Die Moraltrompeter von Säckingen

Walser-Debatte Ein Rührstück zur öffentlichen Rede, oder: Antisemitismus und Opportunismus

"Jedes Werk verdient gegen seine Unterdrücker verteidigt zu werden."

Hans Magnus Enzensberger: Die Aporien der Avantgarde (1962)



Es muss ein sehr dunkler Trieb sein, der den Journalisten drängt, in die Weltgeschichte einzugreifen oder doch wenigstens die Verhältnisse vom Kopf auf die Füße zu stellen. Ein Fall ist immerhin überliefert, wo einem von uns dennoch eine edelmütige Tat gelang. Allein mit der Kraft seines Wortes befreite er einen unschuldig Verurteilten. Die Geschichte ist alt und lange her, es ist die Geschichte vom Journalisten Émile Zola und dem Hauptmann Dreyfus. Dieser war im Oktober 1894 wegen vermeintlicher Spionage verhaftet und in einem dubiosen Verfahren auf Lebenszeit aus Frankreich fort auf die Teufelsinsel verbannt worden. Antisemitismus war im Spiel und die übliche Intrigenwirtschaft in der ständisch geprägten französischen Armee. Zola betrieb die Wiederaufnahme des Verfahrens, schrieb Artikel, bis er nicht mehr gedruckt wurde, schrieb Broschüren, bis er zu Geldstrafen und Gefängnis verurteilt wurde, und ging, als dem Staat auch das nicht mehr ausreichte, sogar für einige Monate ins englische Exil.
Der Offene Brief, mit dem sich Zola an den Präsidenten der Republik wandte, trug den seither sprichwörtlichen Titel J´accuse. Es handelte sich um einen klaren Fall von Amtsanmaßung: Ein Unbeteiligter, ein Schriftsteller erhob Anklage in einer Sache, die ihn selber gar nicht betraf. Zola war kein Jude, aber gegen den Antisemitismus der Zeit machte er die Sache des jüdischen Hauptmanns zu der seinen. Hier war offensichtlich Unrecht geschehen und ein Rechtsausgleich nur mehr außergerichtlich zu erzwingen: Die Justiz parteiisch, die Politik desinteressiert bis feindselig, die Armee natürlich unbedingt abwehrbereit. Deshalb trug Zola die Auseinandersetzung dorthin, wo sie keiner haben wollte, in die Öffentlichkeit.
Zolas Empörung hatte etwas Theatralisches, die Umstände nötigten ihn dazu. Vor Gericht hätte man ihn nicht gehört, also eröffnete er den Prozess in der Zeitung. Die Welt ist notorisch schlecht, aber hier ging die Geschichte so gut aus wie sonst nur im Märchen: Die Wahrheit siegte schließlich bei dieser Affäre, das Infame lag zerschmettert. Dreyfus kam frei, und Émile Zola war berühmt und ein fortan gern beschworenes Vorbild. Von jetzt an stellte sich allerdings die Machtfrage und zugleich die nach der Moral: Wer ist stärker, Feder oder Schwert, Geist oder Macht, und ist am stärksten nicht sowieso der, der den Moraltrompeter von Säckingen am lautesten kann?
Und was, wenn die Welt noch schlechter, es nämlich so übel um sie bestellt ist, dass sie einem gar keine Möglichkeit zum Gutsein, zur moralischen Überlegenheit mehr lässt? Dann muss notfalls die Phantasie an die Macht und ein Popanz her, damit der Schreiber in seiner neuen Rolle als Drachentöter ein gute Figur machen kann.
Frank Schirrmacher hat das Jaccusieren zu einer beneidenswert schönen Kunst entwickelt. "Ihr Roman ist eine Exekution", schrieb er in seinem Offenen Brief an Martin Walser, er ist außerdem ein "Dokument des Hasses", eine "Mordphantasie". Und weiter poltern die schwersten Zeichen: Adolf Hitler fehlt nicht in diesem Brief und nicht der Überfall auf Polen 1939, das Warschauer Ghetto so wenig wie der ewige Jude. Der Roman Tod eines Kritikers werde in der Frankfurter Allgemeinen nicht gedruckt, so Schirrmacher an Walser, "weil er damit spielt, dass dieser Mord fiktiv nachgeholt wird". Walser, das ist doch der Vorwurf, vollendet, was Hitler und die Seinen vor der Zeit abbrechen mussten.
Bei dem Buch Walsers handelt es sich also um eine Tötungsphantasie, die einem Kritiker gilt, der "zu seinen Vorfahren auch Juden" zählt. Das Jüdische, so Schirrmacher und alle, die ihm da folgen, erweise sich schon an der "Herabsetzungslust" dieses von Walser erfundenen oder auch nur karikierten Kritikers.
Gemodelt ist dieser Kritiker, das haben inzwischen alle gehört, nach Marcel Reich-Ranicki, der Roman also notwendig antisemitisch. Denn was die bisherigen Rezensenten an Argumenten oder auch nur an Textbelegen fehlen ließen, ersetzten sie durch Empörung. Der zolaeske Auftritt soll ja um Himmels willen nicht der Wahrheitsfindung, sondern dem Eklat dienen. Wer den anderen einen Antisemiten heißen kann, hat das Spiel schon gewonnen. Antisemitismus geht immer, es ist der Vorwurf, der den anderen zum Schweigen bringt. Und die Moral ist ganz besonders moralisch, wenn man sie für sich gepachtet hat.
"Das Moralische", so lautet der Grundbass in Friedrich Theodor Vischers Roman Auch Einer, "das Moralische versteht sich immer von selbst." Es versteht sich aber gleich noch viel besser, dass das Moralische den, der mit ihr hantiert, in Vorteil bringt. Gelingt es ihm sogar noch, sein Geschäft mit toten Juden zu machen, hier also Auschwitz gegen eine wie immer geratene Erzählung zu instrumentalisieren, dann ist das nicht etwa degoutant, sondern diese beste Moral von allen erhebt den Ankläger gleich zum Moral-Kaiser von Deutschland. Das konnte Zola noch nicht.
Moral ist einfach, Moral kann jeder, und deshalb geht es hier nicht um Literatur, sondern wieder einmal um die Macht. Aber der Reihe nach: In der Frankfurter Allgemeinen erschien 1976 eine Kritik des Romans Jenseits der Liebe unter einer Überschrift, die sich nur anbietet, wenn man von einem nicht ganz kleinen Vernichtungswillen beseelt ist: "Jenseits der Literatur". Der Autor beschäftigt sich über vier Absätze damit, dass Walser sich "dem Kommunismus" zugewandt habe und zum "geistreichen Bajazzo der revolutionären Linken in der Bundesrepublik Deutschland" geworden sei. Dann allerdings behauptet der Kritiker, dass Walsers Nähe zur DKP oder die Entfernung von ihr "für den Literaturkritiker belanglos" sei. Das Urteil, mit wenig Begründung gefällt, steht auch so fest: "Hier sucht man vergeblich nach einer Oase und findet überall nur Sand und Müll." Müll aber, der gehört in die Tonne, nicht wahr, nicht in ein Buch.
Nun muss man den jüngeren Menschen wahrscheinlich erklären, dass in jenen siebziger Jahren in der Bundesrepublik der Radikalenerlass galt: ein DKP-Mitglied sollte nicht mehr die Post austragen dürfen. Und ein vorübergehend der DKP nahestehender Schriftsteller sollte - denn wie sonst wäre dieser Satz zu verstehen? - am besten gar nicht mehr veröffentlicht werden: "Wie schlecht muss ein Stück von Walser sein, damit es kein Theater in der Bundesrepublik aufführt, wie schlecht ein Walser-Manuskript, damit der Suhrkamp-Verlag es ablehnt?" Der Autor dieses, nein, nicht Tötungswunsches, dieser Aufforderung, Walser das Schreiben zu untersagen, war Marcel Reich-Ranicki.
Mit der Linken in der Bundesrepublik konnte er nichts anfangen, vielleicht, weil sie ihn zu sehr an den Stalin-Kommunismus in Polen (und seine eigene, abgebrochene Karriere dort) erinnerte. "Meine Sympathien für diese lautstarke und chaotische Revolte (hielten sich) in Grenzen", schreibt er 1999 in seiner Autobiographie Mein Leben. Und: "Mich jedenfalls hat die damals entstehende Literatur enttäuscht. Doch dachte ich nicht daran, mich von ihr abzuwenden." Sie brauchte aber eindeutig Hilfe, sie bedurfte eines Anwalts.
Als er Ende 1973 Literaturchef der FAZ wurde, ließ er es sich besonders angelegen sein, die kommunistisch infizierten Autoren der Bundesrepublik ans Blatt zu binden. Als Umerziehungserfolge konnte er so unterschiedliche Talente wie Peter Maiwald und Ulla Hahn, Wolf Biermann und Peter Schneider präsentieren.
Ein Sorgen-, aber auch Lieblingskind bei diesem Umerziehungsprogramm war natürlich Martin Walser. Sollte es denn nicht möglich sein, diesen brillanten Erzähler von seinem doch nur ideologisch zu verstehenden Blick ins gesellschaftlich Trübe zu heilen, ihn die Augen aufheben zu lassen zu den Schönheiten der modernen Industriegesellschaft? Und waren nicht Eheprobleme und männliche Lebensmittenkrisen so viel wichtiger als der doch nur kommunistisch angefressene Blick ins Elend des gemeinen Angestellten?
"Es ging also in erster Linie nicht um diesen Roman", wird der Kritiker zwei Jahre nach seinem legendären Verriss in schöner Offenheit schreiben, "sondern um Martin Walser. Die Kritik, ‚als Skandalon konzipiert´ (wie Heinrich Vormweg im Merkur treffend bemerkt hatte), war ein zorniger und verzweifelter Versuch, auf Martin Walsers schriftstellerischen Weg einen Einfluss auszuüben." Und siehe da, die nicht unbedingt sanfte Führung durch den Kritiker wird belohnt durch das neue Buch Walsers, Ein fliehendes Pferd, das "sein reifstes, sein schönstes, sein bestes Buch" geworden ist. "Leichtsinnig wäre es und auch anmaßend", heuchelt der Kritiker, "wollte man jene auf Schockwirkung abzielende Kritik des Romans Jenseits der Liebe und die Entstehung der Novelle Ein fliehendes Pferd in einen ursächlichen Zusammenhang bringen." Der Kritiker, der hier so schön über sein Literaturbetriebsgeheimnis plaudert, heißt natürlich immer noch Marcel Reich-Ranicki, und der umerzogene Walser, der "nicht mehr den Ehrgeiz (hat), die Welt zu verändern", ist sein schönstes Lehrbeispiel. Ein fliehendes Pferd wurde in der FAZ vorabgedruckt, und noch viele, viele Bücher Walsers sollten dieser Novelle in die FAZ folgen.
Walser war da natürlich noch nicht der Antisemit, als den ihn die Zeitung heute kennt. Er war bloß wichtig. Aus der Obhut Reich-Ranickis in die seines Nachfolgers übergegangen, durfte Walser weiter die Betreuung eines strengen, aber gerechten Anwalts der Literatur erfahren. Walsers "Geschichtsgefühl", 1988 entdeckt, kam da gerade recht: Gefühl war endlich Geschichte, nicht das, was man aus der Sozialkunde kannte, was sich nachrechnen ließ, was bewiesen war und unverrückbar feststand, sondern ein Entschuldungsangebot. Walser half den "Raum der Geschichte" öffnen, den, wie Frank Schirrmacher 1990 in seiner Revue der deutschen Nachkriegsliteratur befand, "ein Großteil der westdeutschen Literatur versperrt hat". Als Walser dann in seinem Roman Ein springender Brunnen den berühmten "Raum" öffnete, nämlich über eine Kindheit im "Dritten Reich" schrieb, ohne Auschwitz zu erwähnen, dann hatte das keine literarischen Gründe, sondern zeigte den "Selbstfindungsprozess eines mittlerweile Siebzigjährigen". Hauptsache, nicht mehr links. Oder wie es Tilman Krause, der "den verschüteten Zugang zu jenem liebenswerten Deutschland wieder freischaufeln" möchte, in der Welt in schöner Offenheit formuliert hat: Wenn es doch einmal aufhörte mit "Schimpf und Schande, welche die Nazis über das Land gebracht haben". Krause hoffte auf eine "konservative Leitfigur" und wünschte sich, "Walser würde in diese Rolle hineinwachsen". Aber wie Schriftsteller so sind, nämlich wie ungezogene Schüler, sie folgen einfach nicht: "Durch sein Ressentiment und seine allzu offenkundige Lust an der Regression hat er sich nun zum wiederholten Male diskreditiert." Setzen, Walser, sechs! Hat man es womöglich doch übertrieben mit der Umerziehung?
In diesem scheinheiligen Empörungstheater wird das Buch Tod eines Kritikers auf Stellen reduziert, wird das Wort wörtlich genommen, gibt es keinen Stil mehr, keine Schreibweise, keine Rollenprosa, es gibt nur noch Wörter und Sätze, die sich zur Anklage eignen, wobei das Urteil längst feststeht. Sprache, Literatur, Kunst, alles wurschtegal: Tut nichts, der Mann ist Antisemit. "Kein Werk ist stark genug, um gegen ein Feuilleton zu bestehen, dessen Credo lautet, man dürfe schreiben, was man verstanden zu haben meint", schrieb der nämliche Schirrmacher vor drei Jahren. Da hatte er aber Martin Walser noch zu verteidigen. Es geht nicht um das Buch, schrieb Reich-Ranicki 1978, es geht um Martin Walser. Wie schon bei Jenseits der Liebe wird Tod eines Kritikers nicht gelesen, sondern die rechte Gesinnung benotet.
Émile Zola mischte sich vor hundert Jahren auf eigene Gefahr in etwas ein, wo man ihn nicht haben wollte. Er war schwach und bekämpfte mit seiner Schwäche die Starken. Schirrmacher bekämpft nicht das Unrecht oder die Ungerechtigkeit, er wendet sich nicht einmal gegen den Antisemitismus, sondern er benutzt die Lebensgeschichte von Marcel Reich-Ranicki für einen moralischen Mehrwert, der mit Literaturkritik lieber nichts zu tun hat. Zwar borgen sich er und seine Nachredner vom Spiegel bis zu Bild die Rhetorik Zolas, man verfügt aber über ungleich größere Machtmittel. Der Starke ist am Stärksten, wenn er auf den Schwachen eindrischt.
Nicht jedes Mal geht es um Antisemitismus, aber immer um die Machtfrage.
Als der Kritiker und Literaturhistoriker Hans Mayer starb, wurde er in der FAZ mit einem Nachruf gewürdigt, in dem ihm Verkehr mit Strichjungen vorgehalten wurde. Seine Autobiografie hieß plötzlich Ein Deutscher auf Abruf (statt auf "Widerruf"). Niemand fand das antisemitisch, was vielleicht daran lag, dass Reich-Ranicki diese schönen Worte fand. Wenn der nämliche Reich-Ranicki im Fernsehen erklärt, Martin Walser könne "ums Verrecken" keine Romane schreiben, dann ist das merkwürdigerweise kein "Dokument des Hasses" und kein Tötungswunsch, sondern hier spricht offensichtlich wieder der Vertrauensanwalt der Literatur.
Als sich Marcel Reich-Ranicki über Jahre nach Klagenfurt begab, um im Namen Ingeborg Bachmanns über die neue deutschsprachige Literatur zu befinden, holte er sich fünf Mal die österreichische Schriftstellerin Gertrud Fussenegger in die Jury, die 1943 einen besonders widerwärtigen Text über den Prager Judenfriedhof veröffentlicht hatte. Antisemitismus gut und schön, aber man darf doch nicht nachtragend sein.
Auch nicht bei einem anderen geschätzten Gastautor der FAZ. Wieder zeigte man Nachsicht fürs jugendliche oeuvre, denn schließlich ist Ernst Jünger dieser genau beobachtende Naturwissenschaftler: "Die Erkenntnis der Verwirklichung der eigentümlichen deutschen Gestalt scheidet die Gestalt des Juden ebenso sichtbar und deutlich von sich ab, wie das klare und unbewegte Wasser das Öl als eine besondere Schicht sichtbar macht."
Es geht um den Autor und nicht um das Werk. Im Herbst 1973 war Marcel Reich-Ranicki zu einer Buchvorstellung eingeladen. Joachim Fest, der Mann, der ihn aus Hamburg zur FAZ holen wollte, präsentierte seine Hitler-Studie. Bei der Buchparty gerät Reich-Ranicki an Albert Speer, Hitlers Rüstungsminister, der 20 Jahre in Spandau inhaftiert war. "Der Abend mit Speer war kein besonders günstiges Vorzeichen für meine künftige Zusammenarbeit mit Joachim Fest", schreibt Reich-Ranicki dazu unheildrohend in seiner Autobiographie. Aber an einem Streit mit Fest sei er damals nicht interessiert gewesen. Warum auch? Schließlich verdankte er Fest die Berufung zur FAZ, durch Fest wurde er endlich allein zuständiger Redakteur für "Literatur und Literarisches Leben". Da nimmt man auch "den Massenmörder, der hier respektvoll über seinen Führer scherzte" (Reich-Ranicki über Speer), gern in Kauf. Kaum sind 26 Jahre vergangen, kaum ist Fest nicht mehr sein Chef und Reich-Ranicki nicht mehr von ihm abhängig, da klagt er mit gewaltigem Tremolo "einen der schrecklichsten Kriegsverbrecher in der Geschichte Deutschlands" an. Das Moralische versteht sich nämlich immer von selbst. Alles andere ist Opportunismus.

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