Der Mann kann mit Genugtuung auf eine politische Bilderbuchkarriere zurückblicken. In seinen nunmehr schon 64 Lebensjahren hat er nahezu all das erreicht, von dem die Liebhaber der Götze Macht als junge Menschen träumen. Bundestagsabgeordneter, Parlamentarischer Geschäftsführer, Chef des Kanzleramtes, Fraktionsvorsitzender, Innenminister. Nur einer konnte noch besser pokern. Sein alter Chef und Förderer Helmut Kohl vermasselte ihm die Erfüllung seines größten Traums: Kanzler ist Wolfgang Schäuble nicht geworden.
Seit über vier Jahrzehnten kennt er all die Schliche und Rituale, die nötig sind, um sich im Dickicht der Parteien und Parlamente durchzusetzen. Studierter und promovierter Jurist ist er, aber das bürgerliche Berufsleben - braver Beamter im Finanzministerium, Steuerberater wie der Vater oder Rechtsanwalt - hat ihn wohl nie so richtig gelockt. Seine Leidenschaft ist seit Jünglingstagen die Politik. Ring Christlich Demokratischer Studenten, Junge Union, CDU - das war und ist seine wirkliche Lebenswelt. Die professionellen Beobachter der Zeitenläufe haben dafür die Bezeichnung "Berufspolitiker" geprägt. Und die Klugen unter ihnen ahnen, welche menschlichen Defizite, welche gesellschaftliche Wirklichkeitsferne eine solche Lebensrolle in der Regel mit sich bringt.
Der Schwabe Schäuble gehört seit langem zu den wirklich Einflussreichen in der politischen Klasse der Republik. Dass dieses Leben im Jahre 1991 von einer persönlichen Tragödie heimgesucht wird, sieht der Zuschauer aktueller Fernsehnachrichten allabendlich auf den ersten Blick: Wolfgang Schäuble sitzt im Rollstuhl.
Dieser gewaltsame Einbruch in seine persönliche Existenz hat sein privates Leben zweifellos tief verändert. Aber von welch einem besonderen Exemplar des homo politicus hier die Rede ist, beweist, wie wenig das Attentat eines Schizophrenen seine öffentliche Rolle verändert hat. Denn Schäuble ist ein Machtverliebter, ein Mitmischer, ein politischer Selbstdarsteller geblieben. Die Wangenknochen treten stärker hervor, wenn die Fernseh-Scheinwerfer aufleuchten, als in den Jahren vor den drei verhängnisvollen Schüssen in der Gaststätte Brauerei Bruder - der Blick ist härter geworden. Aber das Spiel um Einfluss und Öffentlichkeit hat ihn nicht losgelassen.
Als Innenminister nun erst recht nicht. In dieser Rolle hat ihn der Sicherheitswahn allerdings nicht weniger heimgesucht als die meisten seiner illustren Vorgänger. So wusste der Oberpfälzer Hermann Höcherl schon 1963 einen der vielen Abhörskandale der Bonner Republik besonders humorvoll zu decken. Seine fleißigen Verfassungsschützer - so klagte der CSU-Innenminister - könnten bei ihrer aufopferungsvollen Arbeit für Volk und Vaterland das Grundgesetz schließlich nicht ständig unter dem Arm mit sich herumschleppen. Einen seiner Nachfolger, Friedrich Zimmermann, nannten der freche Volksmund und einige besonders gemeine Medien symbolträchtig Friedrich "Schwurfinger". Der spätere oberste bundesdeutsche Verfassungsschützer hatte 1960 in einer Spielbankaffäre einen glatten Meineid geschworen. Ein medizinisches Gutachten machte damals klar, dass der Mann bei dieser Straftat nicht so ganz bei Sinnen war. Zum Glück schließt ein solches Schicksal in Deutschland nicht aus, dass man trotzdem eine Spitzenrolle auf der politischen Bühne spielen kann.
Bleiben wir gerecht. Von Innenministern wie Gustav Heinemann - der hatte 1950 gar den Mut, Adenauers Wiederbewaffnungspolitik mit Kabinettsrücktritt zur quittieren - oder dem Freien Demokraten Gerhart Baum gibt es nichts Arges zu vermelden. Auch sein Parteifreund Werner Maihofer, der 1978 zurücktrat, war ein Verfechter liberaler Grundwerte.
Aber spätestens seit Otto Schily seine Vergangenheit als RAF-Anwalt und Grüner innerlich dementierte, ist die Welt im Innenministerium wieder in Ordnung. Gerhard Schröders bester Mann wusste uns beredt klar zu machen, wie viel Gefahr durch Menschenuntat den deutschen Staatsbürger an jeder Straßenecke bedroht. Seine Botschaft blieb schlicht und durchschlagend: Vertrauen ist nicht gut, und grundgesetzlich genau begrenzte Kontrolle ist auch nicht besser. Da sollte mehr geschehen. Im Menschen schlummert per se das Böse, sagte Otto Schily Abend für Abend in der Tagesschau, und weil das so ist, bevölkert die Welt eine Unzahl noch zu enttarnender Verbrecher, Terroristen und Steine werfender Demonstranten. Die eigenen Untertanen und die vielen Reisenden, die ins Land wollen, müssen beobachtet, gefilmt, passsicher gemacht werden, sonst flippen sie aus. Ein Western-Sheriff war er, wie ihn John Waynes Drehbuchschreiber nicht schöner hätten zeichnen können.
Wolfgang Schäuble mausert sich da längst zum würdigen Nachfolger des Sozialdemokraten. Schon Schily hatte uns unter seinen vielen grundgesetzlichen Taschenspielertricks auch gezeigt, wie großartig die neuen Technologien uns Staatsbürger immer besser und schneller erkennbar, verfolgbar, bis ins Privateste haftbar machen können. George Orwells Big Brother, einst Horrorfigur jedes aufrechten Demokraten, verkümmerte schon damals zum zahnlosen Zwerglein.
Wolfgang Schäuble aber weiß, was für ein Dilettant dieser Otto Schily in Wirklichkeit war. Er entdeckt inzwischen neue herrliche Zukunftsperspektiven: die Schnüffelei an Geschäfts- und Privattelefonen und in den Internet-Mails. Die Bundeswehr als Verbrechensaufklärerin in deutschen Bahnhöfen und Schützerin der Atomindustrie. Tieffliegende Tornados zur Einschüchterung von Demonstranten, die einfach keine Lust haben, jede Regierungsentscheidung mit Jubelchören zu begleiten. Am besten jeden in Haft nehmen, der nicht auf der Stelle nachweisen kann, dass er die Regierung liebt und Hilfe schwört, wenn es gilt, alle Feinde Brandenburgs in den Staub zu werfen. Und weil der liebe Gott gut zu den deutschen Innenministern ist, schickte er ihnen endlich die radikalen Islamisten auf die Erde.
So treten wir in das Zeitalter ein, in dem den Minister und die Herren des Bundeskriminalamtes oder der diversen Nachrichten- und Geheimdienste nichts mehr vom totalen Sicherheitskrieg abhalten kann. Die braven Jungens von der Bundeswehr verteidigen unsere Freiheit am Hindukusch (in der Realität wohl mehr die Freiheit der Drogenhändler, der einheimischen Söldnerführer und der internationalen Ölkonzerne), während Schäuble sie an der Heimatfront nicht verkommen lässt. Jede Woche das neueste Terror-Bulletin aus dem Innenministerium. Am liebsten persönlich vor der Fernsehkamera vom Chefkoch selbst verkündet. Seine Erkenntnisse stammen übrigens aus erster Quelle. August Henning heißt sein Staatssekretär. Und der war einmal Chef des Bundesnachrichtendienstes.
Also eine kleine Auswahl aus jüngeren Zeiten: In Heiligendamm, so erklärte Schäuble in den Monaten vor dem G 8-Gipfel, drohe der lang erwartete Bürgerkrieg. Anhänger des Schwarzen Blocks waren zunächst verblüfft, wie stark sie der verhasste Staat einschätzte. Das machte ihnen richtig Mut, und sie gingen noch froher auf die Reise an die deutsche Ostsee. Al Qaida schickt Selbstmörder ins schöne heile Deutschland, ließ das Bundeskriminalamt (BKA) vor wenigen Tagen vermelden. Ein Video - dessen Herkunft und dessen Aussagekraft im Dunkeln bleiben - soll das beweisen. Bitte keine verantwortungslosen Nachfragen, wir wissen doch: New York, 11. September 2001, Madrid, 11. März 2004, London, 7. Juli 2005, Kofferbomben in Köln. Terrornester in Hamburg. In unseren Städten - brandneue Geheimdiensterkenntnis - leben Millionen Muslime. Zumindest im Sinne notwendiger Gefahrenabwehr ist davon auszugehen, dass unzählige von ihnen längst die gefährlichen Bomben im eigenen Hochhauskeller basteln.
Das Ministerium spricht, und der Bürger durchlebt Schreckensvisionen. Irak liegt in Deutschland. Wenn die abendlichen Nachrichten Bilder aus den mit Toten und Verletzten übersäten Straßen Bagdads ausstrahlen, denkt der Deutsche an Berlin, München oder Frankfurt. Wir sind umzingelt von den Mächten des Bösen. Das Grundgesetz ist für den Schulunterricht, die Wirklichkeit - leider, leider - ist ganz anders.
Genug der Ironie. Die wöchentlichen Schauermärchen aus dem Innenministerium und den ihm untergeordneten Sicherheitsbehörden nehmen längst Dimensionen an, die selbst einem erfahrenen Satiriker nicht einfallen würden. Schäuble und der deutsche Konservatismus schützen das Grundgesetz zu Tode. Niemand wird angesichts der Terroraktivitäten von al Qaida die Sicherheitslage in den westlichen Industrienationen verniedlichen wollen. Das wäre nicht nur verantwortungslos, sondern schlichtweg dumm. Aber Schäuble und Co. betreiben nicht nüchterne Sicherheitspolitik, sondern bewusste Panikmache. Der Terror wird von ihnen politisch instrumentalisiert. Mit dem Ruf nach mehr Sicherheitsgesetzen trampeln sie langsam die Freiheit zu Tode, die sie vorgeben zu verteidigen.
Fällt der Blick auf die letzten 250 Jahre westeuropäischer Geschichte, lässt sich rasch erkennen, dass es um Grundsätzliches geht. Denn dem europäischen, nicht zuletzt dem deutschen Konservatismus hat das, was die Revolutionen des 18. Jahrhunderts in Amerika und Frankreich politisch auslösten, und was seit den Tagen der französischen Enzyklopädisten um Rousseau, Voltaire und Diderot unter der Flagge der Aufklärung segelte, nie gepasst. Die Revolutionen von 1830 oder 1848, der Demokratisierungsversuch von Weimar - wo immer es um die demokratische Freiheit ging, ließen die Konservativen schießen. Vom Habsburg-Feldherrn Radetzky (1848) bis zum Reichswehrchef Hans von Seekt (1923), von Gustav Noske (1919) bis zu Walter Ulbricht (1953). Wen diese bunte Reihe verblüfft, der sei daran erinnert, dass konservatives, antidemokratisches Denken in nahezu allen politischen Parteien ihre starken Vertreter hat.
Auch die konservativen Eliten der alten Bundesrepublik taten sich schwer damit zu akzeptieren, dass Demokratie Volksherrschaft meint und Aufklärung gesellschaftliche und individuelle Selbstbestimmung. Ihre tiefe Abscheu gegenüber den rebellierenden Studenten von 1968 und der ihr folgenden Kulturrevolution - deren Fragezeichen in diesem Zusammenhang nicht zur Debatte stehen - findet seine Wurzeln in dem Unvermögen, unter Demokratie mehr zu verstehen als formale Wahlrituale. Von der alten DDR muss da nicht geredet werden. Ulbricht, Honecker oder Mielke waren in ihrem tiefen Misstrauen gegenüber dem eigenen Volk selbst von einem Konrad Adenauer nicht zu schlagen.
Die derzeitige Diskussion um die Sicherheitslage steht also ganz in der Tradition deutscher Politik. Wer sich bedroht fühlt, sucht nach einem starken Beschützer. In solchen historischen Augenblicken schlägt die Stunde der Grundrechte-Verkürzer. Ein Politprofi vom Kaliber Schäubles weiß fraglos um solche massenpsychologischen Phänomene. Er nutzt sie.
Wer es nicht glaubt, wer dahinter düstere Verschwörungsthesen vermutet, der blicke auf zwei große westliche Demokratien, auf das nicht enden wollende Sterben in Irak und die wachsende Verstrickung der NATO-Soldaten in Afghanistan. Die immer noch amtierenden Regierungen in Washington und London haben nicht nur die Welt, sondern auch ihre eigenen Völker bewusst belogen, um deren Zustimmung zur Auslösung eines Krieges zu erschleichen. Welche Freiheit wird da eigentlich noch verteidigt? Was sind angebliche Geheimdienstberichte über drohende Terroranschläge, von denen Politiker düster raunen, angesichts der Lügen von Ex-Außenminister Powell vor dem UN-Sicherheitsrat im Februar 2003, kurz vor der Irak-Intervention, wirklich wert? Wir müssen nicht nur gegenüber potenziellen Selbstmordattentätern wachsam bleiben.
Der Autor ist ehemaliger Chefredakteur des Hessischen Rundfunks.
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