Der Titel des achten Romans von Pierre Lemaitre ist dem Brief eines französischen Soldaten entnommen, den dieser kurz vor seiner Exekution als angeblicher Kriegsverräter im Jahre 1914 schrieb. Aber auch ohne Kenntnis dieses Details bildet der kurze Gruß Wir sehen uns dort oben eine thematische wie emotionale Klammer für die Handlung des Buchs, das im vergangenen Jahr mit Frankreichs bekanntestem Literaturpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet wurde.
Wir sehen uns dort oben porträtiert eine Gesellschaft, die darum bemüht ist, ihre Toten zu ehren und währenddessen ihre Lebenden, speziell die Veteranen, vergisst. Mit seinem hohen Erzähltempo und der Einflechtung von zeitgenössischem Slang der 20er Jahre erinnert der Text dabei an Lemaitres ältere Werke, allesamt erfolgreiche Kriminalromane und Thriller. Damit setzt er sich auf untypische Weise auch von den meisten preisgekrönten Romanen der jüngsten Vergangenheit ab.
Zwei Erzählstränge verknüpft Wir sehen uns dort oben miteinander, beide beginnen am 2. November 1918, kurz vor dem Waffenstillstand. Henri d’Aulnay-Pradelle, ein adeliger Leutnant der französischen Armee, hofft vor dem sich abzeichnenden Ende des Kriegs noch ein wenig Ruhm zwecks Förderung der eigenen Offizierskarriere erhaschen zu können, indem er seiner Einheit Befehle gibt, die ein taktisch unnötiges Gefecht mit deutschen Truppen provozieren sollen. Er sucht dazu den jeweils jüngsten und ältesten Soldaten seines Bataillons für den Angriff aus und schießt ihnen heimlich in den Rücken, um so den Rest seiner Männer zum Vorrücken zu zwingen.
Zwei der Soldaten, Albert Maillard und Édouard Péricourt, kommen zwar hinter Pradelles Morde, werden jedoch kurz darauf beide sehr schwer verwundet. Im Erdreich verschüttet, wird Albert von Édouard das Leben gerettet, indem dieser auf Alberts Körper springt, um so sein Herz zum Weiterschlagen zu animieren. Genau in diesem Moment trifft Édouard ein Granatsplitter, der sein Gesicht beinahe vollständig zerstört.
Édouard, der Sohn eines reichen Geschäftsmanns, der sich von seinem Vater ungeliebt fühlt, war im Zivilleben Künstler. Nach seiner Verletzung verweigert er sich einer offiziellen Identifikation durch die Armee. Albert hilft ihm nach beider Genesung, ein neues Leben unter falschem Namen zu beginnen. Gemeinsam führen die Veteranen eine prekäre Existenz im Nachkriegsparis – Édouard meidet aufgrund seiner Entstellung die Öffentlichkeit, während Albert als Sandwichverkäufer den ganzen Tag auf den Straßen der Stadt unterwegs ist.
Henri Pradelle geht es derweil blendend. Er hat Édouards Schwester geheiratet und ist in die höhere Gesellschaft aufgestiegen. Zu Reichtum ist er als „Betreiber“ einer Reihe von Nekropolen gekommen, riesiger Begräbnisstätten für die Toten des Kriegs. Dies allerdings mit fadem Beigeschmack, da die Leichen aus Kostengründen nicht akkurat identifiziert werden und sie so meist nur von chinesischen Arbeitern, die nicht lesen können, in billig zusammengezimmerten Särgen zur letzten Ruhe gebettet werden.
Die Geschichten der Protagonisten entwickeln sich in abwechselnden Kapiteln und verflechten sich immer weiter ineinander. Viele Aspekte der Erzählung beruhen auf tatsächlichen Ereignissen – beispielsweise die Begräbnisabzocke Pradelles. Doch Pierre Lemaitre setzt die Ergebnisse seiner akribischen Recherche auf äußerst leichtfüßige Art um, stellenweise nimmt dies geradezu seifenopernhafte Züge an. Eine Soap allerdings, die mit ihren makabren Momenten, ihrem sehr dunklen Humor und der Darstellung enthemmter Grausamkeit auch aus der Feder von Honoré de Balzac oder Émile Zola stammen könnte.
Dabei erinnert Wir sehen uns dort oben daran, dass der Krieg jeden Menschen in ein Monster verwandeln kann. Und dass er nicht mit dem Waffenstillstand endet, sondern seine Folgen noch lang darüber hinaus in der ganzen Gesellschaft spürbar bleiben.
Daniel Windheuser
Leseprobe
Die Ersten wie die Letzten
In den Schützengräben des Jahres 1918 begegnen sich Maillard, Péricourt und Pradelle, und sie begegnen der Wut, der Furcht, der Erschöpfung. Es wird sie nie wieder loslassen
Wer gedacht hatte, der Krieg sei bald zu Ende, war lange schon gestorben. Und zwar im Krieg. So hörte auch Albert im Oktober mit einiger Skepsis von dem Gerücht, es würde einen Waffenstillstand geben. Er schenkte ihm kaum mehr Beachtung als der anfänglichen Propaganda, in der es hieß, die Kugeln der Boches seien so weich, dass sie wie faule Birnen an den Uniformen zerplatzten und die französischen Regimenter sich nicht mehr einkriegten vor Lachen. In vier Jahren hatte er viele von den Typen gesehen, die vor Lachen gestorben waren, nachdem sie eine deutsche Kugel erwischt hatte.
Albert wusste nur zu gut, dass seine Weigerung, an einen nahenden Waffenstillstand zu glauben, etwas Abergläubisches hatte: Je mehr er auf den Frieden hoffte, desto weniger glaubte er den Meldungen, die ihn ankündigten – so meinte er, das Schlimmste von sich fernzuhalten. Nur, dass diese Nachrichten jetzt von Tag zu Tag dichter aufeinander folgten und von überall her immer wieder zu hören war, der Krieg würde wirklich bald ein Ende haben. Man konnte sogar lesen, dass die ältesten Soldaten, die sich seit Jahren an der Front dahinschleppten, demobilisiert werden sollten. Als der Waffenstillstand dann in greifbare Nähe rückte, begannen selbst die größten Pessimisten zu hoffen, lebend aus der Sache herauszukommen. Und so war niemand mehr auf neue Offensiven aus. Zwar hieß es, die 163. Division wolle versuchen, gewaltsam auf die andere Seite der Maas zu gelangen. Einige seien sogar darauf aus, sich noch ein blutiges Gefecht mit dem Feind zu liefern. Aber im Großen und Ganzen war der einfache Soldat – wie Albert und seine Kameraden – seit dem Sieg der Alliierten in Flandern, der Befreiung Lilles, dem österreichischen Debakel und der Kapitulation der Türken weitaus weniger enthusiastisch als die Offiziere. Der Erfolg der italienischen Offensive, dann die Engländer in Tournai, die Amerikaner in Châtillon … Es sah so aus, als wäre es bald geschafft. Die meisten aus der Einheit begannen auf Zeit zu spielen, und schnell zeigte sich eine klare Trennlinie zwischen denen, die wie Albert das Ende des Krieges am liebsten einfach abgewartet hätten, auf ihrem Marschgepäck sitzend, rauchend und Briefe schreibend, und denen, die darauf brannten, alles aus den letzten Tagen herauszuholen und sich noch ein bisschen mit den Deutschen zu schlagen.
Diese Trennlinie entsprach genau jener Kluft, die sich zwischen den Offizieren und den Soldaten auftat. So ist es halt, sagte sich Albert. Die Oberen wollen immer mehr Land besetzen, um am Verhandlungstisch die Stärkeren zu sein. Sie reden dir ein, dass dreißig gewonnene Meter den Ausgang des Kriegs entscheidend beeinflussen können und dass heute zu sterben noch heldenhafter ist als am Tag zuvor.
Zu dieser Kategorie gehörte auch Leutnant d’Aulnay-Pradelle. Wenn man über ihn sprach, ließ man Vornamen, Adelsprädikat und Bindestrich einfach weg und sagte nur »Pradelle«, obwohl ihn das rasend machte. Aber man hatte nichts zu befürchten, es war eine Sache der Ehre, sich nichts anmerken zu lassen. Standestypisch eben. Albert mochte ihn nicht. Vielleicht, weil er gut aussah. Ein groß gewachsener Typ, schlank, elegant, mit vollem gewelltem dunkelbraunen Haar, einer geraden Nase, bewundernswert fein gezeichneten Lippen. Und Augen von einem durchdringenden Blau. Für Albert war er ein richtiger Kotzbrocken. Außerdem wirkte es so, als wäre er ständig wütend. Einer von der ungeduldigen Sorte, der sich nie mit normaler Geschwindigkeit bewegen konnte: beschleunigen oder bremsen – dazwischen gab es nichts. Wenn er lief, drückte er eine Schulter heraus, als wollte er Möbel rücken, und wenn er auf einen zukam, blieb er bei voller Geschwindigkeit plötzlich stehen. Das war normal bei ihm. Diese Mischung hatte etwas Seltsames: Mit seiner aristokratischen Art wirkte er schrecklich zivilisiert, zugleich schien er abgrundtief brutal. Ein bisschen so wie dieser Krieg. Vielleicht kam er deshalb so gut darin zurecht. Ganz seine Kragenweite eben, wie Rudern oder – wie sollte es anders sein – Tennis.
Was Albert auch nicht mochte, war seine Behaarung. Schwarze Haare wucherten überall, sogar auf den Fingern, am Hals quollen Büschel hervor, die bis zum Adamsapfel reichten. In Friedenszeiten wird er sich wohl mehrmals am Tag rasieren müssen, um nicht verdächtig auszusehen. Sicher gab es Frauen, auf die das wirkte, diese ganzen Haare, so animalisch, verwegen, maskulin, irgendwie südländisch. Nur nicht auf Cécile … Doch auch ganz abgesehen von Cécile konnte Albert ihn nicht riechen. Mehr als alles andere misstraute er ihm. Wegen seines militärischen Eifers. Zum Sturm ansetzen, angreifen, erobern – das war nach Pradelles Geschmack.
In letzter Zeit war er allerdings nicht mehr so kriegswütig wie sonst. Seit man vom Waffenstillstand sprach, schien seine Kampfmoral gänzlich abhandengekommen zu sein, als wäre sein patriotischer Eifer abgeschnürt worden. Die Vorstellung, der Krieg könne zu Ende gehen, war tödlich für Leutnant Pradelle.
Er wirkte ziemlich ungeduldig. Offenbar machte ihm die mangelnde Begeisterung der Truppe zu schaffen. Wenn er die Schützengräben durchmaß und das Wort an die Männer richtete, hatte er Mühe, den Enthusiasmus, für den er sonst bekannt war, in seine Worte zu legen. Beschwor er die Vernichtung des Feindes, dem ein letzter Streich den Gnadenstoß versetzen würde, bekam er kaum mehr als ein vages Brummen von den Männern, die ihre Zustimmung lieber durch ein zaghaftes Kopfnicken zeigten. Es war nicht die Angst zu sterben, es war die Vorstellung, jetzt zu sterben. Als Letzter zu sterben, sagte sich Albert, ist, wie als Erster zu sterben: vollkommen idiotisch.
Genau das aber wird geschehen.
Während man bis dahin in Erwartung des Waffenstillstands ziemlich ruhige Tage verbracht hatte, geriet auf einmal alles durcheinander. Zunächst erging der Befehl von oben, man müsse aus nächster Nähe beobachten, was die Boches trieben. Dabei brauchte man kein General zu sein, um zu wissen, dass sie das Gleiche taten wie die Franzosen – nämlich das Ende abwarten. Es half nichts, man musste gehorchen. Und von da an war niemand mehr in der Lage, die Verkettung der Ereignisse genau zu rekonstruieren.
Um seinen ehrgeizigen Plan in die Tat umzusetzen, suchte Leutnant Pradelle Louis Thérieux und Gaston Grisonnier heraus, einen Jungen und einen Alten – schwer zu sagen warum. Vielleicht als eine Art Gesamtpaket aus Vitalität und Erfahrung. Jedenfalls waren das wertlose Eigenschaften, beide überlebten ihre Ernennung nicht einmal eine halbe Stunde. Eigentlich sollten sie nicht weit vorstoßen. Nur eine Linie in nordöstlicher Richtung abgehen, nach zweihundert Metern ein paar Löcher in den Stacheldraht schneiden, bis zum zweiten Stacheldrahtverhau weiterkriechen, sich umsehen, zurückkommen und Mitteilung machen, dass alles in Ordnung war. Weil nichts passiert war. Die beiden Soldaten schienen im Übrigen kaum beunruhigt, sich so auf den Feind zuzubewegen. Nach Lage der Dinge in den letzten Tagen würden die Deutschen sie nicht davon abhalten, sich, als wäre es eine Art Zeitvertreib, ruhig umzuschauen und wieder zurückzuziehen. Wenn sie die beiden überhaupt bemerkten. Die Sache war nur die, dass die Späher in dem Moment, als sie tief geduckt vorzurücken begannen, abgeschossen wurden wie die Kaninchen. Erst ertönten die Schüsse, drei an der Zahl, dann folgte große Stille. Für den Feind war die Sache damit erledigt. Zwar versuchte man sofort, sie zu sichten, aber da die Soldaten vom nördlichen Frontabschnitt aus aufgebrochen waren, gelang es nicht, den Ort auszumachen, an dem sie gefallen waren.
Eins kommt zum andern
Um Albert herum hielten alle den Atem an. Es waren Schreie zu hören. Schweine. Immer dasselbe mit den Boches, elendes Pack! Barbaren und so weiter. Noch dazu einen Jungen und einen Alten! Es musste so kommen, alle dachten dasselbe: Zwei französische Soldaten zu töten, war den Deutschen nicht genug gewesen, sie mussten zwei Symbolfiguren herausgreifen. Es herrschte helle Aufregung.
In den darauffolgenden Minuten feuerten die Artilleristen so rasch und heftig, wie man es ihnen kaum zugetraut hätte, aus dem Hinterland Fünfundsiebzig-mm-Geschosse auf die deutschen Stellungen ab. Dabei fragten sie sich, wer die Feinde gewarnt haben mochte.
Dann kam eins zum andern.
Die Deutschen erwiderten das Feuer. Auf französischer Seite war man sich schnell einig. Man würde es ihnen heimzahlen, diesen Idioten, die den Totensonntag entehrt hatten. Es war der 2. November 1918. Noch wusste niemand, dass der Krieg kaum zehn Tage später zu Ende sein würde.
Und da stehen wir wieder in voller Montur, dachte Albert, bereit, aufs Schafott zu steigen (so nannten sie die Leitern, auf denen man aus den Schützengräben herauskletterte, eine Frage der Perspektive eben) und mit dem Kopf voran auf die feindlichen Stellungen loszugehen. Den jungen Männern, die in straffer Haltung hintereinander warteten, war mulmig zumute. Albert war an dritter Stelle, hinter Berry und dem jungen Péricourt, der sich umdrehte, als wollte er sich vergewissern, dass auch alle da waren. Ihre Blicke trafen sich. Péricourt grinste ihm zu, es war das Grinsen eines Kindes, das einen Streich im Kopf hat. Albert versuchte zurückzulächeln, doch es gelang ihm nicht. Péricourt nahm wieder Haltung ein. Sie warteten auf den Befehl zum Angriff, die Spannung war mit Händen zu greifen. Aufgebracht durch das Verhalten der Deutschen, konzentrierten sich die Franzosen jetzt auf ihre Wut. Über ihren Köpfen durchfurchten Granaten den Himmel in beide Richtungen und erschütterten die Erde, dass man es bis in die Eingeweide spürte.
Albert blickte über Berrys Schulter hinweg. Leutnant Pradelle, der auf einen kleinen Vorposten gestiegen war, suchte die feindlichen Stellungen mit dem Fernglas ab. Albert reihte sich wieder ein. Wäre es nicht so laut gewesen, hätte er darüber nachdenken können, was ihn beunruhigte, aber da waren immer wieder die schrillen Pfeifgeräusche und die Explosionen, die einen von Kopf bis Fuß erbeben ließen. Unter solchen Bedingungen soll sich mal einer konzentrieren.
Nicht von der schnellen Sorte
Die Jungs warten gerade auf den Befehl zum Angriff. Eine gute Gelegenheit, um Albert ein wenig unter die Lupe zu nehmen.
Albert Maillard. Ein schmaler Junge, leicht phlegmatisch, zurückhaltend. Er sprach wenig und konnte gut mit Zahlen umgehen. Vor dem Krieg war er Kassierer in einer Filiale der Pariser Union Bank gewesen. Er mochte die Arbeit nicht besonders, allein seiner Mutter wegen war er dort geblieben. Madame Maillard hatte nur diesen einen Sohn, und sie vergötterte führende Persönlichkeiten. Da lag es nahe, dass sie sich Albert als Chef einer Bank vorstellte. Es wäre die Erfüllung ihrer Träume gewesen. Und intelligent, wie er war, so ihre Überzeugung, würde Albert bald die höchsten Gipfel erklimmen. Diese übersteigerte Autoritätsgläubigkeit hatte sie von ihrem Vater, der Sachbearbeiter des stellvertretenden Bürochefs im Postministerium gewesen war und die Hierarchie in seinem Amt als Inbegriff der Weltordnung betrachtete. Madame Maillard liebte ausnahmslos alle Vorgesetzten, ganz unabhängig von Fähigkeiten oder Herkunft. Seit ihr Mann, der eine Mannschaft von uniformierten Aufsehern im Louvre geleitet hatte, nicht mehr da war, lösten große Männer unerhörte Gefühle in ihr aus. Und auch wenn Albert nicht für die Bank brannte, hatte er seine Mutter einfach reden lassen, mit ihr lief es immerhin noch am besten. Trotzdem hatte er angefangen, eigene Pläne zu schmieden. Er wollte weg, spielte mit dem Gedanken, nach Tonkin zu gehen, eine sehr vage Idee freilich. In jedem Fall wollte er seine Stellung als Buchhalter aufgeben, etwas anderes machen. Aber Albert war keiner von der schnellen Sorte, er brauchte für alles seine Zeit. Nur mit Cécile war es schnell gegangen, sofort die große Leidenschaft, Céciles Augen, Céciles Mund, Céciles Lächeln, später dann Céciles Brüste, Céciles Hintern, wie soll man da an etwas anderes denken.
Nach heutigen Maßstäben wirkt Albert Maillard nicht eben groß, ein Meter dreiundsiebzig, für seine Zeit aber war das ganz ordentlich. Die Mädchen schauten ihm nach in jenen Tagen. Vor allem Cécile. Albert hatte Cécile oft angesehen und auf einmal, weil er sie immer so anstarrte, eigentlich die ganze Zeit, bemerkte sie ihn und schaute zurück. Sein Gesicht hatte etwas Rührendes. Eine Kugel hatte ihn an der rechten Schläfe gestreift, bei der Schlacht an der Somme. Er hatte große Angst gehabt damals, war aber mit einer klammerförmigen Narbe davongekommen, die sein Auge leicht zur Seite zog. Das fiel auf. Bei seinem Fronturlaub hatte Cécile die Narbe verträumt und wie verzaubert mit der Spitze ihres Zeigefingers berührt, was Albert missfiel. Kurzum, Albert hatte ein kleines blasses Gesicht, rundlich, mit schweren Augenlidern, die ihn wie einen traurigen Pierrot aussehen ließen. Madame Maillard versagte sich das Essen, um Albert mit rotem Fleisch füttern zu können, denn ihrer Meinung nach war er so blass, weil er zu wenig Blut hatte. Albert bemühte sich vergeblich, ihr immer wieder zu erklären, dass das eine nichts mit dem anderen zu tun habe. Aber seine Mutter war niemand, der einfach so seine Meinung änderte, immer fand sie Gegenbeispiele, neue Argumente. Es graute ihr davor, im Unrecht zu sein. In ihren Briefen kam sie auf Dinge zu sprechen, die Jahre zurücklagen, es war wirklich anstrengend. Man fragt sich, ob das vielleicht der Grund war, weshalb sich Albert gleich am Anfang freiwillig zur Front gemeldet hatte. Als Madame Maillard davon erfuhr, stieß sie nur spitze Schreie aus, doch sie war eine dermaßen überschwängliche Frau, dass man unmöglich unterscheiden konnte, was von echtem Schrecken herrührte und was bloß Theater war. Sie hatte also geschrien, sich die Haare gerauft und sich dann ebenso schnell wieder beruhigt. Ihre Vorstellung vom Krieg war ganz klassisch, daher ging sie davon aus, dass sich Albert – intelligent, wie er war – bald hervortun und einen höheren Dienstgrad erlangen würde, sie malte sich aus, wie er in vorderster Front zum Sturm ansetzte. Er würde eine Heldentat vollbringen und alsbald zum Offizier, Hauptmann, Major oder sogar General aufsteigen. So ist es doch im Krieg. Albert hatte sie reden lassen und währenddessen seine Sachen gepackt.
Mit Cécile war es anders. Der Krieg schreckte sie nicht. Zuallererst war er eine „Vaterlandspflicht“ (Albert war überrascht, er hatte sie noch nie solche Worte sagen hören), und daher gab es nicht wirklich einen Grund, Angst zu haben, es war eher eine Formalität. Alle sagten das.
Albert für seinen Teil hatte da seine Zweifel, aber Cécile war zumindest in diesem Punkt ein wenig wie Madame Maillard, sie hatte sehr klare Vorstellungen. Wenn man sie so reden hörte, konnte es nicht lange dauern mit dem Krieg. Albert war drauf und dran, ihr zu glauben; denn was auch immer Cécile zu Albert sagte, mit diesen Händen, mit diesem Mund – er nahm es ihr ab. Das versteht man nicht, wenn man sie nicht kennt, dachte Albert. Für uns wäre diese Cécile ein hübsches Mädchen, weiter nichts. Doch für ihn war sie etwas ganz anderes. Jede Pore von Céciles Haut bestand aus einer ganz besonderen Substanz, ihr Atem verströmte den süßesten Duft. Sie hatte blaue Augen, gut, das heißt noch nichts, für Albert jedoch waren diese Augen ein Schlund, ein Abgrund. Also gut, betrachten wir einmal diesen Mund und versetzen uns einen Augenblick lang in Albert hinein. Von diesem Mund hatte er so leidenschaftliche und zärtliche Küsse empfangen, dass er sie im ganzen Körper spürte. Er hatte ihren Speichel in sich hineinfließen lassen, ihn mit einer solchen Begierde aufgesaugt, voller Hingabe … Kurzum: Cécile war nicht einfach nur Cécile. Sie war … Na ja, und dann konnte sie auf einmal behaupten, mit dem Krieg, das sei schnell gegessen, Albert hatte so davon geträumt, Cécile würde ihn genauso entschlossen vernaschen.
Heute sieht er das natürlich alles ganz anders. Er weiß, dass der Krieg ein gigantisches Lotteriespiel ist, nur mit echten Kugeln eben, in dem vier Jahre zu überleben eigentlich einem Wunder gleichkam.
Kurz vor Schluss lebendig begraben zu werden, wäre ungeheuerlich.
Doch genau das wird passieren.
Lebendig begraben, der kleine Albert.
Das war eben Pech, würde seine Mutter sagen.
Leutnant Pradelle dreht sich zu seiner Truppe um, sein Blick heftet sich auf die vordersten Männer, die ihn von rechts und von links her anstarren, als wäre er der Messias. Er nickt mit dem Kopf und holt Luft.
Einige Minuten später bewegt sich Albert, leicht gebeugt, die Waffe fest an sich gepresst, durch eine Endzeitszenerie, über ihm das Kreischen von Kugeln und Granaten. Sein Schritt ist schwer, der Kopf zwischen den Schultern vergraben. Der Boden unter den Stiefeln ist matschig, es hat viel geregnet in den letzten Tagen. Die Typen neben ihm schreien wie verrückt, um sich zu berauschen, sich gegenseitig zu ermutigen. Andere hingegen, solche wie er, rücken konzentriert vor, mit zugeschnürtem Magen und trockener Kehle. Alle stürzen sich auf den Feind, mit kalter Wut und Rachedurst. Eigentlich ist es eine perverse Antwort auf die Meldung vom baldigen Waffenstillstand. Doch nach all dem Leid jetzt zusehen zu müssen, wie der Krieg einfach so zu Ende geht, mit den toten Kameraden und den vielen Feinden, die noch leben, macht einem schon Lust auf ein Massaker, um es ein für alle Mal zu Ende zu bringen. Jeden würde man niedermetzeln.
Selbst Albert, dessen treuester Begleiter die Todesangst ist, würde den Nächstbesten abschlachten. Zunächst erwarten ihn aber noch ein paar Hindernisse. Beim Rennen muss er nach rechts ausweichen. Am Anfang folgt er der vom Leutnant vorgegebenen Linie, doch zwischen all den pfeifenden Kugeln und Granaten bewegt man sich zwangsläufig im Zickzack. Zumal Péricourt, der sich genau vor ihm befindet, soeben von einer Kugel erwischt wird und ihm vor die Beine stürzt, sodass Albert gerade noch über ihn hinwegspringen kann. Er verliert das Gleichgewicht, stolpert einige Meter weiter und fällt dann auf den Körper des alten Grisonnier, dessen überraschender Tod den Startschuss für dieses letzte Blutbad abgegeben hatte.
Trotz all der Kugeln, die um ihn herumschwirren, wird Albert stutzig, als er ihn so liegen sieht. Er erkennt ihn am Mantel wieder, den er immer samt diesem roten Ding am Knopfloch trug – „meine Ehrenlegion“, hatte er gesagt. Grisonnier war kein Feingeist. Ein wenig unsensibel, aber in Ordnung, jeder mochte ihn. Er ist es, kein Zweifel. Sein großer Kopf scheint im Schlamm eingebettet zu sein, der Rest des Körpers ist irgendwie völlig verdreht. Genau neben ihm sieht Albert den Jüngeren liegen, Louis Thérieux. Auch er ist zum Teil mit Matsch bedeckt, zusammengekrümmt wie ein Fötus. Das berührt einen, wenn einer in dem Alter stirbt, noch dazu, wenn er nachher so daliegt.
Auf der falschen Seite
Albert weiß nicht, was es ist, vielleicht eine Art Intuition, er packt den Alten bei der Schulter und wuchtet ihn herum. Der Tote taumelt schwer und fällt auf den Bauch. Albert braucht ein paar Sekunden, um zu begreifen. Dann fällt es ihm wie Schuppen von den Augen: Wenn man gegen den Feind vorrückt, stirbt man nicht durch zwei Kugeln in den Rücken.
Er steigt über den Leichnam und geht ein paar Schritte weiter, noch immer mit gesenktem Kopf. Warum eigentlich, die Kugeln treffen einen in gerader Haltung genauso wie in gebeugter, dennoch versucht man reflexartig, die geringste Angriffsfläche zu bieten, so als hätte man im Krieg nur Angst vor dem Himmel. Und schon hockt er vor dem Körper des jungen Louis. Die geballten Fäuste liegen nah beim Mund. Es ist verrückt, wie jung er aussieht, zweiundzwanzig war er vielleicht. Albert kann sein Gesicht kaum erkennen, so verdreckt ist es. Er sieht nur seinen Rücken. Eine Kugel. Mit den beiden Kugeln des Alten macht das drei. Das haut hin.
Als Albert wieder aufsteht, ist er ganz benommen von seiner Entdeckung. Davon, was sie bedeutet. Wenige Tage vor dem Waffenstillstand waren die Jungs nicht mehr sonderlich heiß darauf, die Deutschen zu ärgern, der einzige Weg, sie zum Angriff zu bewegen, war sie aufzuhetzen: Wo war Pradelle, als die beiden von hinten erschossen wurden?
Zum Henker.
Entsetzt von dieser Feststellung, dreht sich Albert um und erblickt Leutnant Pradelle, der aus ein paar Metern Entfernung auf ihn losstürzt, so schnell, wie es eben geht in der ganzen Montur.
Seine Bewegungen sind gezielt, der Kopf starr geradeaus gerichtet. Vor allem bemerkt Albert seinen nüchternen und direkten Blick. Wild entschlossen. Alles wird auf einmal klar, die ganze Geschichte.
In diesem Moment begreift Albert auch, dass er sterben wird. Er versucht, ein paar Schritte zu machen, doch er ist wie gelähmt, weder sein Kopf noch seine Beine gehorchen, gar nichts. Dann geht alles sehr schnell. Drei Ausfallschritte, und Pradelle ist bei ihm. Direkt daneben klafft ein breites Loch, ein Granattrichter. Die Schulter des Leutnants trifft Albert mitten in die Brust, ihm bleibt die Luft weg. Er verliert den Halt, will sich wieder ins Gleichgewicht bringen und fällt mit fuchtelnden Armen nach hinten, in das Loch hinein.
Je tiefer er im Schlamm versinkt, desto weiter entfernt sich Pradelles Gesicht, wie in Zeitlupe, dieser Blick, mit all der Herausforderung, all der Gewissheit und Provokation darin.
Am Grund des Trichters angekommen, rollt Albert um die eigene Achse, nur wenig abgebremst durch sein Gepäck. Die Beine verheddern sich mit dem Gewehr. Er schafft es, sich herauszuwinden, und krallt sich an die steile Wand, so wie man sich schnell an eine Tür drückt, wenn man Angst hat, gehört oder entdeckt zu werden. Auf den Fersen stehend (der lehmige Boden ist glatt wie Seife), versucht er wieder zu Atem zu kommen. Seine Gedanken, noch ganz ungeordnet und bruchstückhaft, kehren immer wieder zum eisigen Blick von Leutnant Pradelle zurück. Auf dem Schlachtfeld über ihm scheint es inzwischen noch viel wilder zuzugehen, der Himmel ist von Lichterketten durchzogen. Blaue und orangerote Blitze durchzucken das milchige Gewölbe. Dicht nacheinander fallen mit entsetzlichem Getöse Granaten herab, ein Gewitter aus Pfeifgeräuschen und Explosionen, wie damals in der Schlacht bei Gravelotte. Albert hebt den Blick. Dort oben, breitbeinig am Rand des Lochs stehend wie der Todesengel in Person, zeichnet sich die aufragende Silhouette des Leutnants ab.
Albert hat das Gefühl, sehr tief gefallen zu sein. Tatsächlich sind es etwa zwei Meter, die sie voneinander trennen. Wenn überhaupt. Dieser Abstand jedoch drückt die ganze Ungleichheit der Situation aus. Leutnant Pradelle steht da, mit gespreizten Beinen, die Hände fest am Gürtel. Hinter ihm das unaufhörliche Geflacker der Kampfhandlungen. Seelenruhig blickt er auf den Grund des Lochs. Unbeweglich. Er starrt Albert an, mit einem kaum merklichen Grinsen auf den Lippen. Er wird keinen Finger rühren, um ihm da rauszuhelfen. Albert kann kaum atmen, das Herz schlägt ihm bis zum Hals, er greift zum Gewehr, rutscht aus, schafft es gerade noch so, sich aufzurichten, legt an, aber als die Waffe endlich zum Grabenrand zeigt, ist da niemand mehr. Pradelle hat sich davongemacht.
Wie eine gewaltige Müdigkeit
Albert ist allein. Er lässt sein Gewehr sinken und versucht, Luft zu holen. Er sollte nicht länger warten, vielmehr sofort die Wand des Granattrichters hinaufklettern, Pradelle hinterherlaufen, ihm in den Rücken schießen, an die Kehle springen. Oder zu den anderen eilen, mit ihnen reden, schreien, etwas tun, er weiß nicht genau, was. Aber er ist müde. Unendlich erschöpft. Das ist alles so lächerlich. Als wäre er auf seinen Platz verwiesen worden. Er will wieder hinaufsteigen, doch es geht nicht. Da ist er zwei Fingerbreit vom Ende dieses Krieges entfernt, und nun steckt er auf dem Grund eines Lochs fest. Albert sackt tief in sich zusammen und stützt den Kopf in seine Hände. Er versucht, die Situation genau zu erfassen, und auf einmal verlässt ihn der Mut, schmilzt dahin wie ein Eis. Ein Zitroneneis, wie Cécile es mag, sodass sie mit den Zähnen knirscht und das Gesicht verzieht wie ein kleines Kätzchen und Albert sie an sich drücken möchte. Apropos Cécile, ihr letzter Brief, von wann war der? Auch das hat ihn Kraft gekostet. Er hat mit niemandem darüber geredet: Céciles Briefe wurden immer kürzer. Jetzt, da der Krieg bald zu Ende ist, schreibt sie ihm, als wäre alles aus, als lohnte es nicht mehr, ausführlich zu sein. Bei denen, die Familie haben, ist es anders, die bekommen immer Briefe, er hingegen, wo er doch nur Cécile hat …w klar, da ist noch seine Mutter, doch die strengt ihn nur an. Ihre Briefe sind wie das Reden mit ihr, als ob sie alles für ihn entscheiden wolle. All das hat Albert zermürbt, aufgezehrt, abgesehen von den vielen Kameraden, die jetzt tot sind und an die er nicht zu oft denken möchte.
Es hat sie schon vorher gegeben, Momente der Mutlosigkeit, jetzt ist allerdings der schlechteste Zeitpunkt. Ausgerechnet in dem Moment, da er seine ganze Kraft bräuchte. Er hätte nicht sagen können, warum, aber etwas in ihm hat sofort nachgegeben. Er fühlt es tief in sich. Es ist wie eine gewaltige Müdigkeit, mühlsteinschwer. Eine hartnäckige Weigerung, unendlich passiv und bewegungslos. Wie das Ende von etwas. Als er sich freiwillig an die Front gemeldet hat und sich vorstellte, wie es sein würde im Krieg, da dachte er insgeheim wie viele andere auch, in schwierigen Momenten würde es genügen, sich einfach tot zu stellen. Er würde in sich zusammensinken oder sogar, wenn’s hart auf hart kam, einen selbstverständlich äußerst glaubwürdigen Schrei ausstoßen, so als hätte ihn eine Kugel mitten ins Herz getroffen. Dann bräuchte er nur liegen zu bleiben und abzuwarten, bis sich die Lage beruhigt hätte. Sobald die Nacht hereingebrochen wäre, würde er zu irgendeinem Kameraden kriechen, einem, der wirklich tot war, und dessen Papiere an sich nehmen. Danach würde er stundenlang weiterrobben und nur dann eine Pause machen und den Atem anhalten, wenn in der Dunkelheit Stimmen zu hören waren. Ganz vorsichtig würde er weiter vorrücken, bis er endlich auf eine Straße stieße, die ihn nach Norden (oder nach Süden, je nachdem) führte. Auf dem Weg würde er sich alle Einzelheiten seiner neuen Identität vorsagen und auswendig lernen. Dann würde er auf eine verlorene Einheit treffen, deren Hauptgefreiter, ein großer Kerl mit … Für einen Bankangestellten hatte Albert jedenfalls ziemlich romantische Vorstellungen. Zweifellos hatten die Phantastereien von Madame Maillard ihre Wirkung getan. Zu Kriegsbeginn dachten übrigens viele ähnlich sentimental. Albert sah Truppen vor sich, mit schönen rot-blauen Uniformen, wie sie in Reih und Glied gegen eine feindliche Armee vorrückten, die von Angst gepackt wurde. Die Soldaten würden ihre blitzenden Bajonette gegen die Feinde richten, während die vereinzelten Rauchwolken der Granaten die vernichtende Niederlage des Feindes besiegelten.
Im Grunde hatte sich Albert für einen Krieg à la Stendhal gemeldet, was er dann aber vorfand, war ein barbarisches Gemetzel, bei dem jeden Tag tausend Menschen getötet wurden, und das fünfzig Monate lang. Wollte man sich ein Bild davon machen, brauchte man sich nur kurz aufzurichten und den Ort rund um dieses Loch hier anzuschauen: Nichts wuchs mehr auf diesem Boden, der durchsiebt war von Granateinschlägen und übersät mit verwesenden Körpern, deren bestialischer Gestank einem den ganzen Tag in der Nase hing. Bei der ersten Gefechtspause hasteten kaninchengroße Ratten wie wild von einer Leiche zur anderen, um den Fliegen die Reste dessen streitig zu machen, was die Würmer schon angefressen hatten. All das wusste Albert, schließlich war er Sanitäter im Departement Aisne gewesen. Wenn er keine stöhnenden oder schreienden Verwundeten mehr entdeckt hatte, musste er all die Körperteile aufsammeln, die sich in jedem nur denkbaren Verwesungsgrad befanden. Er kannte sich aus damit. Was für eine undankbare Aufgabe für Albert, der immer so ängstlich gewesen ist.
Dieser Beitrag ist eine Zusammenarbeit mit dem Klett-Cotta Verlag
Wir sehen uns dort oben Pierre Lemaitre, Antje Peter (Übers.), Klett-Cotta 2014, 521 S., 22,95 €, auch als E-Book
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