Wo Sparen wirklich teuer wird

Rumpelpumpel Berliner Schülerclubs auf der Kippe

Die Idee kam aus dem Osten. 1991/92 hatten zwei Schulen in Berlin-Hellersdorf die Zusammenarbeit mit dem freien Jugendhilfeträger RAA (Regionale Arbeitsstelle für Ausländerfragen, Jugendarbeit und Schule e.V.), "eine Art Dienstleistungsagentur zur Entwicklung von Zivilgesellschaft vor Ort", gesucht. Teils standen die Schüler fröstelnd zwischen der Platte, teils hatten sie begonnen, die "Zivilgesellschaft vor Ort" zu zerlegen. Einerseits ratlos die Lehrer, die ihre prallvollen Wissenshöschen nicht mehr in die verschlossenen Schülerblüten zu entleeren vermochten, und die auf Stressabwehr bedachten Eltern, andererseits hatten sich die "Arbeitsstellen" in der Auseinandersetzung mit jugendlichem Rechtsvandalismus schon einen gewissen Namen gemacht. In dieser Zusammenarbeit "erfand" die RAA die eigenständigen "Schülerclubs", deren segensreiche und exemplarische Arbeit in Hellersdorf angesichts der Zustände in den Neuen Bundesländern nach Expansion schrie.

Damit im Kampf freier Träger um freie Mittel da wo "Schülerclub" draufsteht hinterher auch einer drin ist, fixierte die RAA Standards: Das Leben soll in die Schule geholt werden, die Schule demselben geöffnet, die Kommunikation unter allen Schulopfern - Lehrer, Schüler, Eltern, Anrainer - entwickelt werden, durch Stärkung des Selbstbewusstseins der Schüler bei tätigem Erfolg die Stimme der Schüler so gestärkt werden, dass sie im Kommunikationskonzert auch gehört wird. Dazu sämtliche Künste, plus interkulturelle Arbeit, plus schulübergreifende Kooperationen, plus Jungnaziprävention, plus Kuschelecke und Chilloutcorner und natürlich kochen, kochen, kochen ( je mehr die Mütter versagen, dem ein Väterversagen vorauseilt, desto intensiver). Dazwischen hüpft der Clubleiter, schwebt die Clubleiterin von Stockwerk zu Stockwerk und bläst alle Wunden heil.


Gunnar Ortlepp kommt mit seinen 36 Jahren daher wie der Pate des Schwarzen Blocks. Im Schädelbereich seitlich kurz, hinten mit Schwanz. Um die Füße, an den festen Waden aufplatzende, hohe Doc Martens mit Schuhbändeln in roter Signalfarbe. Der Mann kommt gut, hier in der Kurt-Schwitters-Oberschule mit gymnasialer Oberstufe im Prenzlauer Berg. Gestern Nacht hat er wieder einige seiner Schätze, die im Mauerpark herummaunzten, aus der Polizeiwache geholt. Der Mann kommt anscheinend überall gut: 1999 erhielt er den 2. Ehrenpreis der Berliner Jugend- und Familienstiftung. 2003 gewann die Schule - nicht zuletzt dank der Clubarbeit von Ortlepp - den 3. Platz in "Schulklima". Bundesweit. Ortlepp, Sozialarbeiter, war einer der ersten Clubleiter aus dem Hellersdorfer Expansionsgedanken. Seit 1994 arbeitet er hier, mit seinem von der RAA getragenen Projekt, vorbildhaft und modellgetreu. So kann guten Gewissens gesprochen werden. Die Zusammenarbeit zwischen Schule und Club wird über die Grenzen des Unternehmens hinaus gelobt. In Konfliktforschung wie -schlichtung ist Ortlepp möglicherweise ein Naturtalent. Entgegen kommt ihm mit der gymnasialen Oberstrufe ein Nachwuchs- und Interessenpool, der nicht in allen Clubs vorrätig ist. Dazu haben sie sich einen alten Schuppen auf dem Hof, außerhalb der hausmeisterlichen Schließwut ausgebaut, der dem Club bei stufengerechtem Schichtwechsel der Benutzer bis in die Nacht zur Verfügung steht. Neben den üblichen Jugenddisziplinen (Billard, Kicker, Paarbildung, Musik ) finden hier Politikergespräche, Filmabende, Lesungen statt. Höhepunkte des Jahres sind das vorpfingstliche "Schwitters Open Air" und zwei Reisen mit je 20 Cluberern nach Le Domaine de Mayne in Südfrankreich, woher auch ein leuchtendes Beispiel von heute seltenstem Lehrerengagement aufscheint: Lehrer begleiten in den Ferien ihre natürlichen Feinde und zahlen auch noch selbst dafür. Veranstaltungen wie Räumlichkeiten des Clubs werden von anderen Jugendlichen des Kiezes genutzt. Eine afrikanisierende Trommeltruppe setzt sich aus drei aktuellen und acht ehemaligen Schwitteranern zusammen: generationenübergreifend. Gegenwärtig arbeitet man an dem Einstieg in das "Schule gegen Rassismus"- Programm.

"Gunnars innovativen Impulse, seine Aufgeschlossenheit und sein Bestreben nach gewaltfreier Konfliktlösung, Toleranz und gegenseitigem Verrauen ist immer wieder beispielhaft", schreibt grammatikalisch etwas fragwürdig "Die Kurt Schwitters Oberschule". "Er ist halt einer, der Kultur in die Schule gebracht hat", sagt Martina, die Ex-Schülersprecherin.

Seit ein paar Tagen hält Ortlepp seine Kündigung in Händen. Zum 30. April könnte es hier vorbei sein.


Es gab 1994 in Berlin eine Art jugendpolitischen Notaufschwung. Das Programm "Jugend mit Zukunft" des Berliner Senats wurde aufgelegt. Es gründete sich die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) unter der Führung des Traumpaares Christina Rau und Lothar Späth, die in den ersten drei Jahren viereinhalb Millionen in das Senatsprogramm butterte (alles mit mehr als einem Auge auf die Verlumpungstendenzen im Osten). Die Schülerclubs waren ein Gewinner der Anstrengungen. In erster und originärer ressortübergreifender Zusammenarbeit zwischen Jugend- und Schulbhörde und unter Anfeuerung der RAA entstanden derer 60 in mancherlei Trägerschaft. Zehn Clubs entwickelte die RAA. Einige gab sie ab. Nach einer Evaluierung blieben 42 Schülerclubs, sieben getragen vom "Erfinder". Nebenbei: Sie mäanderten durch alle Neuen Bundesländer. Selbst in den Alten erwuchsen Stützpunkte (NRW), und dortselbst wird gerade von der DJKS versucht, Clubs angereichert mit Westerwelle-Denken, also Schülerfirmen, ins Herz arbeitsloser Erziehungsberechtigter zu senken.

Die Konstruktion von Trägerschaft, Geldverteilungsstelle, Senatsfinanzen und Lottoglück macht Folgendes nicht ganz durchsichtig: Die DKJS verteilt die Kohle an die Träger. Die DKJS bekommt die Kohle vom Senat. Der Senat setzt hauptsächlich, wenn nicht gänzlich, Lottomittel dafür ein. Lottomittel sind Lottermittel. Der Senat braucht nach dem Urteil zu seinem Haushalt alle Mittel. Die neuerlichen Sparausschabungen im Jugendetat machen ungefähr das aus, was die Schülerclubs kosten:1,2 Millionen. Rumpelpumpel?


Anette Becker, heute in einer Art folklorisierendem Torerokostüm, ist Quereinsteigerin. Erst hat sie gemalt, dann Kampfkünste gelernt, sinnvoll Shiatsu hinterher (eine japanische Heilkunst). So zirkelte sie sich als Kursleiterin in diverse Schulen, bis ihr die Leitung eines Schülerclubs angetragen wurde, nach dessen fusionsbedingtem Hinscheiden die neue Schulleiterin der Heinz-Brandt-Oberschule (Weißensee) zugriff und ihn samt Anette Becker in ihre Hauptschule implantierte.

Während in den ersten Jahren ihrer Tätigkeit jugendtypische Vergnügen plus Kunst plus Kochen dominierten, haben sich Anette Becker und ihr Club nun dem Thema "Schulveränderung", wir könnten auch sagen "Zivilisierung", zugewandt. So eine Hauptschule ist kein smarter Gymnasiastentreff. Benehmen wie Hund. Nestflüchter. Rumtreiber. Diebe. Rechte. Kinderschwangerschaften. Wenn da drüben in der gymnasialen Oberstufe vielleicht zwei pro Klasse Betreuungs- oder Kompressenbedarf haben, dann hier gegen 50 Prozent. Als ein Hauptthema, von den Schülern gewünscht, vom Club entfaltet, hat sich das "Mobbing" herauskristallisiert. Mit dem Club wird jetzt "Peerleader"-Schulung, Peerleader-Arbeit betrieben, damit Schüler den Schülern Wege weisen und Interessenseinläufe verpassen. Und dieses Peerleader-Training wurde, nur um ein Beispiel zu geben, in Zusammenarbeit mit einer Schule weit im Westen der Stadt organisiert, wo normalerweise schon deswegen keiner hinfährt, weil da die Türken sind. Im Westen. Aus den ersten Erfolgen des Peerleadings erwächst jetzt der Wunsch nach einer Mediationsgruppe. Eine Schülerzeitung wurde ins Netz gestellt. Die Cafeteria, wo ein Caterer das Handtuch warf, wird man demnächst als eine Vorform von Schülerfirma bespielen, zumal der kinderfreundliche Bäcker, der vom Vortag Billiges abgab, verschwunden ist, und um sieben die Unversorgten vor der Schultür schlottern.

Und etwas ist anders in der Hauptschule. Wer erst mal nach Hause gegangen ist, der kommt nicht wieder. Nicht nur, weil vielleicht der Antrieb fehlt, sondern weil die alleinerziehende Mutter eine helfende Hand braucht, oder der Heimgänger selbst einen neuen Markenslip, und deshalb jobbt. Deshalb ist hier nur bis 16 Uhr. Der Schülerclub ist die Welt zwischen Schule und dem Zuhause, in der Regeln probiert, Leben gelernt, soziales Verhalten geübt werden. Aber wie gut es im Einzelnen laufen mag: Ohne dass immer wieder angestoßen, aufgefordert, gefordert würde, verläpperte alles wohl bald.

"Anette hat es einfach drauf, sie kommt super an", sagt Schulsprecher Danilo. "Mit Anette zu arbeiten, macht Spaß. Sie ist zu einer guten Bekannten, fast schon Freundin geworden. Ohne sie und den Schülerclub würde hier einiges aus dem Ruder laufen."

Anette Becker hält seit einigen Tagen ihre Kündigung in Händen. Am 30. April könnte es hier vorbei sein.


Allen Schülerclubleitern wurde "vorsorglich" gekündigt. Diese Art Vorsorge überlässt die DJKS vorsorglich den Trägern. Die bekommen ab 30. April kein Geld mehr, das vorsorglich der Senat zurückhält, siehe Berliner Haushalt, siehe Lotto.

Zuerst war überlegt worden, Schülerclubs nur noch an Grundschulen zu finanzieren. Nun ist aber doch eine "Gesamtevaluierung" in Gang gesetzt. Mit ungewissem Ausgang. Und ungewisser Absicht. Da setzt dann Vorsorge ein. Im ersten Evaluierungsschritt soll, so wird berichtet, eine ungewisse Zahl von Clubs bleiben, die bis zum Schuljahresende bezahlt werden. Im zweiten Schritt eine, die bis zum Jahresende weitermachen kann. Aber vorsorglich ... Und dann geht alles von vorne los. Wenn noch etwas los geht. Irgendwo sitzt eine geheime Evaluierungsfachfrau und evaluiert auf Grundlage der von den Clubleitern verfassten Selbsteinschätzungen. Die den obligatorischen jährlichen Berichten auffallend gleichen dürften. "Wenn alle super sind, haben wir ein Problem. Dann müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen", lächelt es aus den Tiefen der DKJS. Evaluieren ist eigentlich etwas anderes. Doch das nur am Rand. Aber selbst wenn alles so liefe, was passiert in der Zwischenzeit mit den Clubleitern, die schon seit zehn Jahren auf BAT V B dahinkrautern? Und was hat eine derartige Demonstration für Auswirkungen auf den Zivilisierungsprozess? Das wird teuer, meint Gunnar Ortlepp. Nach spätestens zwei Jahren hat allein die zusätzliche Erziehungsarbeit der Polizei aufgefressen, was jetzt gespart wird.

Kommt man in die Heinz-Brandt-Oberschule rein, merkt man gleich, dass hier ortsfremder Geist, gar unruhiger, sich festgesetzt hat. An den Wänden alter Pflasterstrand mit Artikeln zu dem mehrfachdissidenten, schwerverfolgten Namensgeber. Im Zimmer der Rektorin Onkel Mao im Warholschen Raster. Wir lassen unsere Frau Becker nimmer ziehen, so sinngemäß Rektorin Karla Werkentin. Die gleich zu Beginn ihrer Tätigkeit (1996) den faschistoiden Wichs nicht weniger Schüler zu zivilen Klamotten wandelte. "Vor 30 Jahren hätte ich das nie gesagt: Es kommt auf die Personen an", sagt sie und scheint etwas Verzeihung heischend über die Schulter nach dem Großen Steuermann zu schielen. Also auf ihr Zusammenspiel, ihren Austausch, ihre Zupackenskraft. Das neue Berliner Schulgesetz würde sie gnadenlos nölend ausschlecken bis zum Letzen und die neue "Autonomie" dazu nutzen, Lehrerstunden dem Schülerclub umzuwidmen. Wir murmeln ein bisschen davon, dass nach diesem Gesetz wie nach Pisa, diese Clubs geradezu Modellcharakter für innovative Schule und Ganzkörperbetreuung wildwuchernder Loosergenerationen hätten, und im Hinblick auf die Ganztagsschule schon ganz und gar unverständlich das Rütteln an ihnen wird.

Das deutsche Schulsystem mit den Diskriminierungen der Dreiteilung, die wahnsinnigen Defizite, die wir aufarbeiten sollen. Stimmt.

Die Eltern können nicht. Oder wollen nicht. Stimmt.

Die Kinder können sich nicht benehmen. Stimmt.

Die Kinder wissen nichts. Stimmt.

Wissen sollen wir auch vermitteln. Stimmt

Das können wir nicht alles in einer Halbtagsschule organisieren.

Zumal wir zunehmend nur noch Akquisiteure von Geld- und Sachmitteln für jeden Scheiß in der Schule sind.

So eine saloppe Übersetzung der pädagogischen Verbrämungen der Leiterin.

"Wir brauchen Ganztagsschule und Schülerclub!"

Gerne spricht man in Fachkreisen von einer sich abzeichnenden Katastrophe.


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