Schlag nach bei Keynes

Pessimistisch Die ökonomische Langzeitanalyse des Aachener Ökonomen Karl Georg Zinn

Seit Mitte der Siebziger bestimmen enttäuschende Wachstumsraten und Massenarbeitslosigkeit die Wirtschaftsentwicklung zwischen Yokohama, Chicago und Mailand - trotz hinreißender Boomphasen an einzelnen Standorten. Die seit Anfang der Achtziger vorherrschende Strategie der "tiefen Einschnitte", der "Lohnzurückhaltung" und Deregulierung hat die Probleme nicht gelöst.

Das neue Buch des nonkonformistischen Aachener Ökonomen Zinn - für ein breites, politisch interessiertes Publikum geschrieben - versucht eine Prognose für die nächsten ungefähr zehn Jahre. Zinn bezieht sich häufig auf zwei - seiner Meinung nach zu Unrecht - halbvergessene Theoretiker aus dem 20. Jahrhundert, John Maynard Keynes und Jean Fourastié.

Der liberale britische Ökonom Keynes hatte vor mehr als einem halben Jahrhundert vor einem Abgleiten des Kapitalismus in eine Stagnation "auf hohem Niveau" gewarnt. Diesen Megatrend hatte er mit möglichen strukturellen Veränderungen erklärt, die Zinn zufolge längst eingetreten sind: Mit zunehmendem Wohlstand überwältige die Besserverdienenden allmählich eine folgenschwere "Konsummüdigkeit". Daher verbrauchten sie immer eindrucksvollere Summen nicht für Bungalows, Limousinen oder Flugreisen auf die Seychellen, sondern für die Spekulation mit DaimlerChrysler-Aktien, Aluminiumlieferungen oder Hongkong-Dollar.

Durch staatliche Investitionen etwa für Kliniken und Universitäten oder durch höhere Gehälter für Chemiearbeiter und Erzieherinnen könne - wie noch in den sechziger und frühen siebziger Jahren - die Nachfragelücke geschlossen werden. Komme kein solcher Ausgleich mehr zustande, orientierten die Unternehmen sich weniger auf die Erweiterung der Produktion als auf Rationalisierung und Fusionen. Schließlich entstehe eine Abwärtsspirale - mit depressiven Märkten, Konkursen, Entlassungen.

Nicht zu den Ursachen der Krise rechnet der Autor die beschleunigte Globalisierung, da sie sich ganz überwiegend zwischen den Nationen des Nordens abspiele. Tatsächlich werden die Jobverluste durch Importe von Textilien oder Rohstahl aus den Niedriglohnzonen des Südens und Ostens zu einem großen Teil - wahrscheinlich sogar vollständig - durch Exporte von Taktstraßen, Flugzeugen oder Controlling-Software dorthin aufgewogen.

Die nächsten Jahre sieht Zinn ziemlich pessimistisch. Am wahrscheinlichsten scheint ihm - angesichts fehlender wirtschaftlicher und politischer Gegenströmungen - eine Fortdauer von Stagnation und Massenarbeitslosigkeit. Mit zwiespältigen Gefühlen beobachtet der Professor an der Technischen Hochschule Aachen den Umbruch zur Dienstleistungsgesellschaft. Wie schon vor einem halben Jahrhundert der französische Wissenschaftler Jean Fourastié hält er einen teilweisen Ersatz für die Arbeitsplätze in den bankrotten Fabriken durch die Eröffnung von Fitness-Studios, Musicalbühnen oder Consulting-Firmen für möglich.

Allerdings gebe es in der Welt der Dienstleistungen weitläufigere Rationalisierungsspielräume, als man lange angenommen habe. Der kompromisslose staatliche Sparkurs - den Zinn für grundfalsch hält - verhindere notwendige Angebote und mehr Stellen in Bereichen wie Bildung, Gesundheit oder Integration von Migranten, Alten und Behinderten. Keine wünschenswerte - und auch keine notwendige - Alternative sei die Ausbreitung einer "Handlanger-Ökonomie" wie in den USA mit unsicheren, schlecht bezahlten und selbst illegalen Jobs für Trucker, Kellnerinnen oder Kindermädchen.

Die - kaum noch zu unterscheidende - konservative und sozialdemokratische Wirtschaftspolitik in den Industrieländern verschlimmert, so das Buch, die chronische Krise. Steuerentlastungen für die Einkommenseliten und verringerte öffentliche Ausgaben schwächten die Nachfrage ebenso wie sinkende Reallöhne. Mit Blick auf Aufstieg und Fall der New Economy glaubt Zinn nicht an einen Ausweg durch sensationelle Innovationen. Die fieberhafte Suche nach Standortvorteilen gegenüber den Konkurrenten auf dem Weltmarkt sei ein Nullsummenspiel.

Als zusätzliche Risikofaktoren erwähnt er: - eine - bisher nur mit Glück vermiedene - massive Destabilisierung des internationalen Finanzsystems mit verhängnisvollen Auswirkungen auf die "produzierenden" Branchen sowie die unkalkulierbare Rolle der USA als Motor der Weltwirtschaft; das Buch verweist vor allem auf die historisch beispiellose Auslandsverschuldung der Supermacht, die sich nicht beliebig ausweiten lasse.

Als gefährlichsten Aspekt der Globalisierung sieht der Autor die wachsende politische Macht der transnationalen Konzerne - sie folge nicht allein aus den aufsehenerregenden Unternehmenszusammenschlüssen, sondern auch aus dem zuvorkommenden Zurückweichen der Staaten vor den Interessen der "Investoren". So werde ein Gegensteuern immer schwieriger.

Zinn hält einen Ausweg aus der chronischen Stagnation dennoch für möglich, entlang der Richtungspfeile der von Keynes während der Großen Depression nach 1929 entworfenen und bis in die Ära Kennedy/ Brandt überaus erfolgreichen Vollbeschäftigungsstrategie. Dieser Kurs bedeutet allerdings eine vorsichtige Umverteilung von oben nach unten und mehr öffentliche Vorgaben für Produktionspläne und Geldströme. Eine solche Alternative - wichtig wären außerdem massive Arbeitszeitverkürzungen - unterstützen nur noch ziemlich einflusslose Minderheiten innerhalb der Linken und der Gewerkschaften.

Karl Georg Zinn: Zukunftswissen. Die nächsten zehn Jahre im Blick der Politischen Ökonomie. VSA, Hamburg 2002, 143 S., 12,80 EUR


Für Sie oder Ihren Hasen

6 Monate den Freitag mit Oster-Rabatt schenken und Wunschprämie aussuchen

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden