Ein Tabu nach dem anderen wird gebrochen

Kommentar Die NATO und der "Volksaufstand" im Süden Afghanistans

Von der NATO ist man seit dem völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien im Jahr 1999 einiges gewöhnt. Die Vereinten Nationen scheinen jetzt in Afghanistan, angetrieben durch den deutschen UN-Beauftragten Tom Koenigs, nachziehen zu wollen. Der fordert - ohne auf den Widerspruch des Bundesaußenministers zu stoßen - seit Wochen Mantra-artig den Einsatz der Bundeswehr auf den Gefechtsfeldern im Süden des Landes. Seine Begründung dafür zeigt, wozu man heute fähig sein kann. Dort - so Koenigs - finde ein "Volksaufstand" statt, dort müsse die NATO zeigen, was eine Harke ist. Devise: Geschlossenes Handeln am Hindukusch und Soldaten, wo man sie braucht. Wenn einer derart die Flucht nach vorn antritt, dann nicht wegen al-Qaida, dessen Präsenz in Afghanistan längst kein Thema mehr ist, wie man Erklärungen offizieller Vertreter der Regierung Karzai entnehmen darf.

Es geht viel mehr gegen die Paschtunen, ein Volk immerhin von 50 Millionen Menschen, die von einer britisch-russischen Kolonialgrenze geteilt werden, deren Gültigkeit Anfang der neunziger Jahre abgelaufen ist. Die Paschtunen siedeln seit ewigen Zeiten im Süden Afghanistans und einigen Regionen Nordpakistans, wo sie schon vor zehn Jahren den "Staat Paschtunistan" aufgerufen haben. Der ehemalige afghanische Staatschef Nadschibullah wurde 1996 von den Taliban auf grausame Weise umgebracht, als er - unter "UN-Schutz" stehend - die Unterschrift unter die von Pakistan gewünschte Bestätigung der Grenze verweigerte. Der Wille der Paschtunen, in einem Staat zu leben, blieb ungebrochen, auch als Afghanistan nach 2001 quasi zum NATO-Protektorat wurde.

Das also ist der "Volksaufstand", gegen den der deutsche Sonderbotschafter Tom Koenigs, Joschka Fischers Freund, die versammelten NATO-Truppen einsetzen will. Die UNO als Unterdrücker und die NATO als Vollstrecker der Unterdrückung, das ist schon furchterregend. Dabei erscheint zweitrangig, ob die Bundeswehr nun im Süden eingesetzt wird oder nicht, denn feststeht: UNO und NATO kämpfen für den Bestand einer Grenze, die ein Volk teilt und die selbst nach dem Willen britischer und russischer Kolonisatoren höchstens 99 Jahre lang ihre Funktion erfüllen sollte. Um so mehr ist es ungeheuerlich, wenn der höchste UN-Repräsentant diese Demarkationslinie durch militärische Gewalt aufrechterhalten will.

Und niemand soll uns weismachen, die Bundeswehr werde nicht in diese Bestrebungen verwickelt. Die Niederländer haben das bereits vormachen müssen. Ein "gemischter Verband", zusammengesetzt aus afghanischen und holländischen Soldaten, kämpft im paschtunischen Süden und damit im "Volksaufstandsgebiet". Jetzt soll ein gleichfalls gemischtes Kontingent aus Afghanen und Deutschen von Kunduz aus in den Süden verlegt werden. Ein Tabu nach dem anderen wird gebrochen - und da will man glaubwürdig sein? Seit in dieser Region Einheiten des Kommandos Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr an der Seite von US-Truppen eingesetzt werden, fragt man sich ohnehin, ob die strikte Geheimhaltung nur der Sicherheit der KSK-Angehörigen dient und verschleiern soll, woran man sich eigentlich beteiligt oder beteiligen muss.

Eines ist sicher, niemand hat der UNO, der NATO oder wem auch immer ein Mandat erteilt, ein ganzes Volk zusammen zu kartätschen. Mehr denn je erscheint die Frage angebracht, welche Aufgaben die Bundeswehr wie die westliche Allianz überhaupt in Afghanistan eigentlich haben. Viele offenbar. Gestaunt haben dürften südamerikanische Geheimdienstoffiziere, als ihnen vor Wochen von der NATO innerhalb des deutschen Verantwortungsbereichs an der Grenze zu China die Routen des Drogenschmuggels gezeigt wurden. Unüberwindbar sind die himmelhohen Berge offenbar nicht, denn die gewaltige Drogenproduktion Afghanistans nimmt zum Teil diesen Weg. Die Folgen derartiger "Ausfuhren" sind in Chinas Westprovinzen zu besichtigen: Soziale Erosion und Destabilisierung. Auch der berühmte Kargil-Zwischenfall im nördlichen Indien, für den 1999 der heutige pakistanische Präsident Muscharraf verantwortlich war, galt den muslimischen Teilen Chinas. Da kann es kaum überraschen, wenn sich nach dem Willen der USA der NATO-Gipfel in Riga Anfang November mit der Verbindung zwischen der westlichen Allianz und den asiatischen Sicherheitsstrukturen der USA befassen soll. Geht das so weiter, avanciert Peter Struck zum Propheten, weil Deutschland bald nicht mehr nur am Hindukusch, sondern auch am 38. Breitengrad zwischen Nord- und Südkorea sowieso anderswo verteidigt werden dürfte. Unter diesen Umständen gibt es jeden guten Grund, die deutschen Soldaten nach Hause zu holen und Herrn Koenigs aus dem Amt zu entfernen.

Willy Wimmer, CDU-Bundestagsabgeordneter


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