Wieso sind Bullen Schweine?

Alltag Über das durchaus ambivalente Verhältnis des Menschen zum Schwein. Betrachtungen aus der Sicht eines Ebers

"Wutziwutzi", so fing es ganz harmlos an. Fast liebenswert, diese Leipziger Zahnarzthelferinnen und ihre männlichen Begleiter, vornehmlich aus dem Dentalsektor: "Du Süße!" Und Rosi, die Süße, schüttelte den Schlaf aus dem Speck, trippelte zum Gatter und begann den entzückten Besuchern das Schuhwerk weich zu kauen. "Wutziwutzi!" Dann betrat G., der Mördermetzger, die gekachelte Garage in Glesien, nahe der sächsischen Metropole. Ich roch sofort das Blut an seinen Händen. Rosi merkte nichts, spielte die kleine rosige Sau für die Gäste, bis sie der harte Strahl aus dem Wasserschlauch traf, an die Wand trieb, wo sie sich beleidigt in ein Eck drückte und triefte. Eine der Zahnarzthelferinnen rief: "Ich glaub, ich kann nicht hinschaun!", um darauf näher zu treten und hinzuschaun. Ich musste zusehen. Beinahe wäre es mir einmal gelungen, Rosi zu lieben. Aber man lässt uns nicht zu den Sauen.

Die Mörderzange an die schönen Schläfen gelegt! Der Strom fließt. Rosi erstarrt, ein Lauf zittert noch aus, wie sie da am Flaschenzug hängt und ihr Blut in den Eimer pumpt. G. machte warzige Witze, Rosi klaffte auf, ein Dentist griff tief hinein, ein vor kurzem noch so vergnügtes Rosiauge rollte butterweich über den Estrich. Ein Anästhesist rührte Blut in einem überlieferten Rhythmus. Es wurde geschabt, getrennt, geschnitten, geschnibbelt, gemischt, gewürzt, gekostet, abgefüllt, gekocht. Ihr nehmt alles. Das Händchen voll, das überbleibt, kommt ins Hundefutter. Als der Abend kaum heran war, saß der Wochenendschlachtkurs mit G. am überladenen Tisch und verspeiste Rosi ganz frisch. Edles und Empfindliches blieb, neben ordentlichen Kursgebühren, bei G., die Teilnehmer verbrachten 80 Kilogramm Würste und 30 Liter Wurstsuppe in Thermoskannen nach Leipzig. G. hatte sein Zubrot, eine Marktnische gefunden, seinen regionalen Ruhm gemehrt. Rosi steckt jetzt samt aller Medikamente, die man ihr verabreicht hatte, in der Schlachtkursgruppe. Ich martere mir seither das im Domestizierungsprozess um 30 Prozent geschrumpfte Hirn über der Menschen Wesen.

Es zerreißt dich, wenn die Deinen einerseits plüschig das Bett teilen mit den Menschenferkeln, albern aus allen Reklamen grinsen, als Glücks- und Geldmehrsymbole die Vitrinen schmücken, andererseits zu sprachlichen Zeichen des den Menschen Verabscheuungswürdigsten gerinnen, sie in Massenzucht gequält und dann weggefressen werden. Du begreifst es nicht. Und ich komme zur Einsicht: Die Menschen begreifen es selbst nicht.


Ich verhehle nicht eine gewisse Eberwut. In falscher Schweinchen-Babe-Seligkeit werden wir uns hier nicht ergehen: Nie habe ich folgende Ausführungen der Meinhof vergessen, die - nebenbei - eine Muttersau war, wie mir unter uns keine bekannt geworden: "Das ist ein Problem, und wir sagen natürlich, die Bullen sind Schweine, wir sagen, der Typ in Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch, so haben wir uns mit ihm auseinander zu setzen. Das heißt, wir haben nicht mit ihm zu reden, und es ist falsch, überhaupt mit diesen Leuten zu reden, und natürlich kann geschossen werden." Da fängt es in meinen 70 Prozent unglaublich zu brummen an. Wieso sind Bullen Schweine? Wir gehen uns seit alters her aus dem Weg, weiträumig. Was haben wir überhaupt mit der ganzen Scheiße zu tun? Wieso schleimt anderweitig ein Investor, der gerade dabei ist, im schönsten Templiner Urlaubsgebiet ein neues Schweine-KZ für über 84.000 meiner Artgenossen einzurichten: "Schweine sind wie Menschen". Und was sagt ihr Menschen dann, wenn dort unsere konzentrierte Notdurft, 190.000 Kubikmeter im Jahr, an eurem Grundwasser leckt? "Diese Drecksäue!", werdet ihr sagen.

Eine händeringend um Hilfe bittende Bürgerinitiative "Kontra Industrieschwein Hassleben" hat in ihren Papieren "Kulturverfall" beklagt und vermutet, dass die Art wie ihr mit unseren Brüdern umgeht, sich niederschlagen wird im Umgang der Menschen untereinander. Es könnte aber auch anders herum sein. Doch wo man in die Verrohungsspirale auch einsteigt: Wir Schweine sind angeschissen. Einer unserer wenigen wirklichen Freunde unter euch, Konrad Lorenz, hat im Bezug auf die zunehmend bequemer zu erfüllenden Grundbedürfnisse der Menschen in den Servilgesellschaften, von eurer "Verhausschweinung" gesprochen. Fehlen also auch euch unterdessen 30 Prozent?

Es ist schön, dass in diesen Tagen die nicht verwurstende Wissenschaft sich uns zuwendet, und die unglaubliche Widersprüchlichkeit unserer Existenz im Menschenkopf untersucht. An der TU Berlin hat die Linguistin Prof. Dr. Dagmar Schmauks, Schwerpunkt Semiotik, unsere zeichenhafte Existenz im Menschenhirn fleißig untersucht. Sie hat Redensarten, zusammengesetzte Schweinerein, Zeichnungen, Comics gesammelt, vom Schweineglück bis zum Sausommer, von der Rampensau bis zum Charakterschwein. Die Akademikerin ist bienenfleißig, aber in der Klärung der uns zermürbenden Frage kein Schrittchen weiter kommend. Genötigt behauptet sie gelegentlich, dass die Schweinchenniedlichkeit aus schlechtem Gewissen vor der Massenvernichtung installiert würde, als Verdrängung des massenhaften Todes. Da halt ich dagegen, dass unsere industrielle Zurichtung und Ausweidung noch keine fünf Jahrzehnte auf dem Buckel hat, während unser semantisches Zerreisen zwischen den Extrempolen der menschlichen Gefühlskatastrophen ja wahrscheinlich bis ins Ur zurückreicht. Und überhaupt: Wann lagen denn je schreiender und offener unsere Leichenteile vor aller Augen an jedem Eck? Das wird nichts, Frau Prof.!

Schnell weicht sie auf die Untersuchung der Geschlechterproblematik im Schweinereich in einigen Bilderbücher aus. Auch ich habe gestaunt über die Vielzahl von Schweinchenbüchern für die Menschenferkel. 36 Eintragungen in einer einfachen Kiez-Bibliothek, darunter Schamesröte treibende Titel und zynische Herzlosigkeiten: "Das Schwein beim Friseur", "Wie das Schwein zum Tanzen ging", "Der Opa hat ein Schwein verschluckt", "Vom Glück ein dickes Schwein zu sein", "Schwein bleibt Schwein", "Wohin rennst du, kleines Schwein" ... Oft allerdings sind wir da nur Staffage, höchstens Katalysator eines Menschenproblems, das durch unser wie auch immer geartetes Auftauchen in Bewegung gerät.

Seit etwa 10.000 Jahren, sind wir aus dem Wildschein domestiziert. Die Erinnerung an das, was da an bunter, lockiger Vielfalt verlotterte und weggezüchtet wurde, um die gleichförmigen Boxenluder hinzubekommen, mit Schlappohren das Deutsche veredelte Landschwein (DvL), mit spitzen das Deutsche weiße Edelschwein (DwE), treibt uns Ebern, Tränen in die Augen. Und wenn nun auch Rückzüchtungen für Zoos und Parks und Streichelhorror in Mode sind - der Kenner weiß: Das gibt nicht dasselbe. Wie einst wird es nimmermehr.

Die Arbeiten von Prof. Dr. Schmauks sind übrigens derzeit im Schweinemuseum in Ruhlsdorf / Teltow zu sehen. Das Schweinemuseum, untergebracht in Räumen ehemaliger DDR-Schweine-Forschung, mag für den menschlichen Besucher den alten Atem alten menschlichen Strebens, von alter Bäuerlichkeit verströmen. Für mich bedeutete die Konfrontation Einblick in ein Labor des Grauens.

Es ist auch purer Zynismus, wenn erotische Fachliteratur immer wieder mit dem Schwein, der Sau, aufmacht. Im umfangreichen Standardwerk, "Die raffinierten Sexpraktiken der Tiere" von Oliva Judson, findet sich zu uns Schweinen kein einziges Wort. Und ich erinnere an die erfolgreichen haffmanschen Einhandbücher "Die klassische Sau", in denen wir nicht nur nicht vorkommen, sondern die Schweine-Illustrationen tatsächlich barocke Frauenkörper imaginieren und diese in Stellungen zwingen, die unsere Sauen mit Befremden ablehnen würden. Auch ist es wider Erwarten schwer, nur ein literarisch akzeptables Schweinegedicht zu finden (über den perfekten Schweinebraten indes Tonnen). Einmal mehr muss Jandl ausgegraben werden:

erst sagen wollte ich: geliebtes tier
bei zweitem denken sage ich: beliebtes tier
das schwein ist ein beliebtes tier
lieblich wenn klein
wenn älter mürrisch
jederzeit gut zu essen
der große bogen um den stier
wird um das schwein meist nicht geschlagen
ich bin bewegt von seinem schönen rüssel

Aber ach, auch der Menschen Meister kann sich nicht entscheiden.

Im Lichte des Cultureclashes haben wir Schweine schlechte Karten. Wir leiden unter der Verachtung der Wüstenvölker, denen wir im Gebrösel nicht zu folgen gedachten, deren Nahrungskonkurrent wir im Mangel waren, denen unser Bestehen auf ausreichend Wasser auf die Nerven ging. Wir leiden unter der Verachtung der Nomaden gegenüber den Sesshaft-Werdenden und ihrer Lebensweise, zu der wir gehörten. Es gab Probleme mit ein paar Krankheiten sicher, die haben wir nicht bestellt. Auf der anderen Seite kulminieren geradezu Orgien der Schweinevernichtung: die Massenhysterie zum und beim Verzehr unserer Haxen, jetzt gar im neuen Zentrum Berlins von einer bayerischen Klosterbier-Kette befeuert, wo selbst ein Zahnarzt (ich kann ja nichts dafür!), einen Beitrag zur "Haxendiät" ablieferte, in dem behauptet wurde, dass folgenlos uns der Mensch in sich hineinknuspern könne, er müsse beim Fressen nur genug mit der Nachbarin schäkern und nach Art des Südländers herumgestikulieren. Worauf die Haxen im Dutzend hereingetragen werden, aus dem je Eingeschmorten herausragend der blanke Knochen, jeder wie ein Grabkreuz, mit einem lächerlichen Schleifchen geschändet, schwer erinnernd an das neueste Mahnmal am Checkpoint Charlie. Und dazwischen schenkelschlagend immer wieder: "Ja du Drecksau!", "ja du gscherte Sau!", während die knochenzutzelnden Damen sich gestaltpsychologisch ungeheuer meiner Rosi annähern. Da fiel mir willenlos der Satz von der imposantesten Sportsau dieser Tage zu, Reiner Calmund: "Wer nach oben will, muss Dreck fressen" Aber wir fressen eben keinen Dreck. Wir ergänzen bei Fehlhaltung höchstens unseren Bedarf an Spurenelementen.

Noch eine Frage zuletzt: Wer oder was ist der Schweinehund? Eine ganz unmögliche, widerwärtige Verbindung! Und wer und wo ist der äußere Schweinehund? Und wie und wo kann er und der innere bekämpft werden? Auch hier finden wir bei Frau Professor keine Antwort.


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