Mythen, unkaputtbare

BERLINER ABENDE Gegen Mitternacht endlich die harten Fragen: Wird der in Wirklichkeit längst zwielichternde, von interessierten Kreisen missbrauchte und versilberte ...

Gegen Mitternacht endlich die harten Fragen: Wird der in Wirklichkeit längst zwielichternde, von interessierten Kreisen missbrauchte und versilberte Mythos "Prenzlauer Berg", oder wie es im Sprachgebrauch westlicher Insurgenten, den wirklichen Prenzlauer-Berg-Bewohner an die Brechschüssel zwingend, heute nur zu oft zu hören ist "Prenzl'berg", abgelöst vom Mythos Friedrichshain, oder verdienen da in Wirklichkeit die Brauereien?

Ratlosigkeit: Trinken wir uns leichtfertig aus der Heimat? Fragt uns am Ende ein Mythos überhaupt nicht, ob er sein darf?

Der Kachelofen kachelt leidlich gegen die Kälte an, die durch die Schaufensterscheibe des aufgelassenen Lädchens Zelterstraße 8 fingert, nahe der Station Prenzlauer Allee. Hier hat sich seit einem Monat die "Versuchsstation für den Weltuntergang" eingenistet. 50 Quadratmeter Mythenmetzgerei, 50 Quadratmeter zum Metzeln falscher Ideale - lauter Ich-Weltuntergänge -, betrieben vom Philosophen, Dichter, Dramatiker und Verleger Andreas W. Lenzmann, einem, mit seinem weißen Stehkragerl, beinahe Schubert-Franzl-haft daherblitzenden, atemlosen Österreicher und seiner Liebschaft Kathrin. Früher Haider-Flüchtling, müde der Wiener Kulturränke, einer, der es damals, an Ort und Stelle, dem Peymann schon hineingedruckt hat, aber schon so, und der jetzt auf- und durchatmet im weniger verpackelten und verbandelten Berlin, von Liebe getragen (Kathrin) im harten Kampf gegen gefährlichen Idealismus; der gleichwohl die künstlerische Aufklärung ans realexistierende Gemeinwesen gebeutelter Menschen zurückbinden und von Liebe zurückschenken möchte, sich aller Gefährdung bewusst: "Nachdem / die liebe / in mir / schlummerte // Erwachte sie / und ging". So geht es ja nur allzu oft.

Vielversprechend war die Idee der "Versuchsstation" gewesen, auf dem Hintergrund der Berliner Bezirksreform, die den Prenzl'berger liquidiert und zum schlechtbeleumdeten Pankower mendelt, eine Veranstaltung zur "Verabschiedung des Mythos Prenzlauer Berg" anzusetzen. Zumal kurz davor das Zentralorgan des Mythos, der "Sklavenmarkt", sein Erscheinen eingestellt hatte. In dessen Abschiedsband die Herausgeber die Eröffnungsgeschichte, ein kunstvoller Spott über den "Schlotterteig", ihm überlassen hatten, Andreas W. Lenzmann, der mit den Sklaven vorher nie zu tun hatte, ihn also vor den Papenfuß stellten im Heft, vor!, etwas was in Österreich undenkbar gewesen und ihm strahlende Zukunft signalisiert. "Bei mir geht's nach oben! Das fühl ich." Aber seltsam: Es wollte niemand zur "Verabschiedung" kommen. Der Kachelofen drögte. Die zarte Katze warf die Bücher aus dem Regal. Kathrin räumte sie wieder ein. Andreas W. zog den Vorhang der kleinen Bühne zurück, auf dem Lenzmannsche Dramen oder Dramolette vorzüglich ihre Aufführung finden und demnächst eine, wieder Peymann es anmutig und angemessen "hineindruckende", Bernhard-Bearbeitung von eigener Hand geben wird, und informierte über die Akustik. Am Büchertisch durchstöberten wir die ersten vier Publikationen der hauseigenen "edition wort / bruch 1150", Lenzmannsche Werke allesamt, in schlichtschöner Repräsentation.

Noch barg die Bar einen Rotwein. Noch schwankte Andreas W. zwischen leiser Enttäuschung und begeistert aufschäumender Neuinterpretation: Kam niemand, weil man sich den Mythos nicht ruinieren lassen wollte? Oder war dieses Nichterscheinen unüberhörbares Resonieren davon, dass der Mythos selbst ein Mythos ist? In beiden Fällen wäre seine "Versuchsanstalt" hier am rechten Ort, künftig mit Arbeit an Kunst und Kunden überreich beschenkt.

Das Kätzchen legte sich schlafen und träumte von Lanzarote, einem anderen Mythenort, woraus es hierher verbracht worden war. Der Philosoph zernichtete den einsamen Besucher, der leichtfertig, eine gewisse ältere Malschule charakterisierend, von "fetten Weibern" gesprochen hatte, gnadenlos mit dem Extrakt feministischer Herrschaftslehre und den schönsten matriarchalischen Mythen. Der einsame, nun beinahe gebrochene Besucher versuchte Leben in die erstarrenden Beine zu zwingen und orientierte sich auf den Heimweg - da flog die Türe auf, und herein wirbelten Freunde des Hauses wie dicker Schneeflockenflug. Und gleich darauf stöberte man im Kopf durch die alten Künstlerwohnzimmer, Taten und Untaten, Freunde und Feinde, sperrte Clinton noch einmal in den Prenzl-Zoo, warf ihn hinaus und begleitet die Mühseligen und Beladenen zum Flaschenpfand. Und im Handumdrehen erhob ungenannt und unbemerkt der unzerstörbarste aller Mythen sein zauseliges Haupt: Früher war alles besser.

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