Das Unbehagen in der Moderne

Feindbilder und Wertentscheidungen Von der Hysterisierung des Politischen zur kollektiven Realitätsverleugnung

Der Irakkrieg wirft mehr Fragen auf als die, wie das Öl künftig beherrscht wird. Was kennzeichnet die Zeit, in der wir leben? Man muss versuchen, sie mit den Augen des später lebenden Historikers zu beurteilen, statt auf ihre Drohungen nur mit Protest und Polemik zu reagieren, so wichtig diese sind. Wir brauchen weniger negative Faszination, dafür mehr Analyse. Der Leitartikel von Michael Schneider in Freitag 9/2003 gab einen Anstoß, indem er von der Angst sprach. Braucht unsere Gesellschaft Feindbilder? Eine Reihe von Texten wird sich in den nächsten Wochen mit dieser Frage befassen.

Was ist so beunruhigend, so ängstigend an der gegenwärtigen weltpolitischen Lage? Regionale Kriege hat es fast immer gegeben. Dabei stand in Zeiten der Blockkonfrontation häufig viel mehr auf dem Spiel als heute - denken wir nur an die Kuba-Krise. Auch der Gegensatz zwischen den USA und "Old Europe" ist nicht neu. Nur die Tonlage hat sich verschoben. Seit dem 11. September beobachten wir eine zunehmende Hysterisierung des Politischen. Während wir bisher gewohnt waren, politische Ereignisse eher funktional zu betrachten, scheint ihre symbolische Bedeutung inzwischen immer wichtiger zu werden. Jetzt hat es sogar den Anschein, als drohe diese Tendenz in eine kollektive Realitätsverleugnung umzuschlagen. Nur, was ist das für ein Kreuzzug, zu dem da gerufen wird, welches Jerusalem soll da befreit werden? Könnten wir Georg Bush oder Saddam Hussein persönlich fragen, sie wüssten es wohl selbst nicht. Wir wissen nicht, was als Nächstes kommt, weil wir nicht wissen, warum die Beteiligten so handeln wie sie handeln - wahrscheinlich ist es das, was uns so beunruhigt. Um geostrategische Interessen, ums Öl, oder um die partikularen Kalküle der Militärs allein kann es nicht gehen. Dass keine gesamtwirtschaftliche Vernunft dahinter steckt, zeigen die Börsen.

So bleibt uns dann wohl nichts anderes, als uns selbst in die Perspektive eines Psychoanalytikers zu versetzen und nach unbewussten Motiven zu suchen. Und in der Tat: Lassen wir all die großen Worte, all die beschwörenden, mahnenden und mannhaft-kämpferischen Auftritte der vergangenen Monate noch mal Revue passieren, dann schält sich ein gemeinsames Motiv heraus: Egal ob es gerade um das neueste Video bin Ladens, eine der barock-stalinistischen Tiraden Saddam Husseins oder um das fahnenpatriotische Pathos eines George Bush geht: Überall wird geredet, als sei die Zeit - vor sagen wir 50 oder 100 Jahren - stehen geblieben, als habe es die seitherigen Modernisierungs- und Enttraditionalisierungsprozesse gar nicht gegeben. Sie alle wirken wie die Protagonisten einer weltumspannenden unbewussten Inszenierung, die etwas zum Verschwinden bringen will, indem sie so tut, als gäbe es das gar nicht. In der Psychoanalyse nennt man das eine Verleugnung.
Und doch ist das nur die eine Seite der politischen Wirklichkeit. Auf der anderen beobachten wir eine historisch einmalige Mobilisierung zivilgesellschaftlicher Vernunft. Wann hat es das schon mal gegeben, dass die unorganisierte Öffentlichkeit den Mächtigen und ihrer weltweiten Propagandamaschinerie so heftig in die Parade fährt? So zeichnen sich - noch zögerlich, in ihrer unversöhnlichen Dynamik aber doch klar erkennbar - die Konturen einer neuen weltweiten Lagerbildung ab: Es geht um einen speziellen Aspekt der Modernisierung - nicht um die Moderne überhaupt; möglicherweise gibt´s die ja gar nicht mehr -, um das, was in der klassischen Soziologie als Enttraditionalisierung bezeichnet wird. Offenbar stoßen wir hier auf das eigentlich umkämpfte Problem: Bisher fraglos übernommene Werthaltungen werden in immer größerem Maße durch bewusste Wertentscheidungen ersetzt. Aber kehren wir zunächst - bevor wir uns allzu sehr in Spekulationen zur Weltlage verlieren - zur Mikroperspektive des Psychoanalytikers zurück. Aus seinen Lehrbüchern weiß er: Verleugnungen können verschiedene Ursachen haben. Häufig sind sie ein Hinweis, dass reifere psychische Abwehrformen, wie zum Beispiel die Verdrängung, zusammen zu brechen drohen. Im Fall von Bush oder bin Laden könnte das bedeuten: Irgendwann in ihrer frühen Kindheit wurden sie, wahrscheinlich von ihren Eltern, gezwungen, wichtige persönliche Wünsche aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen; im Verlauf ihrer weiteren Entwicklung werden diese verbietenden Eltern mehr und mehr die Gestalt nationalpatriotischer oder religiöser Gebote angenommen haben. Aber wie auch immer: entscheidend ist, dass diese "Urverdrängung" auch ihren gesamten weiteren Lebensweg prägt. Ständig sehen sie sich gezwungen, alle Wunschregungen aus ihrem Bewusstsein fern zu halten, durch die sie verführt werden könnten, den einstmals verdrängten Impulsen doch noch nachzugeben. Die primäre Verdrängung zieht also immer eine ganze Reihe weiterer Verdrängungen nach sich - andernfalls wäre die gesamte psychische Struktur vom Zusammenbruch bedroht. Das ist solange nicht weiter problematisch, wie die in der Kindheit vorherrschenden Gebote auch die Lebenswelten des Erwachsenenalters beherrschen. Sollte es dagegen zwischenzeitlich zu einem weit reichenden Enttraditionalisierungsschub gekommen sein, der zum Beispiel Teile des religiös tradierten Wertekanons in Frage stellt, dann würden unsere Protagonisten in eine zusehends schwierige Lage geraten, weil sie sich ständig mit allzu verführerischen Erfahrungen konfrontiert sähen. Um diesem zermürbenden Verdrängungskampf auszuweichen, könnten sie jetzt versucht sein, mit Verleugnung zu reagieren. Das bedeutet: Sie verzichten darauf, die allzu verführerischen Teile ihrer Realität überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.
Hätten wir mit dieser Hypothese Recht, sähen sich Bush, Hussein und Co. also gezwungen, die modernisierungsbedingte Aussetzung traditionaler Normen zu verleugnen, weil sie sonst in eine schmerzliche persönliche Krise geraten würden. Beträfe das nur George Bush und Saddam Hussein persönlich, wäre der Schaden gering. Sie müssten halt für ein paar Jahre auf die Couch. Leider scheint es nicht nur ihnen so zu gehen - offenbar handelt es sich um ein Problem von allgemein-sozialpsychologischen Dimensionen.

In der Psychoanalyse bildet das Über-Ich das innerpsychische Gegenstück traditional legitimierter Wertorientierungen. Es zwingt das Ich, sich bestimmten Maximen zu unterwerfen, ohne dass ihm die Möglichkeit eingeräumt wird, ihr Für und Wider ernsthaft zu erwägen. Schon der Versuch, sich die inkriminierten Vorstellungen mit all den zugehörigen persönlichen Affekten gedanklich zu vergegenwärtigen, gilt als verboten. Dies bedeutet: Die verbotenen Wünsche oder Vorstellungen sollen nicht bewusst verneint, sie müssen verdrängt werden. Um sie verneinen zu können, müsste das Ich sie ja zuvor bewusst gedacht haben. Daraus können wir nun weiter folgern, dass die traditionalen Wertorientierungen sich innerpsychisch auf den Selbststeuerungsmechanismus der Verdrängung stützen, während die bewusste Verneinung der psychische Selbststeuerungsmechanismus der nicht traditionalen Orientierungen ist. Deshalb erweist sich die Verdrängung überall dort als anachronistisch, wo das Fehlen traditionaler Wertorientierungen uns zu bewussten Wahlentscheidungen zwingt.

Mit den gesellschaftlichen Enttraditionalisierungsprozessen verbindet sich also ein erheblicher Druck, bei der psychischen Selbststeuerung den Mechanismus der Verdrängung durch bewusste Wahlentscheidungen zu ersetzen. In Phasen beschleunigter Enttraditionalisierungsprozesse wächst somit die Gefahr, dass es zu einer Veralterung der psychischen Strukturen kommt.
Die enttraditionalisierten Lebenswelten wirken auf diese, in den alten Verdrängungsstrukturen befangenen Menschen wie eine ständige und allumfassende Verführungssituation, ohne dass sie das bewusst so erleben, weil die nunmehr erlaubten Wünsche noch unbewusst, noch verdrängt sind. Möglicherweise geraten sie angesichts dieser von überall auf sie einstürmenden "geheimen Verführer" ins Agieren, lassen sich wieder und wieder hinreißen, ihnen nachzugeben und können doch nicht dazu stehen. In der modernen Psychosprache würde man sagen, sie sind süchtig, süchtig nach Sex, nach Essen, nach beruflichem Erfolg etc. ...
Gleichgültig ob es ihnen gelingt zu widerstehen oder ob sie am Ende doch schwach werden, in jedem Fall geraten sie in einen immer heftigeren Gegensatz zu ihrem Über-Ich, so dass die überall drohende Schuld, die vom Über-Ich mobilisierten Scham und Kränkungsgefühle zum bestimmenden Motiv werden. Schließlich bleibt ihnen - schon um diesem virtuellen Schuldgefängnis endlich zu entgehen, um zu einem erträglichen Selbstgefühl zurückzufinden - gar nichts anderes, als zu arbeiten, sich in Fitnessstudios oder mit Salatdiäten zu quälen, um zu büßen und um Abstand zu bekommen von den allzu verführerisch gewordenen modernen Lebenswelten. So könnte sich am Ende erweisen, dass es diese Veralterung der psychischen Strukturen ist, an der der moderne, scheinbar so bindungsarme, arbeits- und gesundheitsfixierte Großstadtsingle vor allem leidet. Zugleich ist dies der Konflikt, von dem die Hysterisierung des Politischen ihren Ausgang nimmt. Alles Politische wird zugleich zum Symptom, das heißt zum unbewussten Symbol sowohl für das Verbot, wie für das Verbotene selbst - egal ob vom Terrorismus, von der Gewalt in unseren Schulen, vom Tierschutz oder von Menschenrechten die Rede ist.
Andererseits kam man sich gut vorstellen, wie entlastend es da wirken muss, plötzlich wieder von realen äußeren Feinden bedroht zu sein, endlich wieder vom Vaterland in die Pflicht genommen zu werden, für die großen Dinge wieder Opfer bringen und anstatt ins Fitnessstudio wieder an die Front gehen zu dürfen - auch wenn sich all das mehr in der Phantasie als in der realen eigenen Lebenswelt abspielt. Das heißt: Vom ständigen Kampf um die eigenen Verdrängungen zur kollektiven Verleugnung vorzuschreiten, kann als sehr befreiend empfunden werden.
Und doch scheint dieser Versuch, die politische Stimmung zu verstehen, noch nicht ganz stimmig. Dass es vor allem die beruflich erfolgreichen Großstadtsingles sind, die jetzt in Kriegsbegeisterung ausbrechen, kann man ja eigentlich nicht sagen - und warum reagiert die europäische Öffentlichkeit so anders? Offenbar haben die Protagonisten der großen antimodernistischen Inszenierung - trotz der gemeinsamen Grundrichtung - doch sehr spezifische Anliegen. Für die USA scheint es vor allem ums Nationale zu gehen, während für den Islamismus die geschlechtliche Rollenverteilung und die sexuellen Tabus auf dem Spiel stehen. Für viele Amerikaner verbindet sich das Nationale mit einem ganzen Kanon traditionaler Werte. Es scheint, als verlören Werte wie Ehrenhaftigkeit, Verantwortungs- und Opferbereitschaft, Tapferkeit und Mut ohne den Resonanzkörper der wehrhaften Nation ihren gemeinsamen Geltungsgrund. Amerikanische Männer, die schon in ihrer Kindheit gezwungen wurden, einige ihrer existenziellsten Wünsche zugunsten dieser Männlichkeitsattribute zu verdrängen, geraten da in eine ausgesprochen ungemütliche Lage. Sie müssen weiter so tun, als werde all das noch immer von ihnen verlangt, obwohl - spätestens nach Ende der Blockkonfrontation - klar ist, dass dafür keine Verwendung mehr besteht. Die Europäer und insbesondere die Deutschen sind da in einer etwas komfortableren Lage: Sie konnten sich schon seit längerem daran gewöhnen, das Nationale nicht mehr ganz so wichtig zu nehmen. Das bedeutet: Von den modernisierungsbedingten psychischen Spannungen sind natürlich die am meisten betroffen, die die radikalsten Enttraditionalisierungsschübe zu bewältigen haben - ein Erklärungsmodell, das sicher auch auf viele islamische Gesellschaften zutrifft und das uns vielleicht auch verdeutlicht, warum jetzt vor allem in Europa so viele auf die Straße gehen: Wem es einmal gelungen ist, seinen eigenen inneren Sittenwächtern ein Stück weit zu entkommen, der wird sich so leicht nicht mehr in das Korsett der alten fraglos tradierten Normen pressen lassen.

Gleichzeitig verstehen wir jetzt sehr viel besser, warum so viele der gegenwärtig wichtigen sozialphilosophischen Strömungen eine andere Richtung präferieren: Egal ob wir uns nun an die gute alte Frankfurter Schule, an den Foucault´schen Poststrukturalismus, an den Postmodernismus, an die Vordenkerinnen der Genderdebatte oder an Beck und Giddens halten - überall gilt die Modernisierung als etwas Negatives oder zumindest doch als ein gefährlich zweischneidiges Phänomen, bei dem die neu gewonnenen Handlungs- oder Entscheidungsfreiheiten mit einer Unterminierung dieser Subjektposition einhergehen. Getreu dem von Elias vorgegebenen zivilisationstheoretischen Grundparadigma erscheint Modernisierung immer mit einer zunehmenden inneren Disziplinierung des Individuums einher zu gehen.
Und doch ist der Widerspruch zu unseren Überlegungen gar nicht so groß. Wir hatten es schon angedeutet: Der Zugewinn an Freiheit wird von demjenigen, der die von diesen neuen Möglichkeiten angesprochenen eigenen Wünsche verdrängen musste, in der Tat als zusätzliche Unfreiheit, als Entsubjektivierung erlebt. Es ist, als träte die offener gewordene Lebenswelt in ein Bündnis mit dem Unbewussten, mit den verdrängten Wünschen, um das Ich in einer Art Zangenangriff von innen und von außen zu überrennen.
Modernisierung wird hier in der Tat als zunehmende Disziplinierung erfahren und ist es ja auch. Insofern haben Adorno, Foucault, und Elias natürlich Recht. Und doch kommen wir nicht umhin anzuerkennen, dass die modernisierten Lebensverhältnisse gerade deshalb eine so sehr disziplinierende Macht entfalten, weil es eigentlich um das Gegenteil geht, um die Ablösung traditionaler Disziplinierungstechniken durch neue persönliche Wahlfreiheiten. So erhält die Andersche Rede von der Antiquiertheit des Menschen am Ende einen neuen Sinn. Plötzlich wird deutlich, wie überzogen und überheblich es war, diese ohne Zweifel existierende Antiquiertheit nur den gesellschaftlichen Verhältnissen zum Vorwurf zu machen - wo es doch auch darauf ankäme, endlich aus der verdrängungsbedingten Unmündigkeit auszubrechen.

Dr. Willi Brüggen ist Arzt, Psychoanalytiker und Dozent am Berliner Institut für Psychotherapie und Psychoanalyse.

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