Der demokratische Eigenbrötler

Schnauze Helmut Schmidt ist ein bedeutender Staatsmann. Die Gabe des Schweigens ist ihm aber nicht gegeben. Anmerkungen zu seinem 90. Geburtstag am 23. Dezember

Was wäre der Ruhm der Großen, wenn er sich nicht durch die zahllosen Legenden, die sie umranken, am Leben erhielte. Das gilt für Preußens Friedrich II. und Napoleon nicht weniger als für den Reichseiniger Otto von Bismarck oder den Gründungskanzler Konrad Adenauer. Zu Lebzeiten umstritten, verteufelt oder bewundert, verklärt sich für die Spät- und Nachgeborenen ihr Bild in einer Fülle anekdotischer Berichte und Geschichten. Von Helmut Schmidt, dem fünften Kanzler der Bundesrepublik, erzählen die Biographen, er habe einst als Student seinen Hochschullehrern hochmütig erklärt, er verzichte auf eine Promotion, weil ihm der Doktortitel honoris causa später ohnehin verliehen werde. Mit Sicherheit fiel dieser Satz im wirklichen Leben nie, aber Schmidt hat in seinen späteren Jahren ein Dutzend Ehrendoktorwürden einheimsen können. Hans-Joachim Noack schildert in seiner Biographie eine andere Szene, die im Bonner Kanzleramt stattgefunden haben soll. Der damalige Juso-Chef Gerhard Schröder betritt das Arbeitszimmer Schmidts und erlebt einen Kanzler, der seine Gesprächspartner am Telefon Carter und Breschnew laut anbrüllt. "Dass man diesen Arschlöchern immer die Welt erklären muss!, entschuldigt sich der sichtbar genervte Kanzler bei dem wartenden Besucher.

Anekdoten erzählen oft mehr über einen Menschen als biographische Fakten. Helmut Schmidt, der Arrogante und Eitle, der Besserwisser und Grobredner, "Schmidt-Schnauze" eben - das alles ist dieser Kanzler, der die Bundesrepublik von 1974 bis 1982 regiert hat, während seiner aktiven Politikerjahre gewesen. Der seit einem Vierteljahrhundert rastlos über die Welt und ihre Wirrungen redende und schreibende Pensionär Schmidt hat davon nur wenig abgelegt. Aber auch das ist er in den Jahren der Macht gewesen: Ein begnadeter Debattenredner, ein intelligenter Denker und ein kühler Stratege, dem die Großen der Welt mit Hochachtung zuhörten, wenn er ihnen den Lauf der Dinge erklärte.

Helmut Schmidt, der Norddeutsche mit der Prinz-Heinrich-Mütze, spricht bei seinen öffentlichen Auftritten und in seinen zu Bestsellern geratenen Bücher eigentlich ununterbrochen über sich. Aber wie es in diesem monomanischen Anbeter der Macht in seinen Tiefen wirklich aussieht, das bleibt seinen Zuhörern und Lesern trotz aller Wortkaskaden weitgehend verschlossen. Häufig gebraucht er Worte wie "Pflicht" und "Verantwortung". Das klingt bei ihm immer ein wenig protestantisch und gespreizt, aber damit schützt sich einer vor sich selbst, der weiß, dass die Politik nicht immer den Forderungen der Bergpredigt genügen kann. Er weist gerne und häufig auf seine Lektüre hin, die Marc Aurel, Immanuel Kant und Karl Popper favorisiert. Da will ein "Macher" zeigen, dass sehr wohl auch Stoiker und Philosophen sein Denken begleiten.

Wenn er sich ärgert, greift er rasch zu grobschlächtigen Vokabeln, und in den mittleren Lebensjahren war sein Raubtierlächeln berüchtigt, wenn er am Rednerpult des Bundestages Angriffe auf seine Person abwehrte. Sein Gegner zu sein, ist keine angenehme Sache, wie es die Kritiker der Aufrüstung und die ökologischen Grünen, die linken Sozialdemokraten und die ihm nicht genehmen Journalisten erfahren mussten. Aber auch Ex-US-Präsident Jimmy Carter - "ein Schimmerlos von Anfang bis zum Ende" - oder seinen innerparteilichen Widerpart Erhard Eppler, kann er noch im neunten Lebensjahrzehnt mit Häme und Rechthaberei heimsuchen.

Uns alle prägen die Jugendjahre. Bei Schmidt heißt das privat: ein solides, kleinbürgerliches Familienleben. Der Großvater - Schmidts Vater ist sein unehelicher Sohn - ist ein jüdischer Bankier, was der Enkel erst später erfährt. Er wächst mit der demokratischen und sozialen Verelendung Weimars und im Dritten Reich auf. Er hat in diesen Jahren nach eigenen Aussagen die öffentlichen Dinge nicht im Übermaß reflektiert, war dabei, als Lagerfeuer, Trommelwirbel und körperlicher Ehrgeiz die Forderung der Stunde waren. Als Hitler begann, die Welt in Brand zu setzen, wurde Schmidt Wehrmachtsoffizier - wie es scheint ohne großes Wenn und Aber. Am Ende ist er Oberleutnant und die militärische Hauruck-Sprache hat er in seinem Politikerleben nie so ganz verloren. Ein Patriot: damals, später und heute. Das ehrt ihn, aber kann auch fragwürdig werden, wenn es zu oft und zu laut verkündet wird.

Ein tadelloser Demokrat ist Helmut Schmidt, und daran sollte niemand zweifeln. Er geht zur SPD, weil er die deutsche Geschichte nicht verdrängt und Gerechtigkeit für ihn kein Fremdwort ist. Frech und begabt - der politische Start in Hamburg wird zur Erfolgsgeschichte. Seit 1953 sitzt er im Bundestag. Es folgt ein schwindelerregender Aufstieg: Schmidt macht sich als Debattenredner rasch einen Namen, wird 1966 Fraktionsvorsitzender, 1969 Verteidigungs- und 1972 Finanzminister. 1974 folgt er Willy Brandt im Amt des Bundeskanzlers. Der Triumph der SPD 1966, als die Partei nach 17 Jahren Opposition Regierungsverantwortung übernimmt, ist aus innerparteilicher Sicht der "Troika" Brandt, Wehner und Schmidt zu verdanken. Menschlich geht es in der Politik in der Regel bejammernswert rauh zu. Schmidt wird sich später mit dem charismatischen Parteivorsitzenden Brandt fürs Leben überwerfen, als dieser sich in den frühen achtziger Jahren in der Raketendebatte nicht eindeutig hinter die Position des Kanzlers stellt. Überhaupt, da stehen zwei Männer an der Spitze der SPD, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Der pragmatische Macher und der häufig melancholische, kaum weniger egomanische Einzelgänger - das kann auf lange Sicht nicht gut gehen.

Ein Politikerleben aus der Vogelperspektive gesehen: Am Anfang steht die Hamburger Flutkatastrophe von 1962. Während die sozialdemokratische Stadtführung wie ein Haufen aufgeregter Hühner herumläuft, ergreift Innensenator Helmut Schmidt die Initiative und bewahrt durch energische und kluge Einsatzleitung die Hansestadt vor einer noch größeren Katastrophe. Ein deutscher Held ist geboren.

In der Mitte wird der Heiße Herbst 1977 sichtbar. Die RAF-Mordbrenner haben die Bundesrepublik in Panik versetzt. Als in Mogadischu eine entführte Lufthansamaschine steht und die Kidnapper die Freilassung der Stammheimer Häftlinge verlangen, schickt der Kanzler - nach Absprache mit dem Bonner Krisenstab - die GSG 9-Elitetruppe nach Somalia. Die Befreiung gelingt und der sich seit Wochen in der Gewalt der RAF befindende Arbeitgeberpräsident Hans Martin Schleyer wird kaltblütig umgebracht. Der Staat hat sich in einem dramatischen Moment als nicht erpressbar erwiesen, und der Kanzler zeigt sich vom feigen Mord an einen mit ihm befreundeten Repräsentanten der Bonner Republik tief erschüttert. Er ist es auch.

Am Ende der Kanzlerschaft demonstrieren Hunderttausende in Bonn und klagen den von Schmidt geforderten Aufbau von neuen Mittelstreckenraketen mit lauten Worten an. Es geht um den von ihm erfundenen NATO-Doppelbeschluss, der die Sowjetunion von ihren Rüstungsplänen abbringen soll. Es ist einsam geworden um den Regierungschef: Die Jugend protestiert, die Parteigenossen laufen ihm weg, und dem Koalitionspartner FDP ist das Parteihemd näher als der sozialliberale Rock. Genscher läuft zu Kohl über, und Schmidt verliert seine Mehrheit. Die Geschichte scheint ihm dennoch recht gegeben zu haben. Der Kanzler Kohl exekutiert Schmidts Raketenpolitik, und am Ende des Jahrzehnts bricht die Sowjetunion wirtschaftlich zusammen. Aber ganz so einfach, wie der den Machtverlust verbittert kommentierende Schmidt die Sache bis heute betrachtet, war sie nicht.

Adenauer öffnete die Bundesrepublik in Richtung Westen, Brandt war der Kanzler der Entspannung und der Ostpolitik, Kohl wird immer im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung genannt werden. Und wo wird Helmut Schmidts Platz in den Geschichtsbüchern sein? Nur eine Fußnote in der Geschichte des geteilten Deutschland? Er war vielleicht der fähigste unter den ersten sechs Kanzlern der Bundesrepublik. Er hat die Republik souverän und kenntnisreich durch schwierige ökonomische Krisenzeiten gesteuert, die von explodierenden Ölpreisen und hohen amerikanischen Kriegskosten gezeichnet waren. Er spielte in der obersten Etage der Weltpolitik eine überragende Rolle, besaß in den NATO- und Welthandelskonferenzen oder beim G 7-Treffen der mächtigsten Staatenlenker eine Stimme, die nicht überhört werden konnte. Er war im deutsch-deutschen Verhältnis ein unbequemer, aber auch unbeirrbarer Entspannungspolitiker. Mit Honecker konnte er nur mühsam eine gemeinsame Gesprächsebene finden. In Güstrow, wo er Atelier und Werke von Ernst Barlach, einem seiner Lieblingskünstler, sehen will, baut die SED rasch ein Potemkinsches Dorf auf. Die Bewohner werden in ihren Wohnungen eingesperrt, und am Straßenrand jubeln die Stasi-Abgesandten. Schmidt ist entsetzt und angewidert.

Es bleiben aber auch die Schattenseiten seiner Kanzlerschaft: Schmidt übersieht die ökologischen Gefahren, die die Welt zunehmend bedrohen. Er hat für Umweltschützer und Rüstungsgegner nur Hohn und Spott übrig. Angstmacher und Illusionisten sind sie für diesen Kanzler, der stets und ständig behauptet, nur er betreibe Realpolitik. Er spottet über eine heranwachsende Generation, die eigene Wege gehen und eigene Erfahrungen machen will. Das ist sein Beitrag zum Aufstieg der Partei der Grünen. Mit der eigenen Partei geht er um wie ein Feldherr, für den das Zusammenleben nach den Gesetzen von Befehl und Gehorsam zu erfolgen hat. Die SPD wiederum handelt ihm gegenüber so, wie sie es bis heute mit den Erfolgreichen in ihren Reihen zu tun pflegt: Sie trägt entscheidend zu seinem Sturz bei.

Helmut Schmidt ist ein bedeutender Staatsmann. Die Gabe des Schweigens hat ihm der liebe Gott allerdings nicht mit auf den Lebensweg gegeben. Als Mitherausgeber der Zeit weiß er immer noch besser als alle anderen, wie der Weltenlauf zu deuten ist. Und oft sieht er da tatsächlich genauer hin als die, die heute in der Politik und in den Medien Verantwortung tragen. Narzissmus ist eine Krankheit ohne die Politiker schon auf der ersten Karrierestufe scheitern würden. Selbstdarstellung und die Neigung zur Omnipotenz sind ebenso Waffen aufstrebender Machtmenschen wie das Niederringen des Gegners mit Mitteln, die wir bei der Erziehung unserer Kinder stets mit moralischer Empörung geißeln. Schmidt ist da einer von vielen, die den Weg nach oben gesucht und gefunden haben.

Das Besondere an ihm ist seine Intelligenz, sein demokratisches Selbstbewusstsein, seine Skrupel, das Vaterland nicht um des eigenen Vorteils willen zu verraten, seine - jenseits des Zigarettenkonsums - strenge Selbstdisziplin. Vielleicht hat er seinen Kant doch genauer gelesen, als gelegentlich zu vermuten ist. Möglicherweise sind seine musischen Neigungen, sein Umgang mit Dichtern, Musikern und Schauspielern, die er schätzt, hilfreich gewesen, über die Konferenzen und Parteitage hinaus einen Blick auf das wirkliche Leben zu wagen. Ein Unbequemer ist er, ein Eigenbrötler, einer, der die schöne Eigenschaft besitzt, auch gegen den Strom zu schwimmen, wenn er anderer Meinung ist.

Denkt man an die, die Helmut Schmidt bislang im Kanzleramt nachgefolgt sind, dann hofft man, dass die Historiker gerecht mit ihm umgehen werden und sein Platz in ihren Darstellungen den Stellenwert erhält, den er verdient: weit oben.


Neuere Bücher über und von Helmut Schmidt:

Detlef Bald Politik der Verantwortung. Das Beispiel Helmut Schmidt. Das Primat des Poltischen über das Militärische 1965-1975. Aufbau-Verlag Berlin 2008, 288 Seiten

Dieter Dowe und Michael Schneider (Hrsg.): Helmut Schmidt. Fotografiert von Jupp Darchinger. J. H. W. Dietz Verlag Bonn 2008, 431 Seiten

Hans-Joachim Noak Helmut Schmidt. Die Biographie. Rowohlt-Berlin Verlag 2008, 318 Seiten.

Martin Rupps Helmut Schmidt. Mensch - Staatsmann - Moralist. Herder-Verlag Freiburg im Breisgau 2008 (Neuauflage), 448 Seiten

Hartmut Soell Helmut Schmidt. 1969 bis Heute. Macht und Verantwortung. Deutsche Verlags-Anstalt München 2008, 1082 Seiten

Helmut Schmidt Die Mächte der Zukunft. Gewinner und Verlierer der Welt von morgen. Siedler Verlag München 2004

Wilhelm von Sternburg, 1939 geboren, war als Journalist für verschiedene Zeitungen, Radio und Fernsehen tätig, zuletzt als Chefredakteur des Hessischen Rundfunks. Seit 1993 arbeitet er als freier Schriftsteller, Publizist und Filmautor. 2006 erschien im Aufbau-Verlag Die Deutschen Kanzler. Von Bismarck bis Merkel.

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