duschen ist alles nichts", könnten wir formulieren. Am Ende gilt das für all die diskriminierten, mehr oder minder automatisierten und also unbewussten, jedenfalls unreflektierten Alltags-Verrichtungen?
Cahit Saglam (Kreuzberg, Video 79) tritt durch die orientalisch geschnitzte Tür seiner Imbissstube. Orientalisch gefaltete Männer sitzen ruhig und erwartungsvoll, ihm die Perspektive einer nach hinten sich verjüngenden Startreppe formend. Cahit Saglam trägt ein orientalisches Zupfinstrument. In die orientalische Musik, die aus dem Off nun, so dürfen wir annehmen, einem preiswerten Quelle-Recorder entblecht, zupft er begnadete Oriental-Solis und schmalzt liebeswunde Verse hinterher. Dann verbeugt er sich und verlässt, die Unfallgefahr nicht achtend, rückwärts gehend die Imbissstube. Und dann sagt er, der seit drei Jahren die Kunden mit seinem Spiel erfreut, in kurzen Worten: Üben, üben, üben. Er sagt nicht und tut nicht: grinsen, Grimassen schneiden, den Lecker rausflutschen lassen, den Mittelfinger zeigen, an den Sack fassen, Andy Warhol sein, fünf Minuten Arschloch sein, Rainald Goetz oder Reinhard Mohr sein und alles zusammenfingern, was andere ausspeien. Er sagt üben, üben, üben. So aufregend kann der Alltag sein.
The glorious Riklin-Brothers haben eine frohe Botschaft: Der Alltag ist überall ziemlich gleich. Auf den Bildern und Videos ist nicht auszumachen, wo da die Kissen aufgeschüttelt, die Teppiche gesaugt, die Treppen gefegt, die Rasen gepflegt werden. Der Unterschied liegt darin: Während die Darsteller ihres wertvollen Alltages in Berlin wild und routiniert zugleich auf die Möglichkeit medialer Repräsentation und Umsetzung reagieren, reagiert die ländliche Schweizer Bevölkerung eher genant. In beiden Fällen bekommen wir also nur eine, allerdings hochprozentige, Annäherung an die lebenserhaltenden Rituale. Es entblößt keine versteckte Kamera.
Die Souveränität, mit der hier Alltag in Szene gesetzt wird, die geringe Verführbarkeit zu schauspielerischen Ausbrüchen oder unverlangten Talentbeweisen erstaunen. Offenbar sind die alltäglichen Verrichtungen und Rituale so tief verwurzelt, dass sie sich der Diskussion entziehen und der Kompromittierbarkeit. Und als Feld der Reflexion nicht vorkommen. Erst während der Arbeit für die Ausstellung, nach dem späteren Besuch der Akteure mit Verwandten und Bekannten - in der Schweiz zumindest ein schöner Erfolg - bricht es ihnen wie Locken von den Wicklern: Das Wichtigste schätzen wir als das Geringste.
Ich aber frohlocke: Die Globalisierung, sie gibt es längst. Wir werden global noch falten, bügeln, polieren und bürsten, graben und schaben, wenn die Dealer des IT-Crack, der Sharholder-Value-Puders und der Flexi-Nadel längst verreckt sind, verbrannt am eigenen Stoff.
Seht nur die Hütte von Kathrin Stieger Bannwart! (St. Gallen, Video 9). Sie ist da drin, wir sehen sie nicht, wir hören sie nur rumoren. Ach, der Vollmond über den Bergen über dem kleinen Haus! Ein Licht wie ein bengalisches Märchen. Eine Ruhe ringsum. Ein Haustraum in der Sommersonne sicherlich. Vielleicht putzt Kathrin drin gerade ein leicht verstaubtes Geweih. Oder sie kippt ganz schnell die 17 Exemplare ihrer Schneekugelsammlung, dass der nach Hause kommende Gatte vor Gestöber in die Knie bricht. Ein solches Rumoren könnte es durchaus sein. Möchte Kathrin mobil, oder möchte sie hier sein? Und nebenbei: Machen wir die Hütten und die Schneekugeln und den Burkelschnurkel, oder machen die uns? Braucht für diese Hütte und Kathrins Schneekugeltrick Kathrin den globalen Angriff der Autokrauts auf dem hinterasiatischen Kontinent? Oder wäre sie mit einem täglichen Alphornblasen, so um 17 Uhr, zur Stunde des Eintauchens ihres selbst gehäkelten Kamillenbeutels in frisches Bergwasser, zur Vervollkommnung ihres Glücks nicht besser bedient?
Enrica Dragoni Maier (Video 29) kommt die Treppe hinterm Haus herunter. Das Aufnahmeteam hat ihr den Weg mit Band vorgeklebt, damit sie nicht aus dem Bild taumelt. Enrica ist ziemlich kräftig und ziemlich rücksichtsvoll. Mehrmals am Tag verlässt sie ihr Büro, steigt die Treppe hinunter und raucht. Das Büro ist klein, der Rauch ist stark, Enrica zieht und bläst. Schnippt und stippt. Dann zertritt ihr Fuß der Kippe Glut im vorgeklebten Quadranten, und sie steigt zurück. So strukturiert sie ihren Tag gegen den bloßen Verbrauch.
Einer der größten Strukturierer unseres Lebens ist der Briefkasten. Jeder Tag zerfällt in zwei Teile: Vor und nach dem Posteingang. Hoffnung und Enttäuschung. Hoffnung und Erfüllung. Furcht und Zagen. Fesselung und Befreiung. Arbeitsaufschub und endlich loslegen. Bezewe wieder hinlegen. Bewegungslos der Kasten, hinter dem Gartenzaun des Einfamilienhäuschens montiert. Täglich das Anradeln des Hoffnungsträgers (auf unidentifiziertem Video), sonst nichts. Aber nach einiger Zeit, im Wechsel von Stille und Beschickung, ist es, als blähe das Häuschen von innen sich, vom Atmen der eingeschlossenen Emotionen.
Und wenn nichts mehr kommt? Clara Kägi (78) sitzt in ihrem "Puppenzimmer"; sie kämmt ihren Puppen die immer noch glänzenden Haare. (St. Gallen, Video 99). Sie spricht mit ihnen, versichert sich ihres Befindens, klärt über das Wetter auf, erzählt ihnen von früher, Benchmarking der fahler werdenden Erinnerungen. Keine Puppe wird vernachlässigt. Alle sind ihr wichtig. Später wird sie noch mit dem Gichtfinger die Kuchenkrümel vom Tisch stippen und die Fransen ihrer Deckchen ausrichten.
Das ist das Leben. Seine Banalitäten toben sich unterdessen anderswo aus.
Die Ausstellung "Eine Stunde Lebenszeit" ist am Mariannenplatz 2 im Kunstamt Kreuzberg noch bis zum 9. Juli zu sehen.
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