Wo ist denn da der Noteingang?

ALLTAG In Gefahr und größter Not bringt der Mittelstand den Tod. Eine lehrreiche Aktion Brandenburger Jugendinitiativen gegen Rassismus und rechte Gewalt

Mit leiser Erheiterung sinkt Steffen Raeder in den Sperrmüllsessel im Jugendzentrum Doste im Städtchen Bernau, nordöstlich von Berlin: "Die Debatten hatten wir hier vor Jahren schon", sagt er, "und ihr Niveau ist auch nicht besser geworden." Den Staat im aufgeflammten Überbietungswettstreit für "härteste Maßnahmen" gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit so zuzurichten, wie ihn die Rechte gerne hätte, scheint ihm jedenfalls keine Lösung. Er hat, mit anderen Jugendlichen zusammen, 1998 eine prima Idee gehabt, der gesellschaftlichen Mitte auf den Zahn zu fühlen, Debatten zu initiieren, die Stimmung in der Kommune zu beeinflussen. 1998, als alles längst auf dem Tisch lag, aber immer noch mit Sprüchen wie "Deutschland ist ein ausländerfreundliches Land" unter denselben gekehrt wurde.

Ende 1997, um in Brandenburger Verhältnisse einzustimmen, tritt der Rektor der "Europa-Universität Viadrina", Frankfurt/Oder, dem in der Grenzstadt immer wieder Studenten mit polnischem Akzent oder dunklerer Hautfarbe weggeklatscht werden, mit einem offenen Brief an die Bevölkerung, in dem er beschwörend um die Existenzgrundlage seiner Anstalt ringt. Die Berliner Ausländerbeauftragte Barbara John berichtet - gerade hatte eine Forsa-Umfrage zu Beginn des 98er Jahres ergeben, dass die Hälfte der Brandenburger rassistische Vorurteile habe - über in Berlin lebende Ausländer: "Man hat einfach Angst vor dem Schritt, sich in den Osten zu begeben ... Man fürchtet sich vor der Autobahnfahrt nach Hannover. Da heißt es, wir achten darauf, dass unser Auto immer vollgetankt ist, wir bringen es vorher zur Werkstatt. Damit es nicht wegen einer Panne liegen bleibt, weil wir Angst haben, in eine unberechenbare Situation zu geraten, wenn wir halten müssen." Es gab bereits eine MEGA, Mobile Einsatzgruppe gegen Gewalt und Ausländerfeindlichkeit, deren Experte Bernd Wagner auf ungezählten Veranstaltungen vom Kampf der Jugend-Szenen um kulturelle Hegemonie in den Käffern des Ostens berichtet, und von den Problemen, die sich ergeben, wenn "linke" Jugendzentren platt gemacht und diffus rechte und merkwürdigen pädagogischen Anwandlungen "akzeptierender Sozialarbeit" finanziell aufgerüstet werden. Und es gab in Eberswalde bereits eine Polizeipräsidentin, die ihre Organisation umstrukturierte und Präventionskräfte auf die Straßen unter die jungen Leute und in die Clubs schickte. Am Rande von Bernau vertrieben rechtsextreme Jugendhorden Berliner Camper, zogen pöbelnd durchs Städtchen, verletzten einen Afrikaner und einen Bernauer, den sie für einen Russen hielten, beschädigten das Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus und verprügelten Vietnamesen. "Wir wollten uns nicht mit diesem Alltag abfinden, wir wollten nicht, dass diese Übergriffe Normalität werden, und wir wollten deutlich machen, dass wir alle eine Verantwortung haben, zu handeln. Dieses waren ausschlaggebende Punkte für uns, ›Aktion Noteingang‹ zu entwickeln". Schreiben rückblickend die Initiatoren.

Die Aktion besteht aus Aufklebern mit einem flüchtigen Piktogramm-Männchen und der Aufschrift "Wir bieten Schutz und Information bei rassistischen und faschistischen Übergriffen!" Öffentliche Einrichtungen, Einzelhändler, Wirte sollen sie sichtbar hinter die Scheiben kleben. Ein praktischer Schritt soll das sein - tatsächlich fanden die meisten Übergriffe zur bekanntlich schlimmsten Zeit, am "helllichten Tage" statt -, aber auch ein Signal in die Stadt, ihre Strömungen und Szenen hinein. Die zuständige Polizeipräsidentin von Eberswalde, Uta Leichsenring, ist heute noch entzückt ob jener Aktion von "Kreativität und großem Fleiß". Fleißig mussten sie sein, die jungen Leute, Geschäft um Geschäft abklappern, reden, überzeugen und zur Beschäftigung mit einem begleitenden Fragebogen ermuntern. Zivilgesellschaft braucht gemeinsinnigen Fleiß.

Würde man vom Bernauer Bahnhofsvorplatz wie von Glatzen verfolgt stadteinwärts rennen, man würde diese Aufkleber zwischen allem, was so auf den Scheiben pappt, in Panik sowieso nicht sehen, so sie nur vereinzelt prangten. Sie prangen aber gar nicht. Nicht beim Döner-Türken, nicht bei der Märkischen Oder-Zeitung, nicht beim Szene-Devotionalien-Verkäufer, nicht beim Kaufhaus, nicht mal beim Eine-Welt-Laden. Bei einer Buchhändlerin soll so ein Kleber geklebt haben, aber sie fühlte sich dann einsam und hat ihn wieder abgekratzt, sagt die Pressesprecherin der Stadt, Eva-Maria Jahns. Dabei hatte sich ein breites Bündnis um die Aktion gesammelt, von Punks bis zu Unterstützern aus den bürgerlichen Parteien, Wohlfahrtsverbänden, Kirchen. Aber der Einzelhändler: resistent. Pech für die Bernauer, dass, anders als später in anderen Gemeinden, der Bürgermeister sich nicht zu positionieren gedachte - "politisch positionieren, das hatten wir im Osten", sagt die Pressesprecherin - und den öffentlichen Einrichtungen untersagte, in Menschenfreundlichkeit zu flaggen. Nicht dass er das Anliegen nicht innerlich irgendwie hätte verstehen können, aber öffentliche Einrichtungen sind für alle da. Und wieso gegen rechte Gewalt? Ist rechte Gewalt schlimmer als Gewalt gegen Frauen, Kinder oder Behinderte? ... Es darf keine Opfer zweiter Klasse geben." So scharfsinnig Bürgermeister Hubert Handke. Dankbar übernahmen die Einzelhändler die Argumentation. "Wo ein jeder um jeden Kunden kämpft, ums Überleben", sagt die Pressesprecherin. "Und hat Angst, dass man sich zur Zielscheibe macht." "Schade", sagt die Polizeipräsidentin, "die Geschäfte liegen doch nicht isoliert. Die liegen am Stück oder Strang, die hätten sich über ihre Einzelhandelskonkurrenz hinweg einmal übergeordnet solidarisieren können und so auch schützen."

Trotzdem breitete sich die "Aktion Noteingang", getragen von örtlichen Jugendinitiativen, in ganz Brandenburg aus: Angermünde, Bad Freienwalde, Eberswalde, Frankfurt/Oder, Fürstenwalde, Kyritz, Neuruppin, Potsdam, Schwedt, Strausberg. Überall da, wo die Stadtregierung positiv reagierte, war es leichter, ein paar Kleber an den Mittelstand zu bringen. Doch was die Bernauer berichten ist typisch: "Schon in der Testphase bemerkten wir, dass Geschäftsleute sehr schnell bereit sind, den Aufkleber anzubringen, wenn die Öffentlichkeit, sprich die Medien, dabei waren. Leider kam es oft vor, dass einige Tage später der Aufkleber an ihrer Tür nicht mehr zu finden war." Kein Ort, wo mehr als ein Dutzend Händler handelten. Die Fragebogen, Motivation oder Demotivation der Bürger der Mitte erkundend, wurden etwa hälftig zurückgegeben. Die Ergebnisse sind, bei dem Unwillen deutscher Menschen, Feigheit zuzugeben, wie bei der politischen Delikatesse der Fragestellung, mit Vorsicht zu genießen. Interessant ist aber festzustellen, dass die Bereitschaft, "sog. Linken" (also Zecken) im Notfall zu helfen, nur noch von der gegenüber "Verarmten unter Drogen" unterboten wird, und noch hinter der für Sinti oder Roma liegt.

"Man darf es nicht nur so sehen", sagt Steffen Raeder. Wir hatten durch die Debatten lange die Themen im Städtchen gesetzt, mit dem Nebeneffekt, dass beispielsweise die Unterschriftenkampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft bei uns nicht öffentlich durchgeführt wurde."

Es ist, als wäre die Zeit stehen geblieben. 1998 in Frankfurt/Oder, der zuständige Bürgermeister im Interview: "Rechtsextremismus, wie er sich hier in der Stadt dargestellt hat, ist nicht nur imageschädigend, er ist auch entwicklungsschädigend." 1995 war es dort zum Brötchenkrieg gekommen: Die vorbildlich blonde Marta Bruns machte einen Laden auf und verkaufte die Brötchen der väterlichen Slubicer Bäckerei für neun Pfennig das Stück zwischen Frankfurts Platte. Bäcker und Handwerkskammer tobten im Verein mit den Rechten, Flugblätter riefen zum totalen Boykott auf. Marta Bruns bekommt deutsche Anrufe. Sie landet im Krankenhaus. Ein halbes Jahr später kann sie wieder eröffnen. Das "Imageproblem" macht es möglich. Und heute? "Utopia", heißt schon beinahe kühn der Jugendclub, der die Aktion "Noteingang" in Frankfurt/Oder trägt. Monate-, fast jahrelang die landesübliche tote Hose. Aber plötzlich, die Bernauer hatten die "Noteingang"-Akten bereits geschlossen und sich auf Opferberatung und Versuche konzentriert, die Geschlagenen aus der Isolation zu holen, plötzlich in den letzten Wochen: Wellenreiten in Frankfurt/Oder. Ein wahrer "Noteingang"-Boom: Die städtische "Wohnungswirtschaft", die Stadtwerke, das BIC (ein Industriepark), Brandenburger Messe, Sparkasse, Deutsche Bank, IHK und das Institut für Halbleiterphysik reichen sich gegenseitig den "Noteingang"-Staffelstab weiter. Seit 24. 08. kleben die Schildchen nun auch auf Bussen und Bahnen. Nur beim Mittelstand noch Zagen. Die Pressesprecherin der Wohnungswirtschaft GmbH Elke Richel: "Wir mussten einfach was tun. Ausländische Investoren springen reihenweise ab. Die Wirtschaft muss jetzt ein Zeichen setzen." Verständlich bei gerade 15 Greencards, die in Berlin/Brandenburg bisher an den Inder gebracht werden konnten.

Auch wenn der Frankfurter Boom so charmante Nebeneffekte wie Gewalthandling-Schulung für Hauswarte zeitigt: Es bleibt doch prekär, Zivilgesellschaft aus den wechselnden Problemlagen des Kapitalverwertungsprozesses stricken zu wollen. "Es gibt ein großes Problem gegenwärtig", sagt die Polizeipräsidentin, "die Zeit ist nicht günstig. Die Gesellschaft ...", und dann führt sie, alle Seiten beleuchtend, aus, dass da eine tiefe Kluft ist zwischen dem, was an Charaktereigenschaften für den neo-darwinistischen, globalen Wirtschaftszirkus verlangt und propagiert wird und dem, was wir an Eigenschaften fürs eigene Leben bräuchten, in den Familien und Kommunen. "Wie soll diese Kluft überbrückt werden?" Wo viele im Osten noch in alten Klüften bodenlos zappeln? Schlechte Zeiten für ein einfaches: Das tut doch weh. Mensch, komm her.

Anfang September wurde die Aktion "Noteingang" im fernen Aachen mit dem "Aachener Friedenspreis" eines gleichnamigen e.V. ausgezeichnet.

Kontakt: Antirassistisches Jugendbündnis AKTION NOTEINGANG Breitscheidstraße 41, 16321 Bernau

Tel.und Fax: 03338/459407

e-mail: noteingang@djb-ev.de

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