Wenn du im Berlin dieser Tage was verschiebst, Fremder, hast du es für immer verschoben. Nachts haut es dich schweißnass aus den Spelzen, und dein Herz hämmert: Peymanncenter, Sonytheater, Ostwalz, Sushimuschi ... Nicht zu schaffen! Du hast zwei Möglichkeiten: Du bleibst blöd - oder du wirst es. Morgen warten schon: Herthabären, Transberlinale und Karneval mit dem Rheinisch-Preußischen-Vereinigungs-Traumpaar Prinz Harald I. und Martina I.
Vorgestern also flog ich nachts auf, die Hand zitterte zum Adumbran-Fläschchen, und gestochen scharf stand mir im schmerzenden Hirn: stilwerk. In Kleinschreibung. Darunter: »Institut für guten Geschmack«. Ausgerechnet ich, dem bekanntermaßen stillosen Berliner ein ums andere Mal am Geschmacksgen modellierender Stilexperte, hatte die Eröffnung des neuen Tempels, 20.000 Quadratmeter Heim-Design auf fünf marmorierten Etagen, versäumt und vergessen. Da drüben in der Kantstraße, wo man verzweifelt gegen die neue Mitte ankünstelt. Ich entsinne mich, dass die Eröffnung kurz nach einem öffentlichen Stilerzwingungsversuch des Wirtes des sogenannten Nobellokals »Borchardt« erfolgt war, als die Grünen-Abgeordnete Claudia Roth an einem spätwarmen Septembertag einen unvollständig bekleideten Assistenten mit sich führte (Bermudashorts!), folglich am Eintreten gehindert wurde, und jener Wirt drohte, dass er den Berlinern schon Manieren beibringen würde. Gleich darauf im Kulturkaufhaus Dussmann bergeweise reduziert: Der Gentleman. Handbuch der klassischen Herrenmode. Darauf: stilwerk. Eine logische Entwicklung. Was nützt es, wenn der Berliner jetzt zwar mit langen Hosen, aber im falschen Sessel unterm falschen Bild sitzt? Ich senkte den Puls. Ich riss blind die Veranstaltungsseiten des kommenden Tages aus meinem Stadtmagazin. Ich machte mich frei für das Institut.
Fremder, wenn du ein Freund der bulligen bulthaupküche bist, oder der SieMatic-Technologie oder bei poggen pohl dir auffällt, dass du im Erstehensfall nie mehr kochen müsstest, weil nach Einbau deine Wohnung nicht mehr betreten werden kann, bist du hier richtig. Wohnzimmergarnituren von ausgemachter Muffigkeit, die dir die Möglichkeit erschlössen, dein Heim wohlbegründet zu meiden - du müsstest die Raten abarbeiten -, die deine wäre sowieso im reichen Faltenwurf der dazu passend Echtstaubvorhänge unauffindbar.
Fremder, ich war am Feierabend des besten Tages da, und die Etagen waren leer, wie die legendäre erste Etage des beinahe 100-jährigen Eurocenters, von dessen Ende jeder weltstadtkompatible Journalist seit Jahren dahersingt. Irgendwo oben ein kurzes Aufblinken wie Sonneneinschlag: Espressomaschinen! Donnerwetter!
»Kann ein Mülleimer stolz machen?« Hatte stilwerk am gleichen Tag in einer Anzeige gefragt. Und behauptet: »Die Diskussion ist eröffnet.« Aber wie immer man die Frage beantworten wollte - kommt darauf an, was drin ist! - es war niemand zum Diskutieren da. Stattdessen hämmerte mir Team by WelliS eine Philosophie der individuellen Wohngestaltung ins schlechte Minderleistergewissen: »Team baut Raum.« Umriss seine grundlegende offene Einstellung vom Möbel hin zu einer Raumgestaltung von höchstmöglicher Individualität. Und während zwei Mitbürger ausländischer Herkunft vorbeischlichen und sich nicht hinzusehen trauten, schrie Team by WelliS: »Wohnen heißt leben. Und leben heißt verändern, selbstbestimmt und individuell.« Während ich darüber nachdachte, ob es mir möglich wäre, individuell fremdbestimmt zu leben, beschlich mich das Gefühl, dass ich gar nicht lebte, vom Wohnen zu schweigen. Leer klapperten einige Teller aus dem Bistro mit Sushibar nach oben. Da unten, wo der flaue Retrowitz britischen jungen Designs in einer wirren Ausstellung verschüttet wurde. Gefährlich taillierte Sitzmöbel aus wundscheuernden Materialien. Stil ist, wenn man trotzdem sitzt! Vertaner Abend. Woanders ließ man es jetzt krachen.
Ich nahm den glänzenden Aufzug, trotz der Seilbahntragödien '96, '97, '98, '99. Im ersten Untergeschoss war der Event »Zeit« versprochen. Lindgrün war der Durchgang zum ersten Parkdeck gestrichen. Und um dasselbe herum gingen Tafeln mit der Aufschrift »Zeit«. Und ich sprang ins zweite Untergeschoss hinunter, da war der Event »Stille« versprochen. Und siehe Fremder, der Durchgang zum zweiten Parkdeck war lindgrün gestrichen und dasselbe von Tafeln mit der Aufschrift »Stille« gerahmt. Und es herrschte wirklich Stille. Denn beide Parkdecks waren vollkommen leer. Am Freitagabend in der City.
Ja, Fremder, sicher haben die Berliner keinen Stil. Aber Charakter zeigen sie manchmal.
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